Athen

[340] Athen, die prachtvolle Hauptstadt der attischen Republik, (anfangs Königreich, dann ein Freistaat). Ihre Gründung reicht weit in die Fabelwelt hinauf – man schreibt sie dem Cekrops zu, der 1550 Jahr v. Chr. Geb. die Akropolis gebaut haben soll. Das alte Athen lag auf einem freien, isolirt aus weiter Ebene aufsteigenden Felsen, von 60 Stadien Umfang. Dort oben, näher den reinen Himmelslüften, stand ein achtes Wunderwerk der Welt, das herrliche Parthenon, der Minerventempel, erbaut aus dem reinsten schneeweißen Marmer. Dieser Tempel und der später erbauete des Jupiter Olympius in der unterern Stadt enthielt Phidias's Meisterwerke, der erstere, die 46 Fuß hohe Statue der Minerva, ganz[340] von Elfenbein, Silber und Gold, der andere den berühmten olympischen Jupiter von gleicher Größe und gleichem Stoffe. Der Eingang zu dem Parthenon wurde durch einen besonderen Prachtbau, durch die Propyläen gebildet, dann enthielt die Akropolis noch einen zweiten Minerven- und einen Neptunstempel, das Erechtheum, ferner das Pandrosion, das Theater des Bacchus und das Odéon, für eigentliche Schauspiele und für Musik, beide von außerordentlicher Größe und mit höchster Pracht erbaut. Nicht minder reich an wunderbar schönen Werken war die untere Stadt. Das Pantheon, der Thurm der Winde, die Pökile, eine Gallerie für historische Bildwerke und hundert andere Meisterstücke der Baukunst, waren in Athen zerstreut, eine ganze Straße war mit Denkmälern großer Männer gefüllt – von all' dieser Herrlichkeit sind nur noch Ruinen vorhanden, allein diese von einer Erhabenheit und Würde, von einer Pracht und Größe, welche selbst die rohen, alle Kunst verachtenden Türken, mit Ehrfurcht erfüllt und sie zur Schonung bewogen hat. Wer hörte die Namen Prytanäum – das Haus des Senats – Areopagus, der Hügel, wo der Areopag, der oberste Gerichtshof, seine Urtheile sprach – Pnyx, wo das freie Volk von Athen sich berathschlagte – wer hörte sie ohne Rührung über die Vergänglichkeit alles Edlen und Großen – wer hörte die Namen Akademia, wo Plato lehrte, Lyceum, wo Aristoteles seine Vorträge hielt, Kynosarges, wo Antisthenes, der Stifter der cynischen Schule, seine Zuhörer versammelte, Pökile, wo Zeno sich aufhielt, nennen, ohne daran zu denken, daß Athen die Mutter der Weisheit und Gelehrsamkeit, des ersten und des heitern Wissens, aller Künste des Krieges und des Friedens war? Was war auf diesem Raume zusammengedrängt, das Khalkodon und das Pompeion, der Tempel der Gäa und ein anderer des Bacchus, ein dritter der Dioskuren (Kastor und Pollux), ein vierter der Agraulos, ein fünfter des Apollo, ein sechster des Apollo Pythios, ein siebenter des Didaskalion, ein achter, neunter und zehnter, den [341] Amazonen, dem Herakles und dem Jupiter Panhellenios (aller Griechen) geweiht, ein eilfter bis dreizehnter der Demeter (Ceres), der Artemis (Diana) und den Musen errichtet, ein vierzehnter der Aphrodite Pandemos; ferner bis zum fünf und zwanzigsten, ein Tempel des Poseidon (Neptun), ein zweiter der Demeter, und ein dritter der Athenä, ein dritter des Zeus, einer des Hermes, der Kalirrhoe, der Cybele, des Aeakus, des Mars, ein zweiter der Venus Urania, ein zweiter des Theseus, und zwar alle diese, außer den oben genannten Wunderwerken der Kunst. Hierzu kommen noch andere Prachtbauten, Gymnasien, Rennbahnen, Hallen, Wasserleitungen, Thore, Denkmale! Und diese Stadt, dieser Sitz alles Edlen, alles Großen, diese wahre Wiege der Kultur, mehr als Indien und Aegypten, ist untergegangen, zu einem elenden Dorf, Setines, herabgesunken, der Götter herrliche Tempel sind theils zertrümmert, zu schlechten Häusern verbraucht, die Marmorsäulen und Statuen entweder als Quader und Bruchsteine benutzt – noch das glücklichste Loos, in welchem Falle irgend ein Zufall sie wieder an's Tageslicht führen kann – oder zerkleinert zu Kalk gebrannt und zu Mörtel verwendet. Das Volk, durch Kekrops oder Cekrops nach Attika geführt, ließ sich zuerst um den Felsen der Akropolis nieder, breitete sich mehr und mehr aus, bildete neun Städte mit ähnlichen Burgen, welche bis auf eilf gestiegen waren, als endlich Theseus sie zu einem Volke vereinigte, das Athen als die Hauptstadt, und sich als athenische Bürger erkannte. So ging es mehr oder minder glücklich tausend Jahre hindurch, bis Solon's weise Gesetze erschienen. Xerxes vernichtete Athen, die Bewohner flohen auf die Schiffe, bald aber zur See geschlagen zog Xerxes sich zurück und Athen stand unter Themistokles in neuer Pracht auf. Nun stieg mit Riesenschritten die Macht und Größe des Staates, sein Heer, seine Flotten, seine Künste, sein Handel machte es groß, übermächtig, doch leider auch zuletzt übermüthig Philippus von Macedonien demüthigte es und wart sich[342] zum Könige von Griechenland auf; allein Kunst und Wissen blieben dort einheimisch, wo sie zuerst aufgeblüht waren. Athen hörte auf, die berühmte Hauptstadt der Welt zu sein, aber es blieb eine weltberühmte Stadt. Rom erhob sich über Griechenland, aber selbst seine wildesten Kaiser achteten das Eigenthum der Götter, die Tempel und Altäre blieben unberaubt; was ein Jahrtausend an Herrlichkeit aufgehäuft, ward nicht nur erhalten, sondern es stand in nie vergänglicher Neuheit, in siegender Schönheit, neben dem, was unter den Triumvirn, was unter dem die Künste schützenden und befördernden Hadrian sich erhob. – Der christlichen Kirche war es vorbehalten zu stürzen, was selbst die Hunnen und Alanen, die Gothen und Scythen geschont hatten. 400 Jahre nach Christi Geburt waren alle Heidentempel zerstört oder in Kirchen verwandelt, die Schulen der Philosophen wurden geschlossen, mit ihnen erlosch sogar die Erinnerung an die einstige Größe. Gewiß ist, daß kein Volk der bekannten Welt einen so hohen Grad von Bildung erreicht hat, als derjenige war, welcher die Athenienser zierte. Die Zeit ist um drittehalb Jahrtausende vorgeschritten, und da, wo was zu lernen war, konnten wir mitschreiten, doch in der Philosophie, in den Fundgruben des Geistes, haben jene ehrwürdigen Priester der Minerva, Sokrates und Plato, Demokrit und Zeno, Epikur und Diogenes, Aeschines und Aristipp etc. schon Alles erschöpft; uns bleibt nichts übrig, als ihre Weisheit zu bewundern; dasselbe gilt für die bildenden Künste (mit Ausnahme der Musik, welche erst durch den mehrstimmigen Gesang gehoben worden ist). Die Meisterstücke des Skophas, Praxiteles, Phidias, sind durch die ersten ausgezeichnetesten Bildhauer späterer Jahrhunderte kopirt. Die Dichter sind noch nicht erreicht, die Maler freilich nur aus Beschreibungen bekannt, müssen jedoch nach diesen das Unbegreifliche geleistet haben, und was die Lava und die vulkanische Asche, in Pompeji und Herkulanum aufbewahrt hat, und was die Bildhauer geleistet, läßt schließen, daß die Alten nicht geprahlt haben mit dem, was sie von [343] Zeuxis, Apelles und Parrhasius erzählen. Die Schauspieldichter sind noch immer eben so bewundert wie vor 2000 Jahren – so geht es durch alle Zweige der menschlichen Bildung – nur das Weib war vernachlässigt! – In das Gynäceum eingeschlossen waren Frauen der Gesellschaft der Männer, oder vielmehr umgekehrt, waren diese der edlen verfeinernden Gesellschaft der Frauen ganz verlustig. Von dem öffentlichen wie von dem Privatleben blieben sie ausgeschlossen, nur zwei Frauen in Athen, beide nicht Athenerinnen, sind berühmt geworden. Aspasia und Lais (s. d.). Das jetzige Athen ist beinahe nur ein Dorf, Setines, Adinah – hat 10,000 Einwohner aus verschiedenen Nationen, welche sich von Oelbau und Bienenzucht nähren – roher als ihre Besieger, die Osmanen, haben sie selbst das Meiste ihrer Denkmale zerstört – der Theseustempel, der Thurm der Winde und das Parthenon stehen noch in ihren Trümmern groß und erhaben!

V.

Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 1. Leipzig 1834, S. 340-344.
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