Gespenster

[739] Gespenster (Spectra), ohne Körperlichkeit, als bloße Schemen oder Schattenbilder sichtbar werdende Spukgestalten des Volksaberglaubens. Das Wort stammt von dem althochdeutschen gispanst, d. h. Verlockung, Trugbild, weshalb auch Hamlet seines Vaters Erscheinung prüft, ob es nicht ein teuflisches Trugbild sei. Auf allgemeine psychische Vorgänge, wie die phantastischen Erscheinungen des Traumes, von Gemütsstimmungen (Furcht, Angst) begünstigte subjektive Gesichtstäuschungen, endlich auf krankhafte Gehirnzustände (Visionen und Halluzinationen) zurückführbar, ist der Glaube an G. bei allen Nationen verbreitet und zog seine Nahrung jederzeit aus den[739] herrschenden religiösen Vorstellungen von dem Zustande der Seelen nach dem Tode. Neben dem Unsterblichkeitsglauben für sich kamen ihm überall gewisse Dogmen entgegen, so der im klassischen Altertum wie bei den Juden verbreitete Glaube, daß die Seele Ermordeter ruhelos umherschweifen müsse, bis der Verbrecher bestraft sei, und der Tote ein »ehrliches« Begräbnis erhalten habe. In zahllosen der Wirklichkeit abgelauschten Dichtungen aller Völker und Zeiten spielen diese scheinbar gegenständlich gewordenen Schöpfungen des bösen Gewissens ihre Rolle. Wenn das Christentum die G. auch nicht in dem Umfang anerkannte wie das klassische Altertum, das besondere Gespensterfeste (die Tage der Laren und Lemuren) feierte, so fanden sie doch einen starken Hinterhalt in der Fegfeuerlehre, und wie zahlreiche altgriechische Philosophen, so traten später die Kirchenväter für die Realität der Gespenstererscheinungen ein. Solange ihre irdische Schuld nicht gesühnt ist, sollte die Seele zurückkehren dürfen, um ihre Angehörigen zu mahnen, daß sie durch Seelenmessen und gute Werke zu ihrer Erlösung beitragen möchten; sie ist an das Haus oder den Ort ihrer Missetaten gebannt, »spukt« daselbst oder »geht um« und plagt die Bewohner. Diese Vorstellungen leiten dann zu den Erzählungen von Haus- und Poltergeistern, von Burg- und Klostergespenstern, von den Irrlichtern, die als Seelen ungetaufter Kinder betrachtet werden, und den Feuermännern, nach der Volkssage ungetreue Feldmesser etc., über. Eine Menge andrer Nachtgestalten, wie der Alp und Vampir, die ebenfalls in traumhaften Zuständen ihre Veranlassung finden, schließen sich an. In der neuern Anschauung ist den Wiederkehrenden (franz. revenants) nur noch die Zeit von 12–1 Uhr Mitternacht als Sprechstunde angewiesen, obwohl die Sonntagskinder und Geisterseher auch außer dieser Zeit G. sehen. In der Poesie und leider auch in der Volks- und Erziehungsliteratur einen letzten Rückhalt findend, ist der Gespensterglaube in neuerer Zeit sehr in den Hintergrund getreten, obwohl das Treiben der Spiritisten (s. Spiritismus) ihm wieder neue Nahrung zuführte. Über den Gespensterglauben des Altertums vgl. Scharbe, De geniis, manibus et laribus (Kasan u. Leipz. 1854); über die ethnologische Seite Tylor, Anfänge der Kultur (a. d. Engl., Leipz. 1873, 2 Bde.); über die physiologischen und psychologischen Ursachen Hibbert, Andeutungen zur Philosophie der Geistererscheinungen (Weim. 1825), und Carns Sterne (Ernst Krause), Naturgeschichte der G. (das. 1863); Diederich, Von Gespenstergeschichten, ihrer Technik und ihrer Literatur (Leipz. 1903). Vgl. Geisterseherei.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 739-740.
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