Religionsgeschichte

[787] Religionsgeschichte, die Darstellung des Verlaufs, innerhalb dessen die Religion bei den einzelnen Völkern und Völkerfamilien und durch sie in der Menschheit sich in aufsteigender Linie entwickelt und schließlich die Formen und Stufen der bloßen Naturreligion (s. d.) überwunden und sittliche Bestimmtheit erreicht hat. Wie die vergleichende Religionswissenschaft (s. d.) überhaupt, so ist auch die R. insonderheit mit der Zeit ein Zweig der allgemeinen Kulturgeschichte geworden und wird darum meist nicht mehr vom ausschließlich theologischen, sondern zugleich vom anthropologischen und ethnologischen Standpunkt aus behandelt. Auch der Unterschied der einzelnen Konfessionen geht Hand in Hand mit tiefer liegenden Verschiedenheiten in der theoretischen Auffassung und praktischen Behandlung des Lebens, so daß sich doch auch die Theologie immer dringlicher auf religionsgeschichtliche Studien verwiesen sieht. Zu letzterm treibt jetzt vornehmlich die Erkenntnis von der tiefgehenden Berührung der israelitisch-jüdischen und der christlichen Religion mit den ihnen zeitlich und örtlich nahestehenden Religionen, vor allem der babylonischen, persischen und griechischen Religion, von der Beeinflussung jener durch diese, und die Einsicht in die Unmöglichkeit, das Christentum samt seiner israelitischen Vorstufe den andern Religionen als eine nicht nur dem Werte, sondern auch der Art nach völlig verschiedene Erscheinung gegenüberzustellen. Damit ergibt sich die von einer theologischen Gruppe der Gegenwart vertretene Losung einer »religionsgeschichtlichen Methode« in der Theologie, wobei es einmal auf die Betrachtung des Christentums nach den für alle geschichtliche Forschung geltenden Grundsätzen, besonders auf das Verständnis der alt- und neutestamentlichen Religion aus jenem allgemeinen religionsgeschichtlichen Zusammenhang heraus, sodann auf eine maßgebende Verwendung der Religionsvergleichung bei der Frage nach Bedeutung und Wahrheit des Christentums abgesehen ist. Grundlegende Verdienste um die R. hat sich Max Müller (s. d. 21) erworben: neben ihm ist vor allem der Holländer Tiele (s. d.) zu nennen. Außer des letztern »Kompendium der R.« (deutsch von Weber; 3. Aufl., umgearbeitet von Söderblom, Bresl. 1903) bieten vom Standpunkte der heutigen Forschung aus Gesamtdarstellungen: v. Orelli, Allgemeine R. (Bonn 1899) und vornehmlich das in Verbindung mit einer Reihe Fachgelehrter von Chantepie de la Saussaye herausgegebene »Lehrbuch der R.« (3. Aufl., Tübing. 1905). Allgemeinverständlich gehalten sind die Werke von Kuenen, Volksreligion und Weltreligion (Leid. 1882; deutsch, Berl. 1883); Bousset, Das Wesen der Religion, dargestellt an ihrer Geschichte (3. Aufl., Halle 1906); Wurm, Handbuch der R. (Kalw 1904); Söderblom, Die Religionen der Erde (Halle 1905); O. Pfleiderer, Religion und Religionen (Münch. 1906), und Falke, Buddha, Mohammed und Christus (2. Aufl., Gütersl. 1897–1900, 2 Tle.). Einführenden Charakter tragen die Arbeiten von A. Réville, Prolégomènes de l'histoire des religions (4. Aufl., Par. 1886), und Jastrow, The Study of religion (Lond. 1901). Die Beziehungen der biblischen Religion zu den sie umgebenden Religionen sind erörtert bei E. Schrader, Die Keilinschriften und das Alte Testament (3. Aufl., bearbeitet von Zimmern und Winckler, Berl. 1903); Gunkel, Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen Testaments (Götting. 1903); O. Pfleiderer, Das Christusbild des urchristlichen Glaubens in religionsgeschichtlicher Beleuchtung (Berl. 1903); A. Jeremias, Das Alte Testament im Lichte des alten Orients (2. Aufl., Leipz. 1906) und Babylonisches im Neuen Testament (das. 1905). Der prinzipiellen Untersuchung über die Bedeutung der religionsgeschichtlichen Forschung für die christliche Theologie sind die Schriften von Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums und die R. (Tübingen 1901), Reischle, Theologie und R. (das. 1904), und Clemen, Die religionsgeschichtliche Methode in der Theologie (Gieß. 1904) gewidmet. Außerordentliche Förderung brachten den religionsgeschichtlichen Studien die in Großbritannien veranstalteten, von Forschern verschiedener Nationalität gehaltenen und dann meist in mehreren Sprachen veröffentlichten Hibbert- und Gifford-Vorlesungen. Der R. dienen die Zeitschriften »Annales du Musée Guimet« (Par.), »Revue de l'histoire des religions« (hrsg. von J. Réville, das., seit 1880) und »Archiv für Religionswissenschaft« (begründet von Achelis, jetzt hrsg. von Dieterich, Leipz., seit 1898), sowie die »Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments« (hrsg. von Bousset und Gunkel, Götting. 1903 ff.) und die »Religionsgeschichtlichen Versuche und Vorarbeiten« (hrsg. von Dieterich und Wünsch, Gießen 1903 ff.). Seit 1897 werden internationale Kongresse für allgemeine R. gehalten. Vgl. auch die Literaturberichte von Pünjer, Furrer, Tiele, Lehmann und Beer im »Theologischen Jahresbericht« (seit 1881). Weiteres s. Religion und Religionswissenschaft.[787]

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 16. Leipzig 1908, S. 787-788.
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