Livĭus [2]

[630] Livĭus, Titus, berühmter röm. Geschichtschreiber, geb. 59 v. Chr. in Patavium (jetzt Padua), gest. daselbst 17 n. Chr., lebte zumeist in Rom, fern von öffentlicher Tätigkeit, aber im Verkehr mit den angesehensten Männern und trotz unverhohlener republikanischer Gesinnung auch Augustus befreundet. Von den 142 Büchern seiner römischen Geschichte von Erbauung der Stadt bis 9 v. Chr. (»Titi Livii ab urbe condita libri«) sind nur 35 erhalten, die 10 ersten, welche die älteste Zeit bis 293, und die Bücher 21–45, welche die Zeit von 218–167 umfassen, außerdem eine Anzahl Bruchstücke und von sämtlichen Büchern (mit Ausnahme von Buch 136 und 137) kurze Inhaltsangaben (Periochae) und ein Auszug der Wundererscheinungen von 249 an von Obsequens (s. d.). L. unternahm das Werk, wie er selbst in der Vorrede erklärt, teils um über der Vergangenheit die Leiden der Gegenwart zu vergessen, teils um den Zeitgenossen das erhebende Bild der großen alten Zeit vorzuhalten, und hat in der Tat damit ein Nationalwerk[630] geschaffen, dus von den Alten aufs höchste bewundert wurde und noch jetzt als eins der bedeutendsten Erzeugnisse der römischen Literatur anerkannt wird. In spätern Zeiten war es die Hauptquelle für die Kunde der Vorzeit. Er begann es um 27 v. Chr. und veröffentlichte es nach und nach abschnittweise (die Einteilung in Dekaden ist spätern Ursprungs); wahrscheinlich hat ihn der Tod verhindert, es bis zu einem geeignetern Endpunkt fort zuführen. Bei dem überwiegend praktischen Zweck war es ihm weniger um eine kritische, urkundliche Erforschung der Geschichte als um eine wirksame, lebendige, den Ansprüchen der Zeit genügende Darstellung zu tun. Er griff daher zu den nächstliegenden Hilfsmitteln, für die ältere Zeit zu den Annalisten, für die Zeit seit dem zweiten Punischen Krieg zu Polybios etc., und begnügte sich, was ihm das Wahrscheinlichste und Angemessenste dünkte, in gewählter, geschmackvoller, wenn auch nicht immer streng klassischer Sprache wiederzugeben und namentlich durch eingeflochtene Reden und Charakterschilderungen, die einen Hauptreiz seines Werkes bilden, zu beleben und auszuschmücken. Am wenigsten ist es ihm gelungen, sich von der Entwickelung der römischen Verfassung eine deutliche Vorstellung zu bilden; überhaupt fehlt es ihm an genügender Kenntnis des Staatsrechts und ganz besonders des Kriegswesens. Bei der Darstellung der Bürgerkriege, die zu dem Untergang der Republik führten, hat er für die Aristokratie Partei genommen, so daß Augustus ihn einen Pompejaner nennen konnte. Wichtige Gesamtausgaben von J. Fr. Gronov (Leid. 1645, 4 Bde., u. Amsterd. 1679, 3 Bde.), Drakenborch (Amsterd. u. Leid. 1738–46, 7 Bde., u. Stuttg. 1820–28, 15 Bde.), Weißenborn-M. Müller (2. Aufl., Leipz. 1884 ff., 10 Bde.), Hertz (das. 1857–64, 4 Bde.), Madvig und Ussing (Kopenh. 1861–76, 4 Bde.; 4. Aufl. 1886 ff.), Luchs (Berl. 1888 ff.), Zingerle (Prag 1883 ff.). Neuere erklärende Ausgaben von Weißenborn-H. J. Müller (in der Weidmannschen Sammlung, 10 Bde.), Wölfflin u.a. Übersetzungen von Heusinger (Braunschw. 1821, 5 Bde.), Örtel (3. Aufl., Stuttg. 1844, 8 Bde.), Gerlach (das. 1856–73) und Klaiber (neue Ausg. von Teuffel, das. 1861, 6 Bde.). Vgl. Riemann, Études sur la langue et la littérature de Tite-Live (2. Aufl., Par. 1884); Taine, Essai sur Tite-Live (7. Aufl., das. 1904); Madvig, Emendationes Livianae (2. Aufl., Kopenh. 1877); Soltau, Livius' Geschichtswerk (Leipz. 1897). Eine Handschriftprobe aus L. s. Tafel »Paläographie I«, 2.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 12. Leipzig 1908, S. 630-631.
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