Heimatskunde

[84] Heimatskunde als grundlegender Vorkursus des erdkundlichen Unterrichts in Schulen gilt heute als unerläßliche Forderung jeder gesunden Pädagogik. In älterer Zeit pflegte der geographische Unterricht, der überhaupt erst seit dem 17. Jahrh. und zunächst fast nur in höhern Schulen als selbständiges Lehrfach auftritt, mit dem Globus und den allgemeinsten Begriffen zu beginnen und mit Vorliebe bei dem Fremden und Fernen zu verweilen. Demgegenüber bezeichnet jedoch schon Comenius es als naturgemäßen Anfang der Geographie, wenn die Kinder aus Anschauung und Erfahrung lernen, was Berg, Tal, Acker, Fluß etc. sei, und J. J. Rousseau im »Emile« verspottet die Lehrer, die nach hergebrachter Unmethode dem Schüler über Welt und Erde gelehrte Vorträge halten, während dieser in seiner nächsten Umgebung noch nicht Bescheid weiß. Aber erst seit dem Ausgange des 18. Jahrh. ist dieser Gedanke durch die sogen. Philanthropen Pestalozzi, Dinter, Niemeyer u. a. zu allgemeiner Anerkennung gelangt. In der deutschen Volksschule bürgerten die H. besonders Harnisch und Diesterweg ein. Jener stufte seine Weltkunde (Geographie, Geschichte und Naturkunde) ab in H., Vaterlandskunde und Erdkunde. Dieser forderte, daß jeder Lehrer streben sollte, seine Umgebung durch eigne Forschung gründlich kennen zu lernen, um seine Schüler zu deren liebevollem Verständnis anleiten zu können. Karl Ritter vertrat vom Standpunkte der wissenschaftlichen Erdkunde aus dieselbe Ansicht: »Die natürlichste Methode ist diejenige, die das Kind zuerst in der Wirklichkeit orientiert und zu fixieren sucht, auf der Stelle, wo es leibt und lebt, auch sehen lehrt«. Übrigens ist leicht zu erkennen, daß die H., richtig mit Geist und Gemüt betrieben, nicht nur der Erdkunde dient. Ihr Wert für Erweckung des Verständnisses und die Liebe für die umgebende Natur liegt auf der Hand; und wo der Heimatsort irgend dafür Anlaß bietet, wird sie auch die Elemente geschichtlicher Bildung schaffen. Nicht mit Unrecht hat man die H. deshalb als gemeinsamen Stamm bezeichnet, aus dem im Fortgange des Schullebens Erdkunde, Naturkunde und Geschichte als selbständige Äste hervorwachsen; nur daß man aus diesem Bilde nicht die Folge ziehen darf, sie mit zu vielen naturkundlichen und geschichtlichen Einzelheiten zu belasten. Ebenso ergibt sich für tiefere Auffassung, daß die H. nicht mit der Elementarstufe aus der Schule verschwinden darf, sondern als fruchtbares Element dem Unterricht bis zu seinen höchsten Stufen erhalten bleiben muß. Dies freilich nicht in Gestalt einer besondern Disziplin, sondern als eine alle Lehrfächer durchdringende liebevolle Pflege des Heimatsinnes, der besonders Schulausflüge, örtliche Gedenktage, Feste etc. als Anlässe und Hilfsmittel dienen. Es ist erfreulich, konstatieren zu dürfen, daß zur Unterstützung der H. in diesem weitern Sinn eine reiche lokale Literatur heimatkundlicher Werke bereits in vielen deutschen Kreisen und Städten besteht und jährlich wächst. Für das Allgemeine des Gegenstandes vgl. außer den betreffenden Abschnitten umfassenderer pädagogischer Lehr- und Handbücher: Geistbeck, Geschichte der Methodik des geographischen Unterrichts (in Kehrs »Geschichte der Methodik«, Bd. 1, 2. Aufl., Gotha 1887); Finger, Anleitung zum Unterricht in der H. (8. Aufl. von Matzat, Berl. 1900); Conwentz, Die H. in der Schule. Grundlagen und Vorschläge (das. 1904).[84]

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Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 9. Leipzig 1907, S. 84-85.
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