Process

[579] Process (Proceßlehre, Proceßrecht) nennt man den Inbegriff derjenigen Vorschriften und Formen, nach welchen der Schutz des Staats gegen Rechtsverletzungen gewährt wird und zu suchen ist. Diese Rechtsverletzungen können den Staat selbst oder Privatpersonen oder zuweilen auch beide zugleich betreffen. Wie die gegen den Staat begangenen Rechtsverletzungen (gemeiniglich Verbrechen genannt) untersucht und bestraft werden, lehrt der Criminalproceß (s. Criminalrecht), welcher auch die daraus zu gleicher Zeit etwa erwachsenen Ansprüche von Privatpersonen berücksichtigt oder zu einem abgesonderten Verfahren (in den Civilweg) verweist. Gestörte Rechtsverhältnisse von Privatpersonen werden dagegen im Wege des Civil- oder bürgerlichen Processes wiederhergestellt, und das vom Staate zum Zweck der Verwirklichung eines streitigen Rechtes zwischen zwei verschiedenen Personen (streitenden Theilen oder Parteien) vorgeschriebene gerichtliche Verfahren, welches an die Stelle der Selbsthülfe (s.d.) getreten ist, nennt man vorzugsweise Proceß (Proceß im eigentlichen oder engern Sinne). In der engsten Bedeutung versteht man unter einem Proceß endlich jeden einzelnen Rechtsstreit, der zur gerichtlichen Verhandlung gelangt ist. Die Lehre von der gerichtlichen Behandlung nicht streitiger Rechtssachen (Sachen der freiwilligen Gerichtsbarkeit) gehört ebenso wenig in die Proceßtheorie, als die Lehre von den Schiedsrichtern, welche von den Parteien freiwillig gewählt werden und keine Gerichtsbarkeit haben, wodurch sie ihrem Ausspruche die Vollziehung sichern könnten. Nach dem Gebiete seiner Gültigkeit wird der deutsche Proceß eingetheilt in gemeinen und besondern, je nachdem er in ganz Deutschland oder nur in einzelnen Staaten unsers Vaterlandes Gültigkeit erlangt hat. Als noch ein deutsches Reich und eine Reichsjustizgewalt vorhanden war, verstand man unter gemeinem deutschen oder Reichsproceß, welches ganz gleichbedeutend war, den Inbegriff der von der reichsgesetzgebenden Gewalt aufgestellten und gültig anerkannten Proceßgesetze, welche in jedem deutschen Reichslande beobachtet werden sollten, wenn nicht besondere Landesproceßgesetze vorhanden waren. Mit dem deutschen Reiche mußte zugleich auch dieser Begriff der Form nach verschwinden, allein dem Wesen nach blieb er bestehen und noch heutiges Tags bilden die Grundsätze des gemeinen Processes ein vollständiges Rechtssystem und sind die Grundlage und ergänzende Quelle alles Proceßrechts. Eine andere wichtige Eintheilung des Processes ist die in den ordentlichen oder summarischen Proceß, je nachdem alle von den Gesetzen für ein regelmäßiges Proceßverfahren vorgeschriebenen Förmlichkeiten dabei beobachtet werden oder ein schnelleres, blos die wesentlichen Grundsätze berücksichtigendes Verfahren eintritt. Das letztere kann veranlaßt werden durch die Geringfügigkeit der Sachen an sich (Verfahren in geringfügigen Rechtssachen), durch besondere Klarheit der Ansprüche beim Executiv- und Wechselproceß, durch die Gefahr beim Verzuge und zur Verhütung der Selbsthülfe als Mandats-, Arrest- und Besitzproceß, durch den eigenthümlichen Zweck des eingeleiteten Verfahrens wie beim Provocations-, Edictal- und Concursproceß, oder endlich aus andern das Wohl des Staates oder des Privaten bezielenden Rücksichten, wohin das Verfahren in Policei-, Kammer-, Steuer-, Rechnungssachen, der Consistorialproceß gehört. Der Grundregeln des gemeinen deutschen Civilprocesses sind drei: 1) Es gibt in demselben kein Verfahren von amtswegen, d.h. wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter. Diese richterliche Unthätigkeit erstreckt sich nicht blos auf den Anfang des Verfahrens, sondern auch auf den ganzen Verlauf desselben. Der Richter hat immer nur das Vorbringen der Parteien entgegen zu nehmen und ihnen zur gehörigen Ausführung ihrer Behauptungen Gelegenheit zu verschaffen. Benutzen sie diese nicht, so ist das ihre Schuld und sie werden als Verzichtleistende auf das ihnen in dieser Beziehung zustehende Recht angesehen. Der Richter darf keine Nachforschungen über das Sachverhältniß anstellen und was nicht von den Parteien selbst aus freien Stücken zu seiner Kenntniß gebracht wird, ist für ihn als Richter gar nicht vorhanden. Man hat diese Eigenthümlichkeit des gerichtlichen Verfahrens mit dem passenden Namen der Verhandlungsmaxime belegt, weil Alles von den Verhandlungen der Parteien abhängt. Das entgegengesetzte Princip befolgt die Untersuchungsmaxime, nach welcher der Richter von amtswegen durch alle ihm zu Gebote stehende und erlaubte Mittel sich so genau als möglich über die gegenseitigen Befugnisse der Parteien zu unterrichten suchen muß; doch ist auch hier der Parteien unbenommen, Alles, was sie zu ihrer Vertheidigung für geeignet halten, dem Richter vorzutragen, und auf diesem Grundsatze beruht z.B. der preuß. Proceß. 2) Der Richter muß Jedem rechtliches Gehör schenken und darf Niemanden ungehört verdammen. 3) Kein Proceß darf mit der Execution beginnen. Diese Regel folgt schon aus der vorhergehenden, denn nur gerechten Ansprüchen hat der Staat seinen Schutz zugesagt; der Richter muß sich demnach zuvor von der Beschaffenheit derselben zu überzeugen suchen und darüber sein Urtheil aussprechen, ehe an eine zwangsweise zu bewirkende Realisirung derselben gedacht werden kann. Vermöge des Verzichtsprincips kann Jemand seine Rechte aber auch unvertheidigt lassen und dadurch eine Urtheilsvollstreckung gegen sich veranlassen. Ein wesentliches Erfoderniß des gemeinen deutschen Civilprocesses ist noch, daß die sämmtlichen Verhandlungen, welche bei Gelegenheit eines Rechtsstreites vorfallen, sei es, daß sie als Parteischrift eingereicht oder mündlich von den Streitenden zu Protokoll gegeben werden oder auch als richterliche Verfügungen erscheinen, schriftlich vorhanden sind und der Zeitfolge nach sorgfältig in eine Sammlung gebracht werden, die man Acten nennt. Dieses schriftliche Verfahren, wodurch das ursprünglich deutsche öffentliche und mündliche, welches durch Schnelligkeit und Kürze große Vorzüge hatte, allmälig verdrängt wurde, rührt von dem Eindringen des röm. und kanonischen Rechts und den geistlichen Gerichten her, welche im Mittelalter auch weltliche Streitigkeiten aller Art vor ihr Forum zu ziehen wußten. Die ursprünglichen deutschen Rechtsgewohnheiten verschwanden immer mehr, da sie mehr im Volke als in Gesetzbüchern lebten und erst seit dem 14. und 15. Jahrh. floß wieder eine einheimische Gesetzquelle für das Proceßrecht, die Reichsgesetze und die Gerichtsordnungen der Landesherren, auf welche nach Ausbildung der Landeshoheit die gesetzgebende Gewalt der frühern Schöffen übergegangen [579] war. Dadurch wurde das fremde Recht mit dem einheimischen zu einem Ganzen verschmolzen. Die wichtigsten Reichsgesetze für den Proceß sind die vom Kaiser Maximilian I. 1495 gegebene Kammergerichtsordnung und der jüngste zu Regensburg 1654 erlassene Reichsabschied. Das letztere Reichsgesetz machte es den Ständen des Reichs ausdrücklich zur Pflicht, bei ihren Gerichten so viel wie möglich die Normen des kammergerichtlichen Processes zu beobachten, und bildet noch heutiges Tages die Grundlage des gemeinrechtlichen Processes, da die spätere legislative Thätigkeit des Reichs sich mit bloßen Zusätzen begnügte. Durchgreifende Verbesserungen, so dringend nöthig sie auch waren, wurden so lange hinausgeschoben, bis endlich das morsche Gebäude des Reichs in sich selbst zusammenfiel. Ebenso wenig hat der deutsche Bund bis jetzt für die so höchst wünschenswerthe Einrichtung einer gleichförmigen Justizverfassung in Deutschland gethan. Unter den Particulargesetzgebungen zeichnete sich am frühesten die sächsische aus, welche selbst auf die Reichsproceßgesetze einen nicht unwichtigen Einfluß übte. Ihre wichtigsten Erzeugnisse, welche noch heutiges Tags praktische Gültigkeit haben, sind die Alte (von 1622) und die Erläuterte Proceßordnung (von 1724). Der preuß. Proceß erhielt seine jetzige Gestalt unter Friedrich dem Großen durch das vom Minister von Carmer ausgearbeitete Corpus juris Fridericianum, welches am 26. Apr. 1781 bekannt gemacht und nach Benutzung der eingekommenen Bemerkungen 1793 als Gesetz publicirt wurde. Mit der Gesetzgebung hielt anfangs die wissenschaftliche Bearbeitung der Proceßlehre nicht gleichen Schritt. Erst seit dem jüngsten Reichsabschiede bewegten sich auch die Proceßschriftsteller freier und da die Mehrzahl derselben sächs. Juristen waren, wurde der ihnen geläufige und überdem bereits sehr ausgebildete sächs. Proceß so mit dem gemeinrechtlichen vermischt, daß bald beide Elemente kaum noch geschieden werden konnten. Eine wahrhaft wissenschaftliche, systematische, philosophische Bearbeitung der Proceßtheorie finden wir aber erst in der neuesten Zeit.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 3. Leipzig 1839., S. 579-580.
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