Bolzāno, Bernhard

[186] Bolzāno, Bernhard, kath. Theolog, Philosoph und Mathematiker, geb. 5. Okt. 1781 in Prag aus einer ursprünglich italienischen Familie, gest. 18. Dez. 1848, zeichnete sich schon als Student durch Aufstellung einer der später von Legendre gegebenen ähnlichen Parallelentheorie (Prag 1804) aus, wurde 1805 Professor der Religionsphilosophie an der Universität seiner Vaterstadt und geriet durch seine freimütigen Vorträge wie durch seine eifrig gehörten Predigten bald so sehr in den Ruf der Heterodoxie, daß infolge einer von jesuitischer Seite ausgegangenen Denunziation nach Rom eine Untersuchung über ihn verhängt und, da er den Widerruf von vier als ketzerisch bezeichneten Punkten verweigerte, 1820 unter dem Eindruck der allgemeinen Furcht vor Studentenverschwörungen seine Entsetzung vom Lehramt ausgesprochen wurde. Seitdem lebte er auf dem Landgut einer ihm befreundeten Familie in Techobuz bei Prag, zuletzt wieder in Prag. Seine Schriften wurden wegen der damals in Österreich herrschenden Zensur teils gar nicht, teils nur mit Schwierigkeiten und größtenteils ohne seinen Namen von Freunden herausgegeben. B. gehörte als Theolog der moralistisch-rationalen Richtung der Sailer, Reinhard u. a. an; bei dem Inhalt der Glaubenslehre galt ihm die historische Glaubwürdigkeit weniger als die theoretische und praktische Vernunftmäßigkeit. Als Philosoph fand er sich am meisten von Leibniz befriedigt, dessen Monadenlehre er seiner Metaphysik zu Grunde legte; doch ist er auch von Kant beeinflußt worden. Als Kanzelredner erinnerte er durch seine mehr philosophische als homiletische Vortragsweise an Schleiermacher. Seine vorzüglichsten Schriften sind: »Lehrbuch der Religionswissenschaft« (Sulzbach 1834, 4 Bde.); »Wissenschaftslehre. Versuch einer neuen Darstellung der Logik« (das. 1837, 4 Bde.), sein Hauptwerk, zu dem Heinroth eine empfehlende Vorrede schrieb; »Athanasia, oder Gründe[186] für die Unsterblichkeit der Seele« (das. 1827, 2. Aufl. 1838); die Streitschriften: »B. und seine Gegner« (das. 1839); die »Prüfung der Philosophie von Hermes« (1840), gegen die Hermesianer; die nach seinem Tod erschienene Schrift »Was ist Philosophie?« (Wien 1849); die »Erbauungsreden an die akademische Jugend« (2. Aufl., Sulzbach 1839), von denen nach seinem Tode weitere 4 Bände (Prag 1849–52) und eine neue Folge (Wien 1884, Bd. 1) erschienen. – Als Mathematiker war B. ausgezeichnet durch die Schärfe, mit der er die Grundbegriffe definierte, und durch die großen Anforderungen, die er an die Strenge der Beweise stellte. In dieser Beziehung ist er neben Gauß, Cauchy und Abel einer der hauptsächlichsten Vorläufer von Weierstraß. Er entwickelte die erste klare Auffassung der Stetigkeit und unterschied zuerst zwischen dem Maximum einer Funktion, d. h. dem größten Werte, den die Funktion wirklich annimmt, und zwischen der obern Grenze, d. h. dem Werte, dem die Funktion beliebig nahe kommt, ohne ihn jemals wirklich zu erreichen. Vgl. seinen »Rein analytischen Beweis des Lehrsatzes« (Abhandlungen der Böhmischen Gesellschaft, Prag 1817) und seine »Paradoxien des Unendlichen« (2. Aufl., Berl. 1890). Bolzanos Selbstbiographie wurde herausgegeben von seinem Schüler und Schicksalsgenossen M. J. Fest (neue Ausg., Wien 1875); Wißhaupt, Skizzen aus dem Leben Bolzanos (Leipz. 1849); Rob. Zimmermann, Über Bolzanos wissenschaftlichen Charakter etc. (Sitzungsberichte der kaiserl. Akademie der Wissenschaften zu Wien, 1849); Palágy, Kant und B. (Halle 1902).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 3. Leipzig 1905, S. 186-187.
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