Corpus juris

[476] Corpus juris heißt so viel als Rechts- oder Gesetzsammlung, wie deren viele bestehen und meist den Namen der Länder tragen, deren Rechte oder Gesetze sie enthalten; am bekanntesten sind aber das Corpus juris civilis, die Sammlung aller Materialien und Quellen des röm. Rechts, und das Corpus juris canonici, die nach dem Muster des vorigen gebildete Sammlung der Quellen des kanonischen oder Kirchenrechts. – Das Corpus juris civilis verdankt dem griech. Kaiser Justinian, 527–561, seine Entstehung, der zuerst eine neue Sammlung der ältern kais. Constitutionen oder Verordnungen veranstaltete, welche die frühern Sammlungen derselben ganz entbehrlich machen sollte, sich aber nicht bis auf unsere Zeit erhalten hat und als Codex vetus, d.h. der alte Codex, bezeichnet wird. Nach Beendigung derselben im I. 529 beauftragte er 530 den dabei thätig gewesenen berühmten Rechtsgelehrten Tribonian, mit Zuziehung von 16 andern, Auszüge des Brauchbaren aus den Schriften der angesehensten ältern Juristen zu besorgen und nach ihrem Inhalte geordnet, mit zeitgemäßen Verbesserungen zu einem Ganzen zu verarbeiten. Schon in drei Jahren war diese verzweifelte Arbeit, wie Justinian sie selbst nennt, fertig. Die Schriften von 39 Rechtsgelehrten waren ausgezogen, 2000 Abhandlungen in einen verhältnißmäßig kurzen Auszug von 50 Büchern gebracht, drei Mill. Zeilen bis auf 150,000 zusammengedrängt, und das auf diese Art entstandene, hauptsächlich für die Praxis bestimmte Werk ist jetzt unter dem Namen Pandekten als der wichtigste Theil des Corpus juris bekannt. Dem Bedürfnisse eines Lehrbuchs abzuhelfen, erhielt nun Tribonian Befehl, mit zwei andern Gelehrten ein kurzgefaßtes Handbuch oder Institutionen des gesammten Rechts auszuarbeiten, was ebenfalls im I. 533 bewirkt wurde, worauf beiden Werken gesetzliche Bestätigung ertheilt ward. Bald bemerkte aber Justinian bedeutende Mängel an dem alten Codex, daher auf seine Anordnung Tribonian jenen Codex 534 von Neuem durchsehen, verbessern und ihm die zahlreichen Verordnungen und Decisionen oder Entscheidungen beifügen mußte, welche Justinian zur Lösung mancher Schwierigkeiten in den Pandekten erlassen hatte, und so entstand noch in demselben Jahre eine neue Ausgabe, repetita praelectio, des Codex, welche mit Aufhebung des alten Codex gesetzliche Bestätigung erhielt. Hiermit waren zwar vor der Hand die Rechtssammlungen geschlossen, allein binnen der langen Zeit, die Justinian noch regierte, erließ er noch viele neue Verordnungen, wie die der spätern röm. Kaiser Novellen genannt, wodurch oft ganze Lehren abgeändert wurden und von denen die Justinian's von den sogenannten Glossatoren oder ital. Rechtslehrern aus dem 12. Jahrh. gesammelt und zum Theil mit Glossen oder Anmerkungen versehen wurden, wovon auch diese Bearbeiter des röm. Rechts ihren Namen erhalten haben; auch besitzen bei uns nur diese glossirten Theile verbindliche Kraft, denn nur sie waren zu der Zeit, wo das röm. Recht nach Deutschland einwanderte, in Gebrauch. Den Institutionen, Pandekten, dem Codex und den Novellen wurden nachher noch verschiedene neuere Verordnungen späterer röm. Kaiser und eine Sammlung lehnrechtlicher Gesetze und Gewohnheiten (liber feudorum) beigefügt, und diese Sammlung erhielt nun als Ganzes zuerst den Titel Corpus juris civilis von Dionysius Gothofredus zu Lyon, welcher ihm 1604 seiner zweiten Ausgabe derselben vorsetzte. Hat auch das Corpus juris nicht mehr allgemeine Gültigkeit in Deutschland, so dient es doch immer noch als vorzüglichste Hülfsquelle, wenn Gesetzbücher oder Herkommen eines Landes die Entscheidungsgründe in einem bestimmten Falle gar nicht oder mangelhaft angeben. – Das Corpus juris canonici besteht ebenfalls aus mehren Theilen, von denen das Decretum Gratiani ein von dem Benedictinermönche Gratian 1151 verfertigtes Handbuch ist, welches in einer Sammlung von Auszügen aus den damals gebräuchlichen Quellen des Kirchenrechts wahrscheinlich für das Kirchenrecht. Das sein sollte, was die Pandekten Justinian's für das Civilrecht waren. Dazu kamen die auf Gregor IX. Befehl gesammelten Decretalen oder päpstlichen Entscheidungen in fünf Büchern, eine Sammlung, welche 1234 dessen Kanzler Rainold von Pennaforte besorgte, und als sechstes Buch eine vollständige Sammlung aller seit Gregor IX. erfolgten Decretalen, welche Papst Bonifaz VIII. 1298 publicirte. Unter dem folgenden Papste Clemens V. entstand eine neue, aus den Beschlüssen der Synode zu Vienne, 1312, und den Decretalen des Papstes bestehende Sammlung, welche unter dem Namen Clementinae constitutiones, auch schlechthin Clementinen genannt, von dessen Nachfolger Johann XXII. im J. 1317 der Universität in Bologna übersendet und dort als Rechtsbuch angenommen ward. Hiermit blieb das Corpus juris canonici lange geschlossen, bis die Gerichte durch Einverleibung der von Johannes XXII. bis 1340 und von einem Gelehrten bis 1483 gemachten Sammlungen der neuern Decretalen unter dem Namen der Extravaganten in die corrigirte Ausgabe Gregor XIII. welche zu Rom 1582 erschien, auch ihnen gesetzliches Ansehen beizulegen, veranlaßt wurden.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1837., S. 476.
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