Crimen vis

[527] Crimen vis (lat., Gewaltthätigkeit), jede absichtliche, wider fremde Personen od. Sachen verübte unrechtmäßige Gewalt, insofern dieselbe nicht in ein besonderes Verbrechen, wie z.B. Körperverletzung, Brandstiftung etc. übergeht. Das C. v. ist daher ein Aushülfsverbrechen. Im Römischen Recht kam dasselbe erst gegen Ende der Republik als ein mit besonderer Strafe bedrohtes Verbrechen auf, indem wegen der häufigen inneren Kämpfe u. Unruhen, welche Gewaltthätigkeiten aller Art nach sich zogen, das Bedürfniß einer allgemeineren Strafandrohung gegen dergleichen Frevel, alz solche, fühlbar wurde. Allein da die deshalb erlassenen Gesetze (L. Plautia, Pompeja, Julia de vi) ihre Entstehung meist politischen Veranlassungen verdankten,[527] so genügten sie nur wenig u. hatten keinen langen Bestand. Nachhaltiger ausgebildet wurde die Lehre vom C. v. erst unter Augustus durch die Leges Juliae de vi publica et privata, welche die eigentliche Quelle über dieses Verbrechen für das gemeine Criminalrecht bilden. Auch diese Gesetze scheinen indessen ursprünglich nicht alle Arten der Gewaltthätigkeit umfaßt zu haben; durch spätere Interpretation u. Gerichtsgebrauch wurde der Begriff der Vis aber so ausgedehnt, daß man jede Gewaltthätigkeit darunter brachte, welche nicht schon einem andern Strafgesetz unterfiel. Über das Verhältniß der Vis publica zur Vis privata u. den Unterschied beider Begriffe wird viel gestritten; wahrscheinlich wurde der Begriff der öffentlichen Gewalt, der anfangs sich vielleicht nur auf Gewalt in Verhältnissen des öffentlichen Rechtes bezog, später erweitert u. auf alle öffentlich, namentlich mit Waffen begangenen Gewaltthätigkeiten ausgedehnt. Als Strafe drohte das Römische Recht der Vis publica die Deportation od. auch, bes. im Wiederholungsfalle, die Todesstrafe; bei der Vis privata trat Infamie, Relegation u. Verlust des dritten Theiles des Vermögens ein. Die Peinliche Halsgerichtsordnung Karls V. schweigt über das Verbrechen ganz, u. es sind deshalb gemeinrechtlich noch die römischen Strafbestimmungen zur Anwendung zu bringen; nur hat die Praxis die angedrohte Strafe insoweit geändert, daß im Falle der Vis privata willkührliche Freiheitsstrafe eintritt, während die Fälle der Vis publica meist andern Verbrechenskategorien anheimgefallen sind. Doch haben manche auch die Gültigkeit der römischrechtlichen Bestimmungen für das heutige Recht ganz abgeläugnet. In den neueren Strafgesetzbüchern zeigt sich daher in dieser Hinsicht große Verschiedenheit; manche übergehen das Verbrechen ganz, indem sie die einzelnen Gewaltthätigkeiten als besondere Verbrechen aufführen; andere haben dafür wohl noch ein allgemeineres Strafgesetz, bezeichnen jedoch das Verbrechen selbst mit anderem Namen u. legen demselben zum Theil auch einen anderen Charakter bei. Das Verbrechen wird hier meist als Nöthigung od. Bedrohung aufgeführt u. der Thatbestand desselben darauf beschränkt, wenn Jemand durch widerrechtliche Drohung od. Gewalt zu einer Handlung, Duldung od. Unterlassung genöthigt wird, ohne daß diese Gewalt ihrer Absicht od. den angewandten Gewaltmaßregeln nach in ein anderes Verbrechen übergeht. Als öffentliche Gewaltthätigkeit od. Nöthigung wird aber dabei nach einigen Gesetzbüchern der Fall ausgezeichnet, wenn die Gewalt gegen obrigkeitliche Personen verübt worden ist, um sie zur Erlassung od. Zurücknahme von obrigkeitlichen Verfügungen zu bewegen od. dieselben von Vollziehung einer Amtshandlung abzuhalten (z.B. in Baden), od. wenn die Verübung der Gewalt mit Störung der öffentlichen Sicherheitverbunden war (wie z.B. in Hannover). Die Strafandrohung ist gewöhnlich auf Gefängniß, in schwereren Fällen auf Arbeitshaus bis zu mehreren Jahren gerichtet. Manche Gesetzbücher bestimmen noch, daß die Untersuchung nur auf Antrag des Genöthigten einzuleiten sei. Vgl. v. Madai, De vipublica et privata, Halle 1832.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 4. Altenburg 1858, S. 527-528.
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