Viehseuchengesetze

[143] Viehseuchengesetze, die in den meisten Kulturstaaten erlassenen Gesetze (oder gleichwertige Verordnungen) zur Bekämpfung ansteckender Tierkrankheiten. Deutschland und Österreich-Ungarn haben zuerst ein Gesetz zur Bekämpfung der Rinderpest (1868, 1869 und 1872) erlassen. Dann ging Preußen mit einem allgemeinen Viehseuchengesetz voran (1875), an das sich das »Reichsgesetz zur Abwehr und Unterdrückung von Viehseuchen« vom 23. Juni 1880 anschloß. Dieses deutsche Viehseuchengesetz, neben dem das Gesetz betreffend Rinderpest von 1872 in Kraft blieb, ist vorbildlich für die Tierseuchenbekämpfung auch in andern Staaten geworden. 1880 wurden der gesetzlichen Bekämpfung unterworfen: Milzbrand, Tollwut, Rotz (der Pferde), Maul- und Klauenseuche, Lungenseuche (der Rinder), Pocken (der Schafe), Beschälseuche (der Pferde) und Bläschenausschlag, Räude (der Pferde und Schafe, nicht aber der Hunde). Durch die Novelle von 1906 sind hinzugetreten: Rauschbrand, Rotlauf, Schweineseuche, Schweinepest, Tuberkulose der Rinder, Geflügelcholera und Hühnerpest (s. diese Artikel). Die allgemeinen Maßregeln geben den Landesbehörden weitgehende Befugnisse, vorbeugende Anordnungen zu treffen sowohl an der Landesgrenze als für inländische Bezirke. Danach kann z. B. der Reichskanzler vorübergehend auch Maßregeln gegen Tierkrankheiten anordnen, die nicht im Gesetz genannt sind. Die Bekämpfungsmaßregeln sind in der Hauptsache folgende: 1) die Anzeigepflicht, d. h. die Pflicht für Tierbesitzer, Wärter und Ärzte, verdächtige Krankheitserscheinungen der Ortspolizeibehörde anzuzeigen. 2) Die Untersuchung des Tierbestandes nach der Anzeige durch den beamteten Tierarzt und die amtliche Feststellung und öffentliche (warnende) Bekanntmachung des Seuchenausbruches (Tafel am Gehöft, Mitteilung im Amtsblatt, an benachbarte Bezirke etc.). 3) Sperrmaßregeln, die nach Art und Umfang der Seuche sehr verschieden sind. Stets erfolgt Absonderung der kranken Tiere von den gesunden. Es können verhängt werden: Stallsperre. d. h. das Verbot, die Tiere aus dem Stall zu bringen, desgleichen Gehöftsperre, Feldmarksperre, Weidesperre. Letztere Formen kommen für die noch gesunden Tiere des von der Seuche betroffenen Stalles, bez. Gehöftes, die wegen stattgehabter Berührung mit den kranken der Ansteckung verdächtig sind, in Anwendung; dabei ist es dem Besitzer möglich, die Tiere z. B. zur Arbeit auf seinem eignen Besitz zu benutzen, ohne jedoch dessen Grenzen zu überschreiten. Bei der Ortssperre wird wegen starker Ausbreitung einer Seuche eine ganze Ortschaft gewissen Sperrmaßregeln unterworfen. Diese können den Viehverkehr betreffen (Hinausschaffung des Viehes aus dem Orte, Einkehr fremden Viehes, Verbot von Märkten u. Hausierhandel), aber auch den Personenverkehr. Die schärfste Ortssperre wird bei der Rinderpest angewendet, indem der ganze Ort militärisch abgesperrt, jeder Viehverkehr verhindert wird und alle Personen, die aus dem Orte hinaus müssen, einer Desinfektion unterworfen werden. Bei andern Seuchen wird nur fremden Personen das Betreten verseuchter Gehöfte und Ställe verboten. Endlich können die Beschränkungen auch den Verkehr mit Fleisch, Milch, Häuten, ferner mit Heu, Stroh und Dünger betreffen. Fleisch und Milch darf unter Umständen nur[143] gekocht aus dem Seuchengehöft entfernt werden. Die Sperrmaßregeln werden aufgehoben, wenn die Gefahr des Auftretens weiterer Erkrankungen beseitigt erscheint, und dauern bei Rotz, Lungenseuche, Tollwut monatelang. Während derselben werden die verdächtigen Tiere eventuell wiederholt tierärztlich untersucht. 4) Die Tötung der erkrankten Tiere betrifft im Interesse rascher Tilgung nicht nur kranke, sondern auch verdächtige Tiere; in manchen Fällen werden ganze Bestände fortgeräumt. Rinderpest und Lungenseuche sind durch diese Maßregel in Österreich und Deutschland gänzlich vertilgt worden. Auch in England wird von der Tötung umfassender Gebrauch gemacht. Der Rotz ist durch die Tötung aller kranken, häufig auch der verdächtigen Pferde in Deutschland sehr eingeschränkt. Die Tötung nicht bloß aller tollwütenden Tiere, sondern sämtlicher möglicherweise gebissenen und herrenlos umherschweifenden Hunde ist eine segensreiche Maßregel. Für die getöteten Tiere werden (abgesehen von der Tollwut) Entschädigungen gezahlt aus Fonds, zu denen die Tierbesitzer selbst Beiträge zahlen müssen, eine Art Zwangsversicherung. 5) Die unschädliche Beseitigung der Kadaver getöteter und gefallener Tiere, Schlachtabfälle, Dünger, infizierter Gerätschaften etc. und die Desinfektion der verunreinigten Räume nach dem Erlöschen der Seuche. 6) Verbot oder Anordnung ärztlicher Behandlung. Bei Räude wird tierärztliche Behandlung zwangsweise herbeigeführt. Anderseits ist die Vornahme von Impfungen bei Schafpocken und Lungenseuche verboten, weil deren Gefährlichkeit erkannt. Bei andern Seuchen, namentlich beim Rotlauf, ist die Impfung den Tierbesitzern freigestellt, obligatorische Schutzimpfung existiert bei keiner Seuche. Der ausgedehnte Viehverkehr, einschließlich des kleinen Hausierhandels, steigert die Gefahr plötzlicher allgemeiner Seuchenverschleppungen außerordentlich und fordert eine umfassende und ständige Kontrolle des Viehhandels, zu der das Viehseuchengesetz die Grundlage bietet. Diese Kontrolle muß sich vor allem gegen das Vieh richten, das aus unbekannten und möglicherweise verseuchten Gebieten stammt, wird also namentlich die Grenzen zu überwachen haben. Bei der Unmöglichkeit, den Seuchenstand andrer Länder jederzeit schnell und zuverlässig zu erfahren, den Heimatsbezirk des Einfuhrviehes zu ermitteln und den Gesundheitszustand ohne längere Beobachtung festzustellen, sind teilweise Vieheinfuhrverbote (s. d.) nicht entbehrlich. Die V. dienen sehr wesentlich auch dem Schutz der menschlichen Gesundheit, die namentlich durch Tollwut, Milzbrand und Rotz ebenso gefährdet wird wie die der Tiere. Die V. sehen erhebliche Strafen (Freiheitsstrafen) gegen Übertretungen vor. Die Erfolge des deutschen Viehseuchengesetzes sind bei den Namen der demselben unterworfenen Seuchen hervorgehoben. Vgl. noch die Artikel: Kreistierarzt, Tierarzt, Veterinärpolizei; Plehn, Der staatliche Schutz gegen Viehseuchen (Berl. 1903), u. Literatur unter Tiermedizin.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 143-144.
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