Nachahmungstrieb

[355] Nachahmungstrieb, die bei vielen Tieren und auch beim Menschen bestehende instinktive Neigung, öfters vernommene Klänge und Wörter, wahrgenommene Bewegungen und Gebärden sowie schließlich Handlungen und Gewohnheiten, deren Vorstellung auf irgend eine Weise erweckt wird, zu wiederholen. Unter den Tieren ist der N. weit verbreitet und spielt namentlich im Leben der intelligentern Tiere (Säugetiere, [355] Vögel, manche Insekten) eine wichtige Rolle; auch beim Menschen ist der N., namentlich in früher Kindheit und bei mangelnder Erziehung, ungemein stark entwickelt; kleine Kinder ahmen alles nach, was sie sehen, Naturvölker wiederholen lange Sätze in der ihnen fremden Sprache der Neuangekommenen und ahmen letztere außerdem in allen Bewegungen und zufälligen Äußerungen (Husten, Niesen, Stottern etc.) überraschend getreu nach. Aber auch im erwachsenen Kulturmenschen, bei dem die Erziehung auf möglichste Unterdrückung dieses leicht lästig werdenden Triebes hingewirkt hat, tritt seine Macht bei gewissen Gelegenheiten immer von neuem hervor, und die »ansteckende Kraft« des Lachens, Weinens, der Begeisterung, des Gähnens, gewisser Nervenzufälle und Krankheiten (wie Veitstanz, Lach- und Weinkrampf, Konvulsionen in Kinderschulen etc.) beruht darauf. Natürlich sind nerven- und willensschwache Personen dem N. am meisten unterworfen, aber die Erfahrungen des Hypnotismus (s. d.) haben gezeigt, daß auch kräftige und gesunde Menschen ihm sofort im höchsten Grade verfallen und jede beliebige Handlung, deren Vorstellung in ihnen erweckt wird, nachahmen müssen, sobald in ihnen das Selbstbewußtsein und damit das Vermögen, dem N. entgegenzuwirken, eingeschläfert wird. Vgl. Schneider, Der tierische Wille (Leipz. 1880); C. Sterne, Die Krone der Schöpfung (Teschen 1884); Romanes, Die geistige Entwickelung im Tierreich (Leipz. 1885); Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie (5. Aufl., das. 1901–1903, 3 Bde.); Groos, Die Spiele der Tiere (Jena 1896); Beck, Die Nachahmung und ihre Bedeutung für Psychologie und Völkerkunde (Leipz. 1904).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 14. Leipzig 1908, S. 355-356.
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