Oberrechnungskammer

[871] Oberrechnungskammer (Oberster Rechnungshof, Staatsrechnungshof, franz. Cour des comptes), die Staatsbehörde zur Kontrolle des gesamten Staatshaushalts durch Prüfung und Feststellung der Rechnungen über Einnahme und Ausgabe von Staatsgeldern, über Ab- und Zugang von Staatseigentum und über die Verwaltung der Staatsschulden. Die Einrichtung der O. war schon dem absoluten Staat bekannt, indem die erste O. 1707 für Sachsen ins Leben trat, ein Beispiel, dem 1717 Preußen folgte. Die preußische O. in Potsdam ist eine selbständige Behörde, die unmittelbar unter dem König steht. Ebenso ist in Baden (Gesetz vom 25. Aug. 1876) die O. nur dem Landesherrn untergeordnet und der Ministerialverwaltung gegenüber selbständig gestellt. Im Königreich Sachsen (Verordnung vom 4. April 1877) ist die O. dem Gesamtministerium untergeordnet. In Bayern steht »der oberste Rechnungshof«, in Württemberg die O. unter dem Finanzministerium. Die preußische O. setzt sich zusammen aus einem Chefpräsidenten, dem Vizepräsidenten und den Räten, die zu zwei Drittel Geheime Oberregierungsräte und zu einem Drittel Geheime Regierungsräte sind. Die Mitglieder der O. sind, namentlich in Hinsicht auf ihre Absetzbarkeit und Versetzbarkeit, den Richterbeamten gleichgestellt. Die O. hat die verfassungsmäßige Kontrolle der Staatsrechnungen durch den Landtag zu unterstützen und vorzubereiten; sie hat die Rechnungen über den Staatshaushaltsetat zu prüfen und festzustellen. Außerdem hat sie die allgemeine Rechnung über den Staatshaushalt, bevor sie dem Landtag vorgelegt wird, mit ihren Bemerkungen zu versehen. Die Mitglieder der O. dürfen nicht Mitglieder des Landtags sein. Maßgebend für die O. sind die Instruktion vom 18. Dez. 1824, das Gesetz vom 27. März 1872 über die Einrichtung und die Befugnisse der O. und das Regulativ über den Geschäftsgang bei der O. vom 22. Sept. 1873, ergänzt durch Allerhöchsten Erlaß vom 11. Mai 1877. Der Artikel 72 der (norddeutschen Bundes- und) deutschen Reichsverfassung schreibt vor, daß über die Verwendung aller Einnahmen des Reiches dem Bundesrat und dem Reichstag durch den Reichskanzler jährlich zur Entlassung Rechnung zu legen ist. Ein Gesetz vom 4. Juli 1868 übertrug die Kontrolle des gesamten Bundeshaushalts der preußischen O. unter der Benennung »Rechnungshof des Norddeutschen Bundes«, jetzt Rechnungshof des Deutschen Reiches. Für denselben gilt eine Instruktion vom 5. März 1875.

In Österreich-Ungarn besteht ein oberster Rechnungshof für die zisleithanische Staatskontrolle in Wien, die durch kaiserliche Verordnung vom 21. Nov. 1866 ins Leben gerufen ward. Für die Länder der ungarischen Krone besteht ein besonderer königlicher Staatsrechnungshof in Budapest. Endlich ist ein k. k. gemeinsamer oberster Rechnungshof für die Finanzverwaltung der gemeinsamen Ministerien in Wien eingesetzt. Diese Behörden sind unmittelbar dem Kaiser untergeordnet und von den Ministerien unabhängig. In England ist die Prüfung der Staatsrechnungen Sache der Schatz- und Rechnungskammer (Exchequer and audit office). In Frankreich besteht ein Rechnungshof (Cour des comptes) in Paris, der nach Art eines obersten Gerichtshofs eingerichtet ist (Gesetz vom 16. Sept. 1807). Seine Mitglieder werden vom Präsidenten der Republik auf Lebenszeit[871] ernannt. Dagegen werden in Belgien (Gesetz vom 29. Okt. 1846) die Mitglieder der Cour des comptes von der Kammer der Repräsentanten jeweilig auf sechs Jahre gewählt. In Italien (Gesetze vom 14. Aug. 1862 und 15. Aug. 1867) erfolgt die Ernennung der Mitglieder des Rechnungshofs (Corte dei conti) durch den König, doch können dieselben nur mit Zustimmung der Kammern versetzt oder ihrer Funktionen enthoben werden. Vgl. Hertel, Die preußische O. (Berl. 1884, Ergänzungsheft 1890); v. Czoernig, Darstellung der Einrichtungen über Budget, Staatsrechnung und Kontrolle in Österreich, Preußen, Sachsen, Bayern, Württemberg, Baden, Frankreich und Belgien (Wien 1866); G. Seidler, Der Staatsrechnungshof Österreichs (das. 1884); v. Hock, Die Finanzverwaltung Frankreichs (Stuttg. 1857); R. v. Kaufmann, Die Finanzen Frankreichs (Leipz. 1882; franz. Übersetzung von Dulaure, Par. 1884).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 14. Leipzig 1908, S. 871-872.
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