Sieden

[439] Sieden (Kochen), das Aufwallen einer Flüssigkeit, wobei sich nicht nur an der Oberfläche, sondern auch im Innern der Flüssigkeit Dampf bildet. Im Innern einer Flüssigkeit aber können Dampfblasen nur dann bestehen, wenn die Spannkraft des in ihnen enthaltenen Dampfes dem auf der Flüssigkeit lasten den Druck das Gleichgewicht hält. Eine Flüssigkeit siedet, wenn sie diejenige Temperatur erreicht hat, bei der die Spannkraft ihres gesättigten Dampfes dem äußern Druck gleich ist. Diese Temperatur, der Siedepunkt, liegt mithin um so tiefer, je geringer dieser Druck ist. Der normale Siedepunkt des Wassers, den man auf der Thermometerskala mit 100° bezeichnet, ist diejenige Temperatur, bei welcher der gesättigte Wasserdampf einer Quecksilbersäule von 760 mm Höhe (Normalbarometerstand an der Meeresoberfläche) das Gleichgewicht hält. Auf dem Gipfel des Montblanc, in einer Höhe von 4775 m ü. M., wo der Barometerstand nur noch 417 mm beträgt, siedet das Wasser bei 84°, d. h. bei derjenigen Temperatur, bei der die Spannkraft des Wasserdampfes[439] ebenfalls 417 mm beträgt. Man kann daher aus dem Siedepunkt des in einem offenen Gefäß kochenden Wassers die Höhe des Beobachtungsortes über der Meeresoberfläche berechnen. Für diese Höhenmessungen benutzt man ein Hypsothermometer (Siedethermometer, Thermobarometer), dessen in sehr kleine Unterabteilungen geteilte Skala nur wenige Grade unterhalb des normalen Siedepunktes umfaßt. Mit Hilfe einer Luftpumpe kann man das Wasser bei jeder beliebigen niedrigen Temperatur zum S. bringen. Läßt man Wasser in einem etwa zur Hälfte gefüllten Glaskolben sieden, bis alle Luft durch die Dämpfe ausgetrieben ist, und verschließt dann die Mündung durch einen luftdicht schließenden Kork, so befindet sich über dem erkaltenden Wasser nur noch Wasserdampf, der einen seiner Temperatur entsprechenden Druck auf die Flüssigkeit ausübt. Gießt man nun kaltes Wasser auf den Glaskolben, so beginnt das Wasser im Kolben wieder lebhaft zu sieden, weil der auf der Flüssigkeit lastende Druck des Dampfes durch die Abkühlung plötzlich vermindert wird. Hat man aus einer ⊓-förmigen, an beiden Enden kugelförmig erweiterten und zum Teil mit Weingeist gefüllten Glasröhre durch Kochen alle Luft vertrieben und dieselbe alsdann durch Zuschmelzen geschlossen, so reicht die Wärme der Hand hin, den Weingeist zum S. zu bringen (Pulshammer, Franklinsche Röhre). Eine mit Wasser gefüllte und auf diese Weise luftleer gemachte Röhre nennt man Wasserhammer (Kryophor), weil beim Schütteln das Wasser, von Luft nicht mehr gehindert, mit lautem Schall gegen die Glaswand schlägt. In einem offenen Gefäß kann man eine Flüssigkeit nicht (oder nur wenig) über den Siedepunkt erhitzen, der dem jeweils herrschenden Luftdruck entspricht, weil, sobald das S. begonnen hat, alle zuströmende Wärme zur Überführung der Flüssigkeit in den gasförmigen Zustand verbraucht wird. In einem geschlossenen Gefäß dagegen steigert sich bei fortgesetztem Erhitzen, da der Dampf nicht entweichen kann, die Dampfspannung immer mehr und mit ihr der Siedepunkt; unter einem Drucke von 2 Atmosphären z. B. siedet Wasser bei 121°, unter 3 Atmosphären bei 134° u. s. s. Hierauf beruht der Dampfkochtopf (s. Digestor). Siedepunkte einiger Flüssigkeiten beim normalen Druck von 760 mm:

Tabelle

Absoluter Siedepunkt heißt nach Mendelejew jene kritische Temperatur (s. Gase. S. 363), oberhalb der ein Körper unter allen Umständen im gasförmigen Zustand sich befindet und durch keinen auch noch so hohen Druck verflüssigt werden kann. Diese Temperatur ist z. B. für Schwefelkohlenstoff 276°, für Äther 196°, für Kohlensäure 31°. Mendelejew entdeckte eine Beziehung zwischen dem absoluten Siedepunkt und der Kapillarität der Flüssigkeiten. Die Erhöhung der Temperatur wirkt der Kohäsion entgegen und vermindert sonach die Oberflächenspannung; endlich wird die Oberflächenspannung gleich Null, und die zugehörige Temperatur ist der absolute Siedepunkt.

Das S. einer Flüssigkeit beginnt nicht immer bei der Temperatur ihres Siedepunktes, sondern häufig wird, besonders in glattwandigen Gefäßen, eine Verzögerung des Siedens, ein Siedeverzug, beobachtet; die Temperatur steigt allmählich ein wenig über den Siedepunkt, und das S. tritt dann stoßweise oder sogar explosionsartig ein, indem die Temperatur wieder auf den normalen Siedepunkt herabsinkt, um nachher wiederum anzusteigen. Durch den Siedeverzug (Überhitzung) und die darauf folgende stürmische Dampfentwickelung hat man Dampfkesselexplosionen zu erklären versucht (s. Dampfkesselexplosion, S. 452). Der Siedeverzug wird verhindert, wenn man eckige, rauhe und insbes. poröse Körper, z. B. Platindrähte, Sand, Kohlenstückchen, Holzspäne, in die Flüssigkeit bringt, welche, indem sie die ihnen adhärierende Luft abgeben, die Dampfbildung einleiten. Noch wirksamer wird der Siedeverzug durch Einleiten eines Luftstroms verhindert. Vgl. Kahlbaum, Siedetemperatur und Druck in ihren Wechselbeziehungen (Leipz. 1885); Nernst und Hesse, Siede- und Schmelzpunkt, ihre Theorie und praktische Verwertung (Braunschw. 1893); O. Lehmann, Flüssige Kristalle (Leipz. 1904).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 18. Leipzig 1909, S. 439-440.
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