Giobérti

[852] Giobérti (spr. dscho-), Vincenzo, ital. Staatsmann, geb. 5. April 1801 in Turin, gest. 26. Okt. 1852 in Paris, studierte in Turin Theologie und Philosophie und wurde 1825 Priester und 1831 Kaplan des Königs Karl Albert. Wegen seiner freisinnigen Richtung ward er aus seinem Vaterland verwiesen und lebte bis Ende 1834 in Paris, hierauf bis zum Herbst 1845 in Brüssel als Lehrer an einem Privatinstitut, dann abermals bis zum Herbst 1847 in Paris. Seine philosophischen Schriften: »Teorica del sovrannaturale« (Capolago 1838, 2. Aufl. 1850), »Introduzione allo studio della filosofia« (1839, 4 Bde.; 2. Aufl., Brüssel 1844;[852] sein Hauptwerk), seine Abhandlungen: »Del bello« (1841), »Del buono« (1842, beide zusammen gedruckt Flor. 1853) und die Kritik der Philosophie seines Landsmanns Rosmini (s.d.): »Errori filosofici di Antonio Rosmini« (1842, 3 Bde.), zeichneten sich durch Gedankenreichtum und wissenschaftliche Durchführung aus, aber erst sein politisches Werk »Del primato morale e civile degli Italiani« (Brüssel 1843, 2. Aufl. 1845), wozu noch die gegen die Schäden der Kirche und die Jesuiten gerichteten »Prolegomeni« (das. 1845) kamen, machte seinen Namen durch ganz Italien berühmt. Der Grundgedanke dieses Buches ist die Wiederherstellung der Größe und Macht, der Freiheit und Einheit Italiens durch einen Staatenbund, in dem das Papsttum die Führung haben sollte. Mit seinem Werk »Il Gesuita moderno« (Par. 1846–47, 8 Bde.; deutsch von Cornet, Leipz. 1849, 3 Bde.) beantwortete er die wegen der »Prolegomeni« gegen ihn gerichteten Angriffe. Im April 1848 trat G. in die sardinische Kammer, wurde 16. Mai zum Präsidenten gewählt, war im Sommer kurze Zeit Minister ohne Portefeuille im Kabinett Casati und bildete nach dem Sturze des Ministeriums Alfieri 15. Dez. 1848 eine neue Regierung, in der er selbst den Vorsitz und die auswärtigen Angelegenheiten übernahm. Trotz des für ihn günstigen Ausfalls der Wahlen im Januar 1849 mußte er, als sein kühner Versuch, mit dem Papst und dem Großherzog von Toskana eine Verständigung herbeizuführen, gescheitert war, schon 21. Febr. seine Entlassung nehmen. Im Frühjahr 1849 wurde G. von Pinelli als Gesandter nach Frankreich geschickt; als seine Mission erfolglos verlief, geriet er mit Pinelli in scharfen Konflikt, blieb in Paris und lehnte die abermals auf ihn gefallene Wahl in die Kammer ab. Er nahm seine schriftstellerische Tätigkeit wieder auf und veröffentlichte noch sein freimütiges Werk »Del rinnovamento civile d'Italia« (Par. 1851, 2 Bde.) und seine »Operette politiche« (Tur. 1851, 2 Bde.). Als Philosoph setzte G. dem angeblich »heidnischen« und »protestantischen« System Rosminis, dessen dem Cartesianismus verwandter »Psychologismus« zum Sensualismus und Nihilismus führe, das eigne angeblich einzig »katholische« und »rechtgläubige« unter dem Namen des »Ontologismus« entgegen. Während jenes vom »Bewußtsein«, also einer bloßen Erscheinung, ausgehe und daher niemals weder zum wahren Sein noch zum wahren Wissen gelange, stellt sich dieses von Anbeginn auf den Boden des wahren Seins, d. h. Gottes als des absoluten Prinzips, um von diesem absteigend durch die Schöpfung zum Dasein, d. h. menschlichen Sein, und von diesem im aufsteigenden Prozeß wieder zu Gott zu gelangen. Jenes ist zwar für die gegenwärtige, durch die erste Sünde geschwächte Fassungskraft unerreichbar, wird aber durch die Offenbarung und den Glauben an diese ersetzt, deren Reproduktion in einer durch Reflexion sich ergebenden Reihe einander übergeordneter Erkenntnisstufen der Inhalt der Philosophie und deren Abschluß, die Wiedererlangung der ursprünglichen Einheit des göttlichen und menschlichen Schauens, Seligkeit ist. Aus seinem Nachlaß erschienen: »Opere inedite« (Turin 1856–63, 11 Bde.), darunter: »Della filosofia della rivelazione«, »Della riforma cattolica della Chiesa«, »Della protologia« (2 Bde.) und sein Briefwechsel. Vgl. Massari, Vita di Vincenzo G. (Flor. 1848); Spaventa, La filosofia di G. (Neap. 1864, 2 Bde.); Berti, Di V. G., riformatore politico e ministro (Flor. 1881); Macchi, Le contraddizioni di V. G. (Rom 1901).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 852-853.
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