Verhör

[590] Verhör, im Criminalprocesse jede Vernehmung eines Angeschuldigten, ist der Hauptbestandtheil der Specialinquisition, welche erst dann eröffnet werden kann, wenn hinreichende Verdachtsgründe gegen eine bestimmte Person vorhanden sind. Ihr Zweck ist, den vollen Beweis der Schuld oder Unschuld desselben zu begründen. Die Generalinquisition dagegen, welche den Anfangspunkt des Unter, suchungsprocesses bildet, hat es mit dem Grunde für das Dasein des Verbrechens überhaupt zu thun, und in Bezug auf den Thäter nur die Frage zu beantworten, ob so viel Verdachtsgründe gegen ihn vorliegen, um eine förmliche Untersuchung einzuleiten. Da die Eröffnung der Specialinquisition mit vielen Nachtheilen für den guten Namen und die bürgerliche Ehre des Angeschuldigten verbunden ist, so hat sich der Richter sorgfältig vor Übereilungen zu hüten. In dem solennen Untersuchungsprocesse zerfällt nämlich die Specialinquisition in zwei Theile, in die summarische Untersuchung, in welcher der Richter die Beweise für und gegen den Angeschuldigten aufsucht und sammelt, und in die articulirte Untersuchung (articulirtes Verhör, auch Specialinquisition im engern Sinne), wo die Beweise förmlich dargestellt und alle auf die Bestrafung Einfluß habende Punkte einzeln bewiesen werden sollen. Sie bildet den feierlichen Criminalproceß und ihre wesentliche Form sind einzelne bestimmt gefaßte Sätze, worüber sich der Angeschuldigte zu erklären hat, die sogenannten Artikel. – Das summarische Verhör muß gleich nach der Verhaftung vorgenommen werden, nur in Despotien der schlechtesten Art kann eine lange Hast vorkommen, ohne daß der Verhaftete den Grund derselben kennt und Gelegenheit hat, sich zu rechtfertigen. Der Angeschuldigte, der hier Inculpat, Comparent, Constitut, auch Arrestat heißt, wird im Allgemeinen über das Verbrechen befragt, um wo möglich eine zusammenhängende Erzählung zu liefern, oder wenigstens sich über seinen Zusammenhang mit der That zu rechtfertigen. Zweckmäßig eröffnet der Richter dieses Verhör mit Fragen nach dem Lebenslauf des Angeschuldigten, um ihn kennen zu lernen; der Verdacht wird ihm nur im Allgemeinen vorgehalten, ohne die einzelnen Indicien vollständig zu nennen. Bei Dunkelheiten muß der Richter Aufklärung, bei Widersprüchen Vereinigung derselben fodern, offenbare Unwahrheiten hat er dem Angeschuldigten vorzuhalten. Über die Wahrheit der Thatsachen, die der Inculpat angibt, muß der Richter nachforschen, theils indem er sie an sich, nach ihrem innern Zusammenhange und nach ihrem Verhältniß zu andern erwiesenen Thatsachen prüft, theils indem er von Zeugen oder auf andere Art (z.B. durch Confrontation) die Wahrheit oder Unwahrheit derselben zu erfahren sucht. Die summarische Untersuchung ist geschlossen, wenn der Richter Gründe hat, anzunehmen, daß er keine neuen Beweise mehr auffinden werde. Wenn der Proceß ein Civilverbrechen betrifft, so wird er durch die summarische Untersuchung allein geendigt. Bei vollem Beweise der Schuld erfolgt die Verdammung, sowie die Lossprechung bei vollem Beweise der Unschuld, oder, bei unvollständigem Beweise der Schuld, der Reinigungseid oder die Absolution von der Instanz. Wenn bei Criminalverbrechen schon in der summarischen Untersuchung die Indicien getilgt werden, so muß ebenfalls sofort eine absolutorische Sentenz folgen. Im gegentheiligen Falle aber folgt bei Criminal-, besonders Capitalverbrechen, die articulirte Untersuchung auf die summarische. Sie ist als der feierliche Criminalproceß selbst dann nothwendig, wenn der Angeschuldigte schon überführt oder geständig ist. Als Hauptbestandtheil derselben ist das articulirte Verhör, in welchem der Angeschuldigte punktweise über die einzelnen Umstände der That befragt wird. [590] Diese Fragen heißen Inquisitionsartikel und werden von dem Richter selbst vorher entworfen, wozu ihm die Generalinquisition und das summarische Verhör den Stoff liefern. Während des Verhörs selbst kann er, sobald es die Zweckmäßigkeit erfodert, auch noch Artikel zusetzen, welche man dann Additionalartikel nennt. Die Artikel betrachten entweder die persönlichen Eigenschaften des Angeschuldigten (Generalartikel) oder das Verbrechen selbst, und die Umstände desselben (Specialartikel). Diese dürfen immer nur auf einen Umstand gerichtet sein und daher nicht mehr als eine Proposition enthalten; dabei müssen sie zusammengenommen alle Umstände umfassen, die auf die Bestrafung Einfluß haben können, sowol die Beschuldigenden als die Entschuldigenden, und endlich dürfen sie, wie überhaupt alle Fragen des Richters im Criminalprocesse, weder captiös, noch suggestiv sein. Captiös werden sie aber, wenn sie so gestellt sind, daß der Angeschuldigte durch seine Antwort auch ohne seine Absicht und seinen Willen, einen ihn beschwerenden Umstand zugeben kann, und suggestiv, wenn die Antwort schon bestimmt mit den einzelnen Umständen der Thatsache, worauf sich die Frage bezieht, darin enthalten ist. Das articulirte Verhör muß vor gehörig besetzter Gerichtsbank geschehen. Der Angeschuldigte muß in Person gegenwärtig sein und dabei bestimmt und kategorisch antworten, ohne daß es ihm erlaubt ist, sich blos auf seine Aussagen im summarischen Verhör zu berufen. Seine eignen Worte werden von dem Actuarius niedergeschrieben. Da der Angeschuldigte, nunmehr Inquisit genannt, nach dem gemeinen Vorurtheil, in diesem Abschnitte des Processes schon als wirklicher Verbrecher betrachtet und dem articulirten Verhöre infamirende Kraft beigelegt wird, so verstattet die Praxis zur Abwendung dieser Nachtheile eine besondere Defension, die sogenannte Vertheidigung zur Abwendung der Specialinquisition, welche aber nur dann zugelassen wird, wenn wenigstens scheinbare Gründe des Erfolgs vorhanden sind. Wie der Inquisit, so werden auch die Zeugen, welche in der articulirten Untersuchung abgehört werden, artikelweise vernommen.

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Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 590-591.
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