Toleranz

[447] Tolĕranz, d.i. Duldung, gewöhnlich so viel wie religiöse Duldung, nennt man die stillschweigende Gestattung der Übung einer Religion, die in einem Lande gesetzlich nicht anerkannt ist. Eine solche Religion heißt eine geduldete, tolerirte im Gegensatze von der herrschenden oder öffentlichen Landesreligion, die überall das Vorrecht eines freien Bekenntnisses und ungehinderten Gottesdienstes genießt und im Besitz aller bürgerlichen Rechte ist. Die Toleranz beruht auf der Anerkennung des allgemeinmenschlichen Rechts, auf Religions- und Gewissensfreiheit, und im Christenthum findet sie durch die Liebe, womit dasselbe gegen jeden Menschen, ohne Unterschied des Glaubens, Achtung und Wohlwollen gebietet, die vollste Geltung. Das Recht, einer vom Glauben der herrschenden Kirche abweichenden Religionspartei oder Sekte Duldung zu gewähren, hat der Staat, und dieselbe findet in dem christlichen Staate namentlich da ihre Grenze, wo die moralischen Lehren der letztern mit dem Christenthum in Widerspruch treten und der gemeinsamen Wohlfahrt gefährlich und schädlich werden. Die Toleranz kann sich deshalb nur auf die Bekenner der christlichen Confessionen und die Anhänger der verschiedenen Sekten erstrecken, da mit der religiösen Duldung nichtchristlicher Religionen der Staat die Eigenschaft eines christlichen verlieren würde. Den Juden ist zwar, wo sich von denselben Gemeinden befinden, der Gebrauch gottesdienstlicher Übungen gestattet, doch sind dieselben zur Zeit noch in den meisten christlichen Staaten ohne den Genuß bürgerlicher Rechte. Je nachdem die bürgerliche Religionsduldung das Benehmen des Staats gegen die verschiedenen Religionsparteien in demselben, oder das Benehmen eines Glaubensgenossen gegen die Bekenner einer andern Religion betrifft, wird die Toleranz in die öffentliche und Privattoleranz eingetheilt. Unter allen christlichen Religionsparteien ist die katholische Kirche diejenige, die von keiner Toleranz weiß, da sie sich im ausschließlichen Besitze der christlichen Wahrheit erklärt und Abweichungen vom Glauben der Kirche als ketzerisch verdammt; daher in katholischen Ländern nicht von einer kirchlichen, sondern nur von einer bürgerlichen Toleranz die Rede sein kann. Überhaupt muß die erweiterte Geltung der Toleranz als eine Erscheinung der religiösen Aufklärung der neuern Zeit angesehen werden. Durch das berühmte Toleranzedict Joseph's II. von 1781 wurde den Protestanten in allen kais. Landen volles Staatsbürgerrecht und die Freiheit eines stillen Gottesdienstes gesichert, das aber gegen das Widerstreben der Bischöfe nur allmälige und oft gestörte Vollziehung erhielt. Außer der Beschränkung der evangelischen Confession auf den stillen Gottesdienst, wo nicht schon der öffentliche hergebracht ist, hat die katholische gegenwärtig in Östreich noch das ausgezeichnete Vorrecht, daß sie ihren Bekennern den Religionswechsel nur nach vorgängigem Unterrichte erlaubt, wogegen den Nichtkatholiken alle Proselytenmacherei untersagt ist. In Frankreich fand die Religionsduldung Eingang, erst nachdem die Dragonaden Ludwig's XIV. den allgemeinen Abscheu erregt und Voltaire nach der Hinrichtung des redlichen Johann Calas zu Toulouse 1762 die öffentliche Meinung überzeugte, daß das Christenthum keine barbarische Religion sei, sondern Duldung fodere. Wie in Deutschland, so sind auch seit 1830 in Frankreich die Bekenner der drei Hauptconfessionen (Katholiken, Lutheraner und Reformirte) im Genusse der religiösen und bürgerlichen Rechte sich völlig gleichgestellt. Der religiösen Duldung steht die Intoleranz oder die religiöse Unduldsamkeit entgegen, die neben einer bestimmten Religion keine abweichenden Glaubensansichten anerkennt und Andersdenkende im Leben haßt und verfolgt; aber auch die wahre Toleranz kann nie bis zur Verleugnung der Wahrheit im Denken und Handeln Anderer ausgedehnt werden, wenn sie nicht in religiöse Gleichgültigkeit oder Schlaffheit ausarten will.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 447-448.
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