Sainte-Beuve

[433] Sainte-Beuve (spr. ßängt'böw'), Charles, franz. Dichter und berühmter Kritiker, geb. 23. Dez. 1804 in Boulogne sur-Mer, gest. 13. Okt. 1869 in Paris, studierte Medizin, ward aber bei seiner hervorragenden Begabung für Poesie bald ein eifriges Mitglied des sich um Victor Hugo scharenden romantischen Cénacle. Berühmt wurde er schon durch sein erstes Werk: »Tableau de la poésie française an XVI. siècle« (1828, vermehrte Ausg. 1876), worin er auf Kosten des Malherbe und Boileau Ronsard wieder zu Ehren brachte. Dann schrieb er unter dem Pseudonym Joseph Delorme einen Band »Poésies«, denen die »Consolations« und »Pensées d'août« folgten (1829–30 und 1837), mit der Lebensbeschreibung des angeblichen Autors. Dunkle, unbestimmte Sehnsucht, überwallendes Gefühl und ein Übermaß von Selbstzergliederung machen den Helden zu einem Geistesverwandten des Werther und René; doch ist in ihnen noch viel Unfertiges und Schwankendes, ein Abbild seiner äußern Schicksale. Nach der Julirevolution schwamm er eine Zeitlang mit dem Saint-Simonismus, schrieb am »Globe« und »National« und stand im Bann Lamennais', wie der sonderbare, ziemlich bedenkliche Roman »Volupté« (1834, zuletzt 1877) beweist. Erst mit seiner Anstellung an der »Revue des Deux Mondes«, wo er die 1829 begonnenen literarhistorischen Arbeiten fortsetzte, gelangte er in sein richtiges Fahrwasser. 1837 überwarf er sich mit V. Hugo und ging nach Lausanne; aus den dort gehaltenen Vorlesungen ist sein großes Werk: »Histoire de Port-Royal« (1840–48, 3 Bde.; 6. Aufl. 1901, 7 Bde.) hervorgegangen. 1810 erhielt er die Stelle eines Konservators an der Bibliothek Mazarin; 1845 wurde er an Delavignes Stelle zum Mitglied der Akademie ernannt. 1848 verließ er Frankreich aufs neue und hielt in Brüssel die Vorträge, die er zu dem Werke »Chateaubriand et son groupe« (1860, 2 Bde.; dann 1873) ausgestaltet hat. Als Napoleon III. sich des Thrones bemächtigt hatte, erhielt S. die Professur der lateinischen Poesie am Collège de France; indessen riefen seine Vorlesungen unter den republikanisch gesinnten Studenten so stürmische Kundgebungen der Unzufriedenheit hervor, daß sie geschlossen werden mußten. Nicht viel länger dauerte seine Lehrtätigkeit an der Normalschule (1857 bis 1861). Von nun an privatisierte er. Der Kaiser belohnte seine guten Dienste 1865 durch Ernennung zum Senator. Als solcher trat er wiederholt für die Freiheit der Forschung und der Presse ein. In den »Causeries du lundi«, einer Sammlung seiner in verschiedenen Zeitschriften erschienenen Feuilletonartikel (1851–61, 15 Bde.), zeigt sich aufs glänzendste seine Geschicklichkeit in der Schätzung und Auffindung des Charakteristischen, sein seines Gefühl für die Geistesrichtung der Zeit, seine Fähigkeit, sich in Seele und Charakter der Persönlichkeiten zu versetzen; dazu ein glänzender Stil, eine reiche, unerschöpfliche, dichterische Sprache. Von andern Werken nennen wir: »Poésies complètes« (1863, 2 Bde.; zuletzt 1879); »Critiques et portraits littéraires« (1832–39, 5 Bde.); »Portraits littéraires« (1844, 2 Bde.; neue Ausg. 1864, 3 Bde.); »Portraits contemporains« (1846, 2 Bde.; neue Ausg. 1871, 5 Bde.); ferner: »Nouveaux lundis« (1863–72, 13 Bde.; vgl. dazu die »Table alphabétique« von Giraud, 1903); »P. J. Proudhon, sa vie et sa correspondance« (1867, 5. Ausg. 1875). Eine Auswahl biographischer Kapitel aus den »Causeries du lundi« erschien deutsch u. d. T.: »Menschen des 18. Jahrhunderts« (Chemn. 1880). Eine Selbstbiographie Sainte-Beuves gab Troubat heraus u. d. T.: »Souvenirs et indiscrétions« (1872). 1873 erschien eine Sammlung der »Lettres à la princesse« (Mathilde), denen die »Correspondance de Ch. A. S. 1822–1865« (1877–78, 2 Bde.), die »Nouvelle correspondance« (1880), die »Lettres inédites à Collombet« (1903) und die »Correspondance inédite avec M. et Mme. Olivier« (1904) folgten. Vgl. Levallois, S., l'œuvre du poëte, etc. (Par. 1872); Haussonville, S., sa vie et ses œuvres (1875); Pons, S. et ses inconnues (1879); Morand, Les jeunes années de S. (1895); Spoelberch de Lovenjoul, S. inconnu (1901); G. Michaut, S. avant les Lundis (Freiburg i. d. Schw. 1903). Etudes sur S. und Le livre d'amour de S. (beide Par. 1904); Séché, Sainte-Beuve (1904, 2 Bde.); »Le livre d'or de S.« (1905); Bertrin, S et Chateaubriand (1906); G. Simon, Le roman de S. (1906).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 17. Leipzig 1909, S. 433.
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