Heldensage

[133] Heldensage, der Inbegriff der Sagen aus der Heldenzeit eines Volkes, besonders insofern sie den Inhalt einer nationalen epischen Poesie bilden (s. Sage). Der Ursprung der H. ist hauptsächlich auf die besondere Umbildung und Ausgestaltung von Überlieferungen der nationalen Geschichte zurückzuführen, wie sie sich bei dichterischer Behandlung und mündlicher Fortpflanzung in einem Zeitalter einstellt, dem der Kriegsadel als die Blüte der Menschheit gilt. Dabei werden oft weit auseinander liegende Ereignisse auf eine einzelne hervorragende Persönlichkeit konzentriert, die Taten einer solchen werden gesteigert, phantasievoll ausgeschmückt, mit irgendwie verwandten Leistungen und Erlebnissen andrer vermischt. So erwuchs aus den Kämpfen um Troja die Homerische, aus den Kriegen der Völkerwanderung die germanische, aus der Geschichte fränkischer Könige und Vasallen die altfranzösische H. Doch kann auch die poetische Gestaltung allgemein menschlicher, ethischer Motive oder auch mythischer Vorstellungen zur Bildung von Heldensagen führen. So ist dem Problem eines Konflikts zwischen Blutsverwandtschaft und Waffenehre, das für ein kriegerisches Zeitalter auch ohne ein bestimmtes historisches Ereignis gegeben war, bei verschiedenen indogermanischen Stämmen die Sage vom Kampf eines Vaters mit dem Sohn entsprossen, die uns in dem deutschen Hildebrandslied vorliegt; so gestaltet anderseits die mythenbildende Phantasie Vorgänge aus dem Leben der Natur beispielsweise zum Kampf eines Helden mit Riesen und Drachen, oder zur Erlösung einer in Todesschlaf versenkten Jungfrau durch den Heros, wie in der germanischen Siegfriedsage. Derartige Motive verbinden sich dann leicht und häufig mit solchen historischen Ursprungs, doch darf man deshalb die Vereinigung mythischer und geschichtlicher Bestandteile nicht als notwendiges Merkmal der H. schlechthin bezeichnen. Von dieser unbegründeten Voraussetzung aus hat man früher vielfach mythologische Beziehungen in Sagen aufzuweisen gesucht, für deren Erklärung allgemein menschliche poetische Motive und die traditionelle dichterische Umbildung historischer Elemente vollkommen ausreichen.

Die Entwickelung der H. vollzieht sich am ungestörtesten in der Zeit, wo sie auch in ihren poetischen Fassungen auf mündliche Überlieferung beschränkt ist, da diese den unbewußten Assoziationen, durch die im wesentlichen das Wachstum der Sage erfolgt, den freiesten Spielraum läßt. Mit der schriftlichen Auszeichnung und planmäßigen dichterischen Zusammenfassung und Ausführung, wie sie uns in den großen griechischen, indischen, altfranzösischen und mittelhochdeutschen Nationalepen vorliegt, pflegt der Bildungsprozeß seinen Abschluß zu erreichen. Die der Völkerwanderungszeit entstammende deutsche H. ist früh, jedenfalls vor dem 8. Jahrh., nach dem Norden gewandert und hat dann dort, zumal in den Eddaliedern, ihren Niederschlag gefunden, die jedoch erst im 13. Jahrh. ausgezeichnet worden sind. Auch in Deutschland blieben die zahlreichen Heldenlieder die ganze althochdeutsche Periode hindurch mündlicher Überlieferung anheimgegeben; es ist ein Zufall, wenn einmal um 800 das Lied von Hildebrand und Hadubrant teilweise niedergeschrieben wurde. Sonst erfahren wir nur durch verstreute Zeugnisse vom Fortleben dieser alten Traditionen. Erst um die Wende des 12. u. 13. Jahrh. treten sie mit dem »Nibelungenlied« in die literarische Überlieferung ein, und dem Vorbilde dieses großen Epos folgen dann zahlreiche andre Heldengedichte. Auch ein Werk der altnordischen Literatur bringt die spätere deutsche Volksüberlieferung zur Darstellung, die im 13. Jahrh. entstandene Thidrekssage. Folgendes sind die wichtigsten Gruppen der deutschen H.: 1) die Nibelungensage, die sich zunächst wohl auf fränkischem Boden entwickelt hat, mit Siegfried, Brunhilde, Kriemhilde und den burgundischen Fürsten als ihren wichtigsten Helden; ihre Hauptquelle ist in Deutschland das »Nibelungenlied«; außerdem kommt besonders das »Lied vom hörnen Seifried« in Betracht; 2) die ostgotische Sage von Ermanrich, Dietrich von Bern, dem Haupthelden der deutschen Sage, und König Etzel; zu ihr gehören die Gedichte: »Dietrich und seine Gesellen«, »König Laurin«, »Der Rosengarten«, »Dietrichs Flucht«, »Alpharts Tod«, »Die Rabenschlacht« u. a.; 3) die Sage von Hugdietrich und Wolfdietrich und Ortnit, die wohl fränkischen Ursprungs, jedoch durch die gotische Dietrichsage beeinflußt ist; ihre Hauptquelle sind verschiedene Fassungen einer Dichtung von Wolfdietrich; 4) die niederdeutsche Hildesage, deren Hauptquelle das »Gudrunlied« ist; 5) die Waltharisage, vermutlich in Alemannien ausgebildet. Ihre wichtigste Quelle ist Ekkehards lateinisches »Waltharilied« (s. Walter von Aquitanien); 6) die Sage von Wieland, dem kunstreichen Schmied, deren Heimat wohl Niederdeutschland ist, von der wir aber nur im Norden ausführliche Darstellung besitzen. Vgl. W. Grimm, Die deutsche H. (3. Aufl., Gütersl. 1889); L. Uhland, Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage (Stuttg. 1865 ff.); Grässe, Die großen Sagenkreise des Mittelalters (Dresd. 1842); Raßmann, Die deutsche H. (Hannov. 1857, 2 Bde.); W. Müller, Mythologie der deutschen H. (Heilbr. 1886); Symons, Germanische H., in Pauls »Grundriß der germanischen Philologie«, 2. Aufl., Bd. 3 (Sonderdruck, Straßb. 1898); Jiriczek, Deutsche Heldensagen (das. 1898, Bd. 1); Panzer, Deutsche H. im Breisgau (Freiburg 1904)

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 9. Leipzig 1907, S. 133.
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