Kirchengewalt

[505] Kirchengewalt (Potestas ecclesiastica Kirchenregiment), der Inbegriff der Rechte u. Befugnisse, welche dem Oberhaupte der kirchlichen Genossenschaft zur Beförderung der kirchlichen Zwecke, der gemeinschaftlichen, dem wahren Glauben entsprechenden Religionsübung, der Erhaltung der kirchlichen Disciplin u. inneren Ordnung zusteht. In der Katholischen Kirche steht die K. schon nach der ganzen Grundlage der Kirchenlehre welche von der Einheit u. Gemeinheit der Küche angeht, dem Papste im Verein mit den Bischöfen zu. in der Evangelischen Kirche ist dagegen die K. nach dem geschichtlichen Gange der Reformation meist auf die Landesherrn übergegangen, ohne daß indessen darin eine Nothwendigkeit läge. Über die rechtlich Begründung der K. herrschen aber in beiden Kirchen mehrfache Theorien. A) In der Katholischen Kirche ist besonders das Verhältniß des Papstes zu den Bischöfen bestritten. Im Ganzen lassen sich dabei drei Theorien unterscheiden: a) nach dem Papalsystem gilt im streng monarchischen Sinne Papst u. Kirche als Eins u. fließt daher alle K. vom Papste aus; b) das Episkopalsystem legt die höchste Gewalt in die Gesammtheit der Bischöfe, so daß der Papst derselben gegenüber nur eine bevorzugte Ehrenstellung (Primatus honoris) einnimmt, aber doch der Gesammtheit der Bischöfe unterworfen ist; c) eine dritte Throne stellt den Papst u. die Bichöfe zu einander in das Verhältniß von Haupt u. Gliedern, so daß zwar die Fülle der Gewalt in dem Gesammtkörper des Episkopates ruht, jedoch der Papst den Bischöfen sowohl einzelnen, als auch in ihrer Gesammtheit gegenüber immer das Oberhaupt u. die höchste Autorität ist. B) In der Protestantischen Kirche bildete sich zur wissenschaftlichen Rechtfertigung des Überganges der K. an die Landesherrn zunächst a) das Episkopalsystem in der Weise aus, daß man davon ausging, es sei die durch den Reichsschluß von 1555 bis zu: gütlichen Vergleichung der Religionshändel suspendirte, geistliche Jurisdiction der katholischen Bischöfe über die Augsburgischen Religionsverwandten auf die Landesherren devolvirt u. somit in den Letzter jetzt das Recht eines Landesherrn mit den Befugnissen der ehemaligen Bischöfe vereinigt. Gegen diese Ansicht wird indessen eingewendet, daß eine Suspension der bischöflichen Gewalt mich keine Übertragung auf die Fürsten in sich schließt, u. daß eine solche nach katholischer Auffasungsweise nicht einmal zulässig war, weil die bischöfliche Gewalt nur durch geweihte Cleriker ausgeübt werden kann. Modificationen des Episkopalsystems sind noch, daß man abnahm, es sei nicht sowohl eine Devolution der bischöflichen Gewalt eingetreten, als eine Rückkehr an die ursprünglich berechtigten Subjecte: (Reinkingk); od. daß man neben dem Fürsten noch dem Leitstand eine Bedeutung insofern einräumte, als man dem letzteren die Gewalt von der materiellen Seite, dem Fürsten dagegen dieselbe nur von der formellen Seite, d.i. nur das Recht der äußeren Sanction der von dem Lehrstand ausgegangenen Beschlüsse, einräumen wollte (Carpzov). Hauptsächlich unter dem Einfluß naturrechtlicher Prinzipien wurde dem Episkopalsystem später b) das Territorialsystem entgegengestellt. Dieses besonders von Christian Thomasius. I. H. Böhmer u. I. I. Moser ausgebildete System verneinte jede Autorität in Sachen der Lehre u. forderte die Duldung jedes Glaubens. Es betrachtete aber zugleich die Kirche nicht als eine besondere Lebensordnung mit selbständiger Berechtigung, sondern erklärte in Vermischung der Kirchenhoheit mit der Kirchengewalt die Rechte der evangelischen Fürsten in Religionssachen für ein Stück der Landeshoheit. Die Kirche wurde dadurch, wenigstens insoweit sie an dem Staatsgebiete sichtbar hervortritt, ganz der Staatsgewalt untertan gemacht. Diese Theorie hat auf die Gestaltung der Evangelischen K. eine lange Zeit hindurch bedeutenden Einfluß geübt, indem ihrer Herrschaft namentlich die Übertragung der K. selbst an katholische Landesfürsten nach dem Satze: Cujus est regio, eius est religio (weß das Land ist, des ist die Religion) u. die Einsetzung rein weltlicher Behörden zur Leitung der kirchlichen Angelegenheiten zuzuschreiben ist. Aber diese Theorie übersieht nicht allein ganzlich die schon durch das Wesen des Christentums bedingte Verschidenheit zwischen Staat u. Kirche, sondern findet auch in den Reichsgesetzen, namentlich in dem durch den Westfälischen Frieden dem Landsherrn zugesicherten Jus reformandi (s.u. Kirchenrecht) keinen Anhalt. Gegenüber dem[505] Territorialsystem betrachtet c) das Collegialsystem (bes. von Pfaff, von Mosbeim, Schnaubert etc. ausgebildet) die Kirche als ein durch Vertrag gebildete, vom Staate verschiedene, freie u. selbständige Gemeinschaft, welche sich ursprünglich nach dem Grundsatze der Gleichheit selbst regiert, dann die von der katholischen Hierarchie usurpirten Regierungsrechte (Jura collegia in sacra) bei der Reformation zurückerhalten u. dieselben darauf durch einen stillschweigenden Willensact auf die Landesherren übertragen habe. Das Collegialsystem vermindert daher im Gegensatz des Territorialsystems die Vermischung der K. mit den dem Staatsherrscher als solchem zustehenden Oberaufsichtsrechten; es kommt aber zugleich zu der Consequenz, daß den Gliedern der kirchlichen Genossenschaft ein gewisses Recht am Kirchenregiment zustehe, die Landesherren nur sich als die Beauftragten der Gemeinde zu betrachten haben. Im Ganzen liegt dieses Collegialsystem fast allen neueren Darstellungen der Lehre von der K. zu Grunde, wenn dasselbe auch mehrfach modificirt worden ist. Aufzugeben ist dabei jedenfalls die mit den früheren naturrechtlichen Ansichten zusammenhängende Idee, daß die kirchliche Gemeinschaft durch Vertrag erfolgt sei. Hierbei sind für jede Landeskirche die besonderen historischen Vorgänge maßgebend. Dagegen entspricht es doch der evangelischen Auffassung, die K. als aus der kirchlichen Gemeinde, deren Gliedern sämmtlich das Heilswort verkündet ist, hervorgegangen zu betrachten.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 9. Altenburg 1860, S. 505-506.
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