Naturwissenschaften

[721] Naturwissenschaften sind jene Disciplinen, die es mit Naturobjecten, d.h. mit den Gegenständen der äußern Erfahrung (s. d.), der mittelbaren Erkenntnis (s. d.) als solchen zu tun haben. Sie beschreiben die Eigenschaften der Objecte und erklären sie aus den gesetzmäßigen Verknüpfungen und Beziehungen der Dinge im Raume. Von der äußeren Wahrnehmung (s. d.) ausgehend und mit Hülfe der Grundbegriffe (Kategorien) des logischen Denkens bestimmen die Naturwissenschaften den Inhalt der äußeren Erfahrung in begrifflicher, nach Möglichkeit in mathematisch-quantitativer und causal-mechanischer Weise, dem Postulate nach Einheit und Geschlossenheit der Gedanken Rechnung tragend. Nicht das »An-sich« (s. d.), wohl aber die objectiv-allgemeinen, constanten Relationen der Dinge fallen in den Bereich der Naturwissenschaften. Den Ausdruck dieser Relationen bilden feste, eindeutige Gesetze (s. d.). Von den Naturwissenschaften sind die Geisteswissenschaften (s. d.) durch den Standpunkt der Betrachtung des Erfahrungsinhaltes zu unterscheiden. Die Naturphilosophie (s. d.) ergänzt die Ergebnisse der Naturwissenschaften.

Während die Naturwissenschaft des Altertums, des Mittelalters und eines Teiles der neueren Zeit, abgesehen von einzelnen empirischen und mathematischen Ergebnissen, vorwiegend speculativ und metaphysisch ist, kommt im 16. Jahrhundert die empirische, experimentelle (s. d.), mathematisch-quantitative[721] (s. d.) Methode auf, um immer mehr Boden zu gewinnen. Daß die Naturwissenschaft quantitativ und zugleich empirisch (nicht metaphysisch-transcendent) sein muß, betont energisch KANT, der auch die apriorischen (s. d.) Grundlagen der Naturwissenschaft (in synthetischen Urteilen a priori, (s. d.)) aufdeckt. »Ich behaupte aber, daß in jeder besondern Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist« (Met. Anf. d. Naturwiss. S. VIII; vgl. Üb. d. Fortschr. d. Metaphys. S. 128). »Eine rationale Naturlehre verdient... den Namen einer Naturwissenschaft nur alsdann, wenn die Naturgesetze, die in ihr zum Grunde liegen, a priori erkannt werden und nicht bloße Erfahrungsgesetze sind. Man nennt eine Naturerkenntnis von der ersteren Art rein; die von der zweiten Art aber wird angewandte Vernunfterkenntnis genannt« (Met. Anf. d. Naturwiss. S. VI). »Naturwissenschaft wird uns niemals das Innere der Dinge, d. i. dasjenige, was nicht Erscheinung ist..., entdecken; aber sie braucht dieses auch nicht zu ihren physischen Erklärungen« (Prolegom. § 57). SCHELLING dagegen weist der Naturforschung die Aufgabe zu, das Wesen der Dinge an sich selbst zu erkennen. »Wissenschaft der Natur ist an sich selbst schon Erhebung über die einzelnen Erscheinungen und Producte zur Idee dessen, worin sie eins sind und aus dem sie als gemeinschaftlichem Quell hervorgehen« (Vorl. üb. d. Meth. d. akad. Stud.3, 11, S. 264; vgl. Syst. d. tr. Ideal. S. 3 f.). Eine systematische Einteilung und Anordnung der Naturwissenschaften findet sich bei A. COMTE (s. Wissenschaft).

Von manchen wird zwischen Natur- und Geisteswissenschaften kein Unterschied gemacht, andere hingegen sehen nur in ersteren eigentliche Gesetzeswissenschaften. Während der Materialismus alle Geisteswissenschaften auf Naturwissenschaft zurückführen will, sehen einige Idealisten (s. d.) in den Naturwissenschaften nur einen Ausschnitt aus der allgemeinen Lehre vom Sein (Sein = Bewußt-Sein), oder auch der PsychologiePsychomonismus«). Nach anderen ist es die eine Gesamterfahrung, die, je nach dem S, je nach dem Standpunkt, Object der Natur- oder der Geisteswissenschaften wird.

Nach FECHNER abstrahiert die naturwissenschaftliche Betrachtung von aller qualitativen Bestimmtheit der Dinge, sie »objectiviert bloß quantitativ auffaßbare Bestimmungen unserer äußeren Wahrnehmungen als der Natur außer uns zukommend« (Tagesans. S. 234). HARMS unterscheidet scharf zwischen Natur- und Geschichtswissenschaft. »Natur und Geschichte sind... zwei Gebiete der Causalität der Dinge, ihrer Wirksamkeiten. Der Unterschied liegt in der Be dessen, was geschieht.« Die Natur ist das Reich der Bewegungsvorgänge, die Geschichte und Ethik das Reich der Willenskräfte (Psychol. S. 53 ff., 76 ff., 79). Den Unterschied der Natur- von den Geisteswissenschaften betont besonders WINDELBAND. Während die Naturwissenschaft es mit Abstractionen zu tun hat, hat die Geisteswissenschaft die volle Wirklichkeit zum Gegenstande, gegeben in einer Fülle von einzelnem, das nicht auf eine Naturgesetzmäßigkeit zurückzuführen ist (Gesch. u. Naturwiss. 1894, 2. A. 1900). Ähnlich RICKERT. Während die Geisteswissenschaften »Ereigniswissenschaften« sind, haben die Naturwissenschaften den Charakter von »Gesetzeswissenschaften«. Die naturwissenschaftliche Betrachtung will die Unendlichkeit der Dinge und ihrer Merkmale überwinden durch allgemeine Begriffe und Gesetze, mit Abstraction von allem Individuellen; dieses fällt dagegen der geschichtlichen Betrachtung zu (Grenz. d. naturwissensch. Begriffsbild.[722] 1896). Früher betont schon DILTHEY, daß die Geisteswissenschaften ein »eigenes Reich von Erfahrungen« haben, welches im innern Erlebnis seinen selbständigen Ursprung und sein Material hat (Einl. in d. Geisteswiss. I, 10). Das Material der Geisteswissenschaften bildet die »geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit« (l.c. S. 30). Tatsachen, Theoreme, Werturteile constituieren diese Wissenschaften. »Die Auffassung des Singularen, Individuellen bildet in ihnen so gut einen letzten Zweck als die Entwicklung abstracter Gleichförmigkeiten« (l.c. S. 33). Die Subjecte der Naturwissenschaften sind »Elemente, welche durch eine Zerteilung der äußeren Wirklichkeit, ein Zerschlagen, Zersplittern der Dinge nur hypothetisch gewonnen sind; in den Geisteswissenschaften sind es reale, in der innern Erfahrung als Tatsachen gegebene Einheiten« (l.c. S. 36; ähnlich MÜNSTERBERG, s. Geisteswissenschaften). – WUNDT erklärt: »Alle Naturforschung geht aus von der Sinneswahrnehmung.« Da aber die Vorstellungen der einzelnen Sinnesgebiete sieh einer durchgängigen Verbindung der Erscheinungen widersetzen, so ordnen wir sie unter allgemeine Begriffe (Log. II2, S. 272 ff.). »Die Naturwissenschaft abstrahiert geflissentlich von allen den Bestandteilen der Erfahrung, die dem erfahrenden Subject und der Art und Weise angehören, wie dieses sich zur Außenwelt und zu anderen Subjecten unmittelbar verhält. Sie betrachtet demnach die Natur als einen Inbegriff reiner Objecte und ihrer äußern Relationen« (Philos. Stud. XIII, 406). Die Naturwissenschaft »betrachtet die Objecte der Erfahrung in ihrer von dem Subject unabhängig gedachten Beschaffenheit«, vom Standpunkt der mittelbaren Erfahrung (Gr. d. Psychol5, S. 3). Sie abstrahiert nicht vom erkennenden Subject überhaupt, sondern von denjenigen Bestimmungen, die untrennbar vom Subject sind (l.c. S. 5). Der Grund für die Scheidung der Naturwissenschaften von den Geisteswissenschaften kann nur darin gesucht werden, »daß jede Erfahrung einen objectiv gegebenen Erfahrungsinhalt und ein erfahrendes Subject als Factoren enthält« (ib.). Zwei Betrachtungsweisen haben hier statt. Die eine ist die der Psychologie (s. d.), die zweite die der Naturwissenschaft. »Indem die Naturwissenschaft zu ermitteln sucht, wie die Objecte ohne Rücksicht auf das Subject beschaffen sind, ist die Erkenntnis, die sie zustande bringt, eine mittelbare oder begriffliche: an Stelle der unmittelbaren Erfahrungsobjecte bleiben ihr die aus diesen Objecten mittelst der Abstraction von den subjectiven Bestandteilen unserer Vorstellungen gewonnenen Begriffsinhalte. Diese Abstraction macht aber stets zugleich hypothetische Ergänzungen der Wirklichkeit erforderlich« (l.c. S. 6). Nach G. GLOGAU gehen Natur- und Geisteswissenschaften einander als verschiedene »Betrachtungsweisen« gleicher Objecte parallel. Die eine Betrachtungsweise »faßt den Inhalt der in der sinnlichen Anschauung gegebenen Welt (in bewußter oder unbewußter Abstraction) als ein äußeres Geschehen, während die andere jeden sinnlichen Vorgang als Zeichen und Ausdruck eines an sich verborgenen, inneren Erlebens zu deuten sucht« (Abr. d. philos. Grundwiss. I, 34 ff.). – Der Positivismus (s. d.), die Philosophie der reinen Erfahrung (s. d.), will nur exacte »Beschreibung« (s. d.), nicht hypothetische Naturbegriffe. So COMTE, E. MACH, OSTWALD u. a. – O. CASPARI betont: »Die Naturwissenschaft soll in ihren Specialgebieten descriptiv und nur insoweit erklärend verfahren, als es das oberste Princip der jedesmaligen Specialwissenschaft erfordert. Ein Übergehen dieser Restriction führt in das Gebiet der Naturphilosophie, von der sich naturwissenschaftliche Fachleute als solche fernhalten sollen« (Grund- u. Lebensfrag. S. 13). DU PREL bemerkt ähnlich: »Es ist... gar nicht Aufgabe der[723] Naturwissenschaft, das Wesen der Naturkräfte zu entdecken; ihre Aufgabe ist erfüllt, wenn das Gesetz des Eintritts erkannt ist. Das übrige ist Sache der Metaphysik« (Mon. Seelenl. S. 4). Im gleichen Sinne lehren schon SCHOPENHAUER, HELMHOLTZ, die Kantianer u. a. Vgl. Psychologie.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 721-724.
Lizenz:
Faksimiles:
721 | 722 | 723 | 724
Kategorien:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Der Condor / Das Haidedorf

Der Condor / Das Haidedorf

Die ersten beiden literarischen Veröffentlichungen Stifters sind noch voll romantischen Nachklanges. Im »Condor« will die Wienerin Cornelia zwei englischen Wissenschaftlern beweisen wozu Frauen fähig sind, indem sie sie auf einer Fahrt mit dem Ballon »Condor« begleitet - bedauerlicherweise wird sie dabei ohnmächtig. Über das »Haidedorf« schreibt Stifter in einem Brief an seinen Bruder: »Es war meine Mutter und mein Vater, die mir bei der Dichtung dieses Werkes vorschwebten, und alle Liebe, welche nur so treuherzig auf dem Lande, und unter armen Menschen zu finden ist..., alle diese Liebe liegt in der kleinen Erzählung.«

48 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon