Verhör

[476] Verhör (Examen), 1) ein gerichtlicher Act, in[476] welchem eine Person befragt u. veranlaßt wird, seine Wissenschaft über die Thatsachen anzugeben, welche, bei einer gerichtlichen Erörterung od. Untersuchung von Wichtigkeit sind. Bes. 2) die Vernehmung des Angeschuldigten, der Zeugen u. Sachverständigen im Strafprocesse A) Dem V. des Angeschuldigten (Inculpaten) liegt die Absicht zu Grunde, einestheils denselben zu einer wahrheitsgetreuen Darstellung der Thatumstände des betreffenden Verbrechens, über welche er in der Regel die beste Auskunft zu geben im Stande ist, aufzufordern; anderenteils die von ihm erlangten Erklärungen zu benutzen, um denselben zur Aufklärung der etwa noch bleibenden Unklarheiten aufzufordern u. hierdurch zugleich die Mittel zu erhalten, durch deren Kenntniß der Richter allein in den Stand gesetzt wird darüber zu urtheilen, ob ein erlangtes Geständniß einen genügenden Überzeugungsgrund für die Schuld des Angeklagten abgeben kann. Die specielle Einrichtung der V-e ist verschieden je nach dem Princip, auf welchem die Untersuchungsführung beruht, nach dem Stadium, in welchem sich die Untersuchung befindet, nach dem Gegenstande des angeschuldigten Verbrechens u. nach dem nächsten Zweck, auf dessen Erreichung das V. gerichtet ist. a) Im älteren deutschen, auf Schriftlichkeit gebauten Inquisitionsprocesse wird das summarische u. das articulirte V. unterschieden, wovon das erstere in formloser Weise abgehalten wird, während bei dem letzteren die an den Angeschuldigten zu richtenden Fragen in kurze, bestimmte Sätze (Inquisitionalartikel, s.u. Verfahren) eingekleidet werden. Die letztere Form wird in der Regel bei dem am Schlusse der Untersuchung noch einmal über alle relevanten Punkte sich erstreckenden V-e (Haupt- od. Schlußverhör) zur Anwendung gebracht. Das erste V. muß nach neueren Gesetzen, wenn der Angeschuldigte verhaftet wurde, spätestens binnen 24 od. 48 Stunden von der Verhaftung (s.d.) an gerechnet, abgehalten werden. Nach diesem wiederholen sich die V-e so oft, als durch den weiteren Gang der Untersuchung neues Material dazu geboten ist. Fordert der Inculpat selbst ein V., so muß diesem Verfahren immer gewillfahrt werden. Alle V-e bilden unter sich ein Ganzes. Die Vorbereitung zum V. setzt ein genaues Actenstudium voraus. Die bezüglichen Regeln, namentlich auch über die geschickte Stellung der Fragen, bei welchem aber captiöse u. Suggestivfragen (s.d.) zu vermeiden sind, begreift man unter der sogenannten Inquisitionskunst od. der Kunst des Inquirirens. Bezüglich der Fragen unterscheidet man allgemeine (General-) Fragen, welche sich über Namen, Alter, Stand, Geburtsort, Familienverhältnisse, Vermögen, Religion u. frühere Bestrafungen des Inculpaten verbreiten; u. Specialfragen, welche auf den besonderen Gegenstand der Untersuchung eingehen. Jeder Inculpat wird zunächst einzeln u., wenn er verhaftet ist, ohne Fesseln verhört. Über das ganze V., welches nur vor besetzter Gerichtsbank abzuhalten ist, muß ein treues Protokoll (s.d.) mit Angabe der Fragen u. Antworten abgefaßt werden, wobei namentlich bezüglich der letzteren sich möglichst genau an die Redeweise des Inculpaten anzuschließen ist. Alle etwaigen Unterbrechungen, od. besondere Handlungen, welche während des V-s vor sich gehen, wie Recognitionen, Confrontationen u. dgl., müssen ebenfalls genau angegeben werden; selbst auf die Mienen des Inculpaten ist Acht zu haben u. darüber, wenn nöthig, entweder am Schlüsse eine abgesonderte Registratur aufzunehmen od. im Verhörsprotokolle selbst das Erforderliche zu bemerken (sogenanntes Geberdenprotokoll). Am Schlusse ist jedesmal das Protokoll dem Vernommenen vorzulesen. b) In dem neueren auf Mündlichkeit u. Öffentlichkeit beruhenden Anklageverfahren unterscheidet man: aa) bloße gerichtspolizeiliche V-e, welche von den Beamten der gerichtlichen Polizei, Staatsanwälten, Polizeibehörden, od. auch von Gerichten zunächst nur zu dem Zwecke angestellt werden, um Aufklärung über einen Thatumstand zu erhalten. Derartige V-e bilden keine eigentlichen Beweisquellen u. dienen nur dazu, um die Beschaffung der letzteren, so wie überhaupt die Einleitung u. den Gang einer wirklichen Untersuchung vorzubereiten. bb) Instructionsverhöre, d.h. diejenigen V-e, welche mit dem Angeschuldigten in der Voruntersuchung durch den Untersuchungsrichter abgehalten werden. Der Zweck derselben ist den Angeschuldigten mit seinen, Erklärungen über die auf ihm lastende Anschuldigung zu hören, also ihn entweder zum Geständniß od. zur Darlegung seiner Unschuld, zur Herbeischaffung von Gegenbeweisen, Vorbringung von Einreden od. wenigstens zur Geltendmachung der ihm zur Seite stehenden Milderungsgründe zu veranlassen. Die Form der Instructionsverhöre ist derjenigen gleich, welche nach dem älteren Inquisitionsverfahren bezüglich der summarischen Vernehmungen stattfindet. Nach manchen Strafproceßordnungen ist auch diese Voruntersuchung mit einem ausführlichen Schlußverhör zu beendigen, in welchem dann der Angeschuldigte namentlich nochmals zur Angabe der bisher noch nicht vorgebrachten Vertheidigungsmittel aufzufordern ist. cc) Das Vertheidigungsverhör, welches nach manchen Gesetzen in den vor die Assisen gewiesenen Fällen durch den ernannten Assisenpräsidenten nach Ankunft desselben am Sitze des Schwurgerichts u. Eröffnung des Verweisungserkenntnisses mit dem Angeschuldigten abzuhalten ist, um den Letzteren auf seine Zuständigkeiten in Bezug auf die Vertheidigung aufmerksam zu machen, u. um zugleich dem Assisenpräsidenten selbst Gelegenheit zu geben den Angeklagten persönlich kennen zu lernen. Dem Angeklagten werden dabei auch die Namen der zukünftigen Assisenrichter mit der Aufforderung bekannt gemacht etwaige Recusationsgründe gegen dieselben binnen acht Tagen bei Verlust des Recusationsrechtes geltend zu machen. dd) Das öffentliche Hauptverhör in der mündlichen Schlußverhandlung, das wichtigste, weil es allein die unmittelbare Grundlage der Entscheidung zu bilden bestimmt ist. Das V. des Angeklagten erfolgt hier als erster Theil der Beweiserhebung nach eröffneter Anklage durch den Vorsitzenden des Gerichtshofes. Manche Gesetze lassen aber zu, daß auch von anderen Mitgliedern des Gerichtes Fragen an den Angeschuldigten gestellt werden können; ebenso kann der mitgegenwärtige Staatsanwalt u. Vertheidiger den Vorsitzenden bitten, daß er gewisse Fragen, welche ihnen wichtig erscheinen, an den Angeschuldigten richte. Das über die Hauptverhandlung durch einen Gerichtsschreiber aufgenommene Protokoll ist in der Regel nur ein ganz summarisches.

B) Das V von Zeugen u. Sachverständigen[477] wird im Allgemeinen in gleicher Weise vorgenommen, wie das V. des Angeschuldigten; es finden daher bei demselben im Ganzen die nämlichen Regeln analoge Anwendung, nur mit dem Unterschied, daß der Richter, während er bei dem Angeschuldigten dahin zu wirken hat, daß derselbe nicht mit der Wahrheit zurückhalte, bei dem Zeugen mehr darauf zu sehen hat, daß derselbe nur das u. nicht mehr als feststehend angebe, als was von ihm mit seinen Sinnen sicher wahrgenommen worden ist. Eine Besonderheit des Zeugenverhörs bildet noch der Umstand, daß der Zeuge regelmäßig vereidet wird. Die eigentliche Vernehmung theilt sich auch bei dem Zeugenverhör in General- u. Specialfragen (s. ob,). In dem öffentlichen Anklageverfahren tritt bei dem V. der Zeugen in der Schlußverhandlung die Eigentümlichkeit hervor, daß der Zeuge in Gegenwart des Anklägers u. des Angeklagten vernommen wird, u. daß auch die Letzteren durch Vermittelung des Präsidenten an den Zeugen Fragen zu stellen befugt sind. Das Englische Recht gestattet sogar, daß diese Fragen unmittelbar von dem Ankläger u. Angesagten od. dessen Vertheidiger gerichtet werden dürfen. Dies ist das sogenannte Kreuzverhör (Cross-examination). Die Gegenpartei hat dabei immer das Recht durch Gegenfragen, welche sie an den Zeugen richtet, demselben Widersprüche nachzuweisen od. seine Aussage als unwahrscheinlich darzulegen. In etwas beschränktem Maße hat auch die neuere Preußische Strafproceßordnung die Gestattung eines solchen Kreuzverhöres aufgenommen.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 18. Altenburg 1864, S. 476-478.
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