Thomaschristen

[420] Thomaschristen nennt man mehre abgesonderte Gemeinden von syrischen Christen oder Nestorianern, die sich in Indien und an der Küste von Malabar und andern Orten finden. Als nämlich im 5. Jahrh. durch die Verfolgungen der Griechen die Anhänger der Lehre des Nestorius (s.d.) aus ihrem Vaterlande Syrien verdrängt wurden, flüchtete ein Theil derselben nach Indien, wo sie in Verbindung mit neubekehrten Eingeborenen die gegenwärtig noch vorhandenen Gemeinden gründeten. Dieselben rühmen sich aber eines noch weit ältern Ursprungs und leiten ihr Christenthum von der Gemeinde zu Antiochien her, in welcher zuerst der Name Christen gebraucht wurde. Nachmals soll aber auch der Apostel Thomas es ihnen gepredigt und in Malipur, unweit Madras, von einem Brahminen den Märtyrertod erlitten haben. Sie verehren seine Gebeine und nennen sich selbst nach seinem Namen Thomaschristen. Die Eigenthümlichkeit der Lehren und Gebräuche derselben spricht aber für den geschichtlichen Zusammenhang der Gemeinden mit den Nestorianern, oder, wie sie jetzt heißen, syrischen Christen, und ihre eigne Ansicht von dem Apostel Thomas findet vielleicht dadurch eine Erklärung, daß dieser das Christenthum wirklich in Indien gepredigt, dasselbe aber vergessen und durch eingewanderte Nestorianer wieder erneuert worden ist. Die Kenntniß von dem Vorhandensein dieser Gemeinden gelangte erst durch die Portugiesen nach Europa, von denen sie, als dieselben in Indien ihre Eroberungen verbreiteten, im 16. Jahrh. aufgefunden wurden. Bis dahin standen ihre Priester unter dem nestorian. Patriarchen zu Babylon, jetzt zu Mossul, von dem sie ihren Bischof erhielten und jetzt wieder durch die Ordination abhängen. Nach ihrer Entdeckung suchten die Jesuiten sie als eine ketzerische Partei mit der röm. Kirche zu vereinigen; dadurch ergingen über sie die härtesten Verfolgungen und noch einmal wurde der Name des Nestorius verflucht und aus ihren Kirchenbüchern gestrichen. Sie konnten aber nur zum Theil der röm. Kirche unterworfen werden und als die Portugiesen ihre Besitzungen an die Holländer verloren, kehrten sie schnell zur frühern kirchlichen Freiheit zurück, die ihnen auch gegenwärtig unter britischer Oberhoheit gelassen ist. – Das Christenthum der Thomaschristen hat sich fast unverändert auf dem Standpunkte der syrischen Kirche im 5. Jahrh. erhalten. Sie lesen die Bibel in der altsyrischen Sprache und bedienen sich beim Gottesdienste einer in derselben Sprache abgefaßten Liturgie. Wie die ältesten Christen feiern sie die Agapen oder Liebesmahle, die Armen werden von der Gemeinde versorgt und arme Mädchen erhalten bei ihrer Verheirathung von dieser eine Aussteuer. Die Taufe, das Abendmahl und die Ordination der Geistlichen gelten ihnen als Sacramente, und außer dem Kreuzeszeichen haben sie keine kirchlichen Symbole und Bilder. Die Geistlichen sind verheirathet und haben die Tonsur; neben denselben gibt es in jeder Gemeinde vier Älteste, die jährlich gewählt werden, Zwistigkeiten entscheiden und auf Ruhe und Ordnung sehen. Das Oberhaupt der Gemeinde ist der Bischof, der aber ohne die Genehmigung derselben weder die Geistlichen weihen, noch sie ihres Amtes entsetzen, noch über Gemeindeglieder den Bann aussprechen kann, welcher nur nach öffentlicher Kirchenbuße gelöst wird. Die Anzahl der Thomaschristen wird auf 100,000 gerechnet. In Rücksicht der bürgerlichen Verhältnisse gehören sie zur Kaste der Nairen, der zweiten Adelsclasse auf Malabar. Sie dürfen auf Elefanten reiten, treiben kein Handwerk, sondern nur Ackerbau und Handel, und halten sich streng von niedern Kasten entfernt. Im Gegensatze zu der orientalischen Sitte sind die Weiber der sklavischen Abhängigkeit von den Männern nicht unterworfen.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 420.
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