Naturgefühl

[456] Naturgefühl, die Empfänglichkeit für das Schöne, Erhabene und für die verborgene Gesetzmäßigkeit der Natur, die bei den einzelnen Völkerstämmen und in verschiedenen Zeitepochen den mannigfachsten Wandlungen und Kultureinflüssen unterliegt. Bereits in der Dichtung Altindiens spricht sich ein lebhaftes N. aus, das Buch Hiob bezeugt, daß es auch den Semiten nicht mangelte, die zu Delphi gesungenen Frühlingspäane und zahlreiche Schilderungen griechischer Dichter und Prosaiker von Homer bis zu den Alexandrinern lassen seine Stärke bei den Griechen erkennen. Im spätern Rom machte sich, wie in jeder sich verfeinernden Kultur, zunächst eine Abkehr von der Natur fühlbar, der im Gegensatz zu dem naiven N. der Naturvölker ein sentimentaler Rückschlag folgte, eine erkünstelte Übertreibung des Naturgefühls, die sich in der Vorliebe für bukolische Dichtungen, gekünstelte Gärten- und Villenanlagen kundgab, wie sie der jüngere Plinius in seinen Briefen schilderte und in der Villa Hadrians (s. Hadrianus) zu Tivoli mit allem Raffinement (Tempethal) verwirklicht ward. Das aufsteigende Christentum wirkte in gewisser Weise auf Ertötung des Naturgefühls hin, sofern seine Verkünder die Natur als mit dem Fluche behaftet und die Freude selbst nur am Nachtigallgesang als Sünde und Ableitung von der notwendigen Buße hinstellen. Das Jahrhundert der Entdeckungen belebte dann das N. durch die Schilderungen der Üppigkeit fremder Zonen; es begann eine Zeit der romantischen Naturbegeisterung, die sich namentlich in den farbenprächtigen Schilderungen des Calderon und in den »Lusiaden« des Camões ausprägte. Die Erhebung der Landschaftsmalerei (s. d.) zur selbständigen Kunst im 16. und 17. Jahrh. darf als äußeres Zeichen der damaligen gefunden Wandlung des Naturgefühls betrachtet werden; sie lenkte aber mit den Poussins und Claude Lorrain wieder in eine idealisierende und schließlich sentimentale Richtung ein. Inzwischen hatte das N. eine beständige Vertiefung durch die steigende Erkenntnis der Gesetzmäßigkeit alles Geschehens gewonnen; Kopernikus, Kepler, Newton und Herschel hatten die Wirksamkeit der irdischen Naturgesetze bis in die fernsten Himmelsräume dargetan; ein innerer Zusammenhang zwischen Bodenbildung, Klima, Pflanzen-, Tier- und Menschenleben drängte sich ins Bewußtsein, und wenn auch die romantische Schule nochmals eine märchenhafte, unheimliche Naturbelebung heraufbeschwor, die in der zeitgenössischen Philosophie ihren Widerhall weckte, so wurde diesen Auswüchsen durch das Gewicht Goethes und A. v. Humboldts bald wieder der Boden entzogen, während durch Darwin die Erkenntnis des Zusammenhanges alles Lebens unter sich und mit der Umgebung angebahnt wurde. In neuerer Zeit haben die bildenden Künste, besonders die Malerei einen engern Anschluß an die Natur in ihrer wirklichen Erscheinung (Freilichtmalerei) gesucht, wobei aber vielfache Entartungen nicht ausgeblieben sind. – Wie das N. nicht zu allen Zeiten gleich entwickelt war und namentlich bei den Naturvölkern ein mehr unbewußtes bleibt, so erwacht es auch im einzelnen Menschen in der Regel erst zur Zeit der Geschlechtsreife. Vgl. Humboldt, Kosmos, Bd. 2; Biese, Die Entwickelung des Naturgefühls bei den Griechen und Römern (Kiel 1882–84, 2 Bde.) und Die Entwickelung des Naturgefühls im Mittelalter und in der Neuzeit (Leipz. 1888); J. Voigt, Das N. in der Literatur der französischen Renaissance (Berl. 1898); Müllenhoff, Die Natur im Volksmunde (das. 1898); Örtel, Die Naturschilderung bei den deutschen geographischen Reisebeschreibern des 18. Jahrhunderts (Leipz. 1898); Ratzel, Über Naturschilderung (Münch. 1904); Strunz, Naturbetrachtung und Naturerkenntnis im Altertum (Hamb. 1904), und Literatur bei Artikel »Naturschönheit«.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 14. Leipzig 1908, S. 456.
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