Lüge

[832] Lüge, die absichtliche, mit dem Vorsatz der Irreführung andrer erfolgende Mitteilung einer bewußten Unwahrheit. Wird durch Handlungen in andern ein Irrtum erregt, so nennt man das in der Regel Täuschung, doch braucht deswegen die L. nicht notwendig in Worten ausgesprochen zu werden, derselbe Zweck wird vielmehr oft auch durch Zweideutigkeiten und Unbestimmtheiten der Rede oder durch irgend welche stumme Zeichen und Andeutungen erreicht. Die sittliche Verwerflichkeit der L. ist in den Fällen zweifellos, wo sie dazu dient, andre zu schädigen oder sich auf deren Kosten einen ungerechten Vorteil zu verschaffen (die L. des Betrügers, des Verleumders, des parasitischen Schmeichlers etc.), ob sie jedoch an und für sich und unter allen Umständen unsittlich sei, ist eine unter den Moralisten strittige Frage. Der moralische Rigorismus (s. d.) verbietet dieselbe schlechtweg; nach Kant ist sie »durch die bloße Form ein Verbrechen des Menschen an seiner eignen Person und eine Nichtswürdigkeit, die den Menschen in seinen eignen Augen verächtlich machen muß«. (Vgl. dessen Schrift: »Über ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen«.) Das sittliche Gefühl des Volkes erklärt jedoch die L. in gewissen Fällen (als Notlüge) unbedenklich für erlaubt und macht z. B. weder dem Arzt einen Vorwurf, der dem Kranken aus Schonung die Unwahrheit über seinen Zustand sagt, noch dem, der etwa einen Räuber durch eine L. über den Zufluchtsort seines Opfers täuscht. Die utilitaristische (teleologische) Moral, die den sittlichen oder unsittlichen Charakter der Handlungen aus den Wirkungen ableitet, die sie hervorzubringen geeignet sind, stimmt hiermit überein. Nach ihr ist die L. allerdings im allgemeinen verwerflich, weil sie, allgemein angewandt, alles Vertrauen vernichten und die menschliche Gemeinschaft unmöglich machen würde; dieser Grund entfällt jedoch, wo (wie beim Räuber) ein Vertrauensverhältnis überhaupt ausgeschlossen ist. Außerdem kann, nach der utilitaristischen Ansicht, immer im einzelnen Falle (wie beim Arzt) ein höherer sittlicher Zweck die Durchbrechung eines sonst anerkannten Pflichtgebotes notwendig machen, worüber das sittliche Taktgefühl des einzelnen entscheiden muß (vgl. Pflicht). Ob die sogen. fromme L., die von dem Grundsatz ausgeht: »Ein Wahn, der mich beglückt, wiegt eine Wahrheit auf, die mich zu Boden drückt«, und die pädagogische L., die manche Erzieher im Interesse des Zöglings unter Umständen anwenden zu müssen glauben, aus diesem Gesichtspunkte zu rechtfertigen sind, bleibe dahingestellt. Die sogen. Höflichkeits- oder konventionelle L. (wenn man z. B. einen ungelegenen Besuch freundlich willkommen heißt etc.) ist streng genommen überhaupt keine L., weil jedermann weiß, daß die Höflichkeitsformen eben nur Formen und nicht Äußerungen wirklicher Gefühle und Gesinnungen darstellen. Vgl. Heinroth, Die L. (Leipz. 1834); Nordau, Die konventionellen Lügen der Kulturmenschheit (19. Aufl., das. 1903).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 12. Leipzig 1908, S. 832.
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