Vergilĭus der Zauberer

[73] Vergilĭus der Zauberer, die im Mittelalter sagenhaft ausgeschmückte Gestalt des römischen Dichters Vergilius. Einige rätselhafte Stellen in seinen Gedichten führten schon früh auf die Meinung, daß darin eine ganz besondere Weisheit und Geheimlehre verborgen sei; christliche Schriftsteller des 3. und 4. Jahrh., wie Lactantius, Augustinus u. a., stellten ihn als einen Verkünder des Christentums dar, sie deuteten namentlich den Anfang seines vierten, an den Konsul Asinius Pollio und dessen neugebornes Söhnlein gerichteten Idylls als eine messianische Weissagung, und diese Deutung setzte sich so fest, daß V. mit der Sibylle neben den alttestamentlichen messianischen Propheten in die katholische Liturgie Eingang fand. Kirchenbilder stellen ihn neben der Sibylle von Tibur dar, die dem Kaiser Augustus das Christuskind in den Wolken zeigt, und Dante durfte sich somit in der »Göttlichen Komödie« dem heidnischen Führer bis vor die Tore des Himmels anvertrauen. Damit hängen auch die sogen. Sortes Virgilianae zusammen, eine Schicksalsbefragung, bei der man die ersten sich darbietenden Verse der aufs Geratewohl aufgeschlagenen »Äneide« als Orakel annahm. Es konnte nicht fehlen, daß bald allerlei Sagen an den so hochverehrten Namen sich knüpften, die sich vorzugsweise an die Orte seiner Geburt, seines Hauptaufenthalts und seines Todes, an Mantua, Rom und Neapel, anlehnten. Im 12. Jahrh. scheint zuerst in Neapel mit Benutzung orientalischer Sagen, die in den Kreuzzügen nach Europa gekommen waren, wie bei andern weisen Männern jener Zeit (Kaiser Leo dem Philosophen, Papst Silvester, Albertus Magnus, Roger Bacon u. a.), die Umwandlung in einen Zauberer vollzogen zu sein. Die frühesten Spuren davon finden sich in dem »Policraticus« des Johann von Salisbury (1159), worauf Gervasius von Tilbury in seinem um 1211 geschriebenen Buche »Otia imperialia« schon eine größere Zahl von Sagen aus dem Munde des neapolitanischen Volkes mitteilen konnte. Fortbildung und weitere Beiträge zu dem Sagenkreis lieferten dann namentlich die Chroniken von Neapel und Mantua, wobei verschiedene früher dem Kaiser Leo zugeschriebene Künste jetzt dem Vergil beigelegt wurden, z. B. die vom Zauberspiegel, in dem alles zu sehen war, was in der Welt vorging Die Erzählungen von Automaten, einem Kupfermann, der auf kupfernem Roß Rom durchreitet, um es vom schlechten Gesindel zu reinigen, von Talismanen, die Vergil gefertigt etc., erscheinen arabischen Ursprungs. Zu einem Ganzen gesammelt finden sich diese Sagen in dem seit dem Anfang des 16. Jahrh. wiederholt gedruckten französischen Volksbuch »Faits merveilleux de Virgile« (neue Ausg., Genf 1867), aus dem das englische hervorging (deutsch von Spazier, Braunschw. 1830). Die reichhaltigsten Nachweise über die Literatur der Vergiliussage geben Keller in der Ausgabe der »Romans des sept sages« (Tübing. 1836) sowie von.»Dyokletianus' Leben« (Quedlinb. 1841) und v. d. Hagen vor dem 3. Bande seiner »Gesamtabenteuer« (Stuttg. 1850). Vgl. Zappert, Virgils Fortleben im Mittelalter (Wien 1851); Roth in Pfeifers »Germania«, Bd. 4 (1859); Milberg, Mirabilia Vergiliana (Meiß. 1867), und besonders Comparetti, Virgilio nel medio evo (Livorno 1872; 2. Aufl., Flor. 1896, 2 Bde.; deutsch von Dütschke, Leipz. 1875).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 73.
Lizenz:
Faksimiles:
Kategorien: