Anhang A.

Kritische Ausführungen.

[766] 1. (S. 9.) Die Rathsacten »Ersetzung Derer Schul-Dienste in beyden Schulen Zu St. Thomae und St. Nicolai Vol. II. VII. B. 117«, sowie die unmittelbar nach der Einführung gemachten Aufzeichnungen, welche sich unter den Leipziger Consistorialacten in »Acta die Besetzung des Cantoramts bei der Schule zu St. Thomä zu Leipzig bet.« L. 127. befinden, nennen als Einführungstag den 1. Juni. Deyling aber giebt in einem 4 Wochen später geschriebenen Briefe, welcher ebenfalls in dem letztgenannten Actenconvolut enthalten ist, den 31. Mai als Tag der Einführung an. Dieses Datum ist unzweifelhaft das richtige. Der 31. Mai fiel im Jahre 1723 auf Montag und Bach wurde doch wohl am Beginn der Schulwoche eingeführt, nachdem er am Tage vorher seine erste Kirchenmusik dirigirt hatte; s. S. 184 dieses Bandes.

2. (S. 35.) In der angeführten Stelle des »Critischen Musikus« wird Görners Name nicht genannt. Es heißt dort nur: »Der Herr – – ist an einer gewissen Kirche Director.« Auch der Name des Ortes wird verschwiegen. Daß aber Leipzig gemeint ist, geht aus S. 62 hervor: hier befindet sich nämlich jene Kritik der Künstlerschaft eines großen Clavier- und Orgelspielers, »des Vornehmsten unter den Musikanten« der bewußten Stadt, die zu dem Streite zwischen Scheibe und Birnbaum Veranlassung wurde, und Scheibe hat es im Verlaufe desselben nicht verhehlt, daß er in der That Seb. Bach gemeint habe. Da die Stelle im Jahre 1737 geschrieben ist, so hat man unter dem »Director an einer gewissen Kirche« entweder Görner zu verstehen, oder Gerlach, den damaligen Organisten der Neuen Kirche. Daß ersteres das richtige ist, beweist S. 61. Der hier kritisirte Bruder ist Johann Valentin Görner, bekannt als Componist der Hagedornschen Oden und Lieder. Scheibe hegte von ihm als Künstler und Mensch eine wo möglich noch geringere Meinung, als von seinem Bruder, vgl. S. 335 f., 593, 645, 707, 1046. In der Beurtheilung von Valentin Görners Charakter mag er Recht haben, aber rundweg als »elenden Componisten« kann man den Verfasser vieler wahrhaft vorzüglicher Liedmelodien nicht bezeichnen (s. Lindner, Geschichte des deutschen Liedes im XVIII. Jahrhundert. Leipzig, 1871. S. 37 ff.)

[767] 3. (S. 51 u. 499 f.) Ueber die Collegia musica in Leipzig heißt es in »Das jetzt lebende und florirende Leipzig. Leipzig, bey Joh. Theodori Boetii seel. Kindern. 1723.« S. 59: »Der ordinairen Collegiorum Musicorum sind zwey: 1) wird unter Direction Herrn George Balthasar Schottens, Organistens in der neuen Kirchen, bey Herrn Gottfried Zimmermann, Sommers-Zeit Mittwochs, auf der Wind-Mühl-Gasse, im Garten, von 4 bis 6 Uhr, und Winters-Zeit Freytags im Caffée-Hause, auf der Cather-Straße, von 8 bis 10 Uhr gehalten. 2) Wird auch eines Mittwochs von 8 bis 10 Uhr, unter Direction Herrn Joh. Gottl. Görners, Organistens bey der St. Niclas-Kirche, in Herrn Schellhafers Hause auf der Closter-Gasse gehalten.«

Fast übereinstimmend lautet eine Notiz in »Das jetzt lebende und jetzt florirende Leipzig. 1732.« S. 57, ausgenommen daß unter 1) statt Schott Bach als Director genannt wird, Görner als Organist an der Thomaskirche figurirt und sein Uebungsabend statt auf Mittwoch auf Donnerstag angegeben wird.

Derselbe Leipziger Adresskalender von 1736, S. 58 f. bringt fast wörtlich dieselbe Notiz, nur daß unter 2) noch hinzugefügt ist: »ingleichen auch Winters-Zeit, Montags, von 8. biß 10. Uhr, auf Herrn Enoch Richters Caffée-Hause am Marckte in Herr D. Altners Hause gehalten.«

Der im October 1736 ausgegebene erste Theil der Mizlerschen Musikalischen Bibliothek enthält auf S. 63 f. folgende »Nachricht von den Musikalischen Concerten zu Leipzig. Die beyden öffentlichen Musikalischen Concerten, oder Zusammenkünffte, so hier wöchentlich gehalten werden, sind noch in beständigen Flor. Eines dirigirt der Hochfürstl. Weissenfelsische Capell-Meister und Musik-Direcktor in der Thomas und Nikels-Kirchen allhier, Herr Johann Sebastian Bach, und wird ausser der Messe alle Wochen einmahl, auf dem Zimmermannischen Caffe-Hauß in der Cather-Strasse Freytag Abends von 8 biß 10 Uhr, in der Messe aber die Woche zweymahl, Dienstags und Freytags zu eben der Zeit gehalten. Das andere dirigirt Herr Johann Gottlieb Görner, Musik-Direcktor in der Pauliner Kirche, und Organist in der Thomas Kirche. Es wird gleichfals alle Wochen einmahl auf dem Schellhaferischen Saal in der Closter-Gasse, Donnerstag Abends von 8 biß 10, in der Messe aber die Woche zweymahl, nemlich Montags und Donnerstags, um eben diese Zeit gehalten. Die Glieder, so diese Musikalischen Concerten ausmachen, bestehen mehrentheils aus den allhier Herrn Studirenden, und sind immer gute Musici unter ihnen, so daß öffters, wie bekandt, nach der Zeit berühmte Virtuosen aus ihnen erwachsen. Es ist jedem Musico vergönnet, sich in diesen Musikalischen Concerten öffentlich hören zu lassen, und sind auch mehrentheils solche Zuhörer vorhanden, die den Werth eines geschickten Musici zu beurtheilen wissen.«

Das »jetzt lebende und florirende Leipzig« von 1746 sagt S. 69: »Der Ordinairen Collegiorum Musicorum sind Dreye. 1.) Wird eines unter Direction des Hn. Organisten bey der Neuen Kirche Herr Gerlachen bey Herr Enoch Richtern, in zukunfft auf der Catharinen Strasse Sommers-Zeit in seinem Garten auf der hinter Gaße Mittwochs von 4. bis 6. Uhren, und [768] Winters Zeit Freytags im Caffée-Hause Abends von 8. bis 10. Uhr gehalten. 2.) Wird auch eines Donnerstags von 8. bis 10. Uhr unter Direction Herr Johann Gottlieb Görners Organistens bey der St. Thomas Kirche im Schellhafferischen Hause auf der Closter Gaße gehalten. 3.) Wird auch Donnerst. eines von 5. bis 8. Uhr unter Direction der Herren Kaufleute und anderer Personen in drey Schwanen im Brühle gehalten, allwo sich die grösten Maitres, wenn sie hieher kommen, hören lassen, deren frequenz ansehnlich, auch mit großer attention bewundert wird.«

Das Adressbuch von 1747 weist dieselben dreiCollegia musica auf, aber für Gerlach ist jetzt »Herr Trier« Dirigent des unter 1) genannten Vereins geworden. Dieses ist Johann Trier aus Themar, der sich nach Bachs Tode um das Thomas-Cantorat bewarb und später Organist in Zittau wurde. Weitere Jahrgänge des Adressbuchs fehlen, aber man ersieht aus den oben zusammengestellten Notizen doch, daß es der Telemannsche Musikverein war, welcher aus Schotts Händen in diejenigen Bachs, von diesem auf Gerlach und von Gerlach endlich auf Trier überging. Daß es zwei jüngere Bach nahestehende Musiker waren, welche die Direction desselben nach einander übernahmen, läßt vermuthen, daß Bach noch immer einen gewissen Einfluß auf denselben ausübte und sich nur deshalb persönlich von ihm zurückgezogen hatte, weil er bemerken mußte, daß der Verein seine frühere Bedeutung gegenüber den neuen damals wirksam werdenden Bestrebungen nicht mehr zu behaupten vermochte.

Bei den Kirchenmusiken der Neuen Kirche wirkten seit Schotts Zeiten fünf vom Rathe bestellte Instrumentisten mit. Im Jahre 1736 wurde in Folge einer Vorstellung Gerlachs noch ein sechster Musiker engagirt. Seit 1738 erhielten vier Studenten, welche den Singechor bildeten, ein jährliches Honorar von 12 Thalern. 1741 wurden noch zwei Violinisten mit jährlich vier Thalern angestellt, die aber auch zeitweilig als Sänger Verwendung fanden. 1744 endlich wurden jährlich acht Thaler für zwei Personen bewilligt, welche den Streichbass und die Orgel spielen sollten. Somit bestand das in der Neuen Kirche musicirende und vom Rath besoldete Corps nunmehr aus 14 Personen, und zwar 4 Sängern und 10 Spielern. Diese Mittheilungen sind den Rechnungen der Neuen Kirche entnommen.

4. (S. 112 u. 113.) Daß um diese Zeit eine derartige Veränderung mit der Thomas-Orgel vorgenommen sein müsse, hat bereits W. Rust aus andern Indicien scharfsichtig geschlossen (s. B.-G. XXII, Vorwort S. XIV). In der ältesten Partitur der Matthäuspassion, wie sie in Kirnbergers Handschrift vorliegt, findet sich nämlich noch keine doppelte Orgelstimme; in der Rathswahl-Cantate »Wir danken dir Gott« ist dagegen eine obligate und eine accompagnirende Orgel verwendet. Jenes Werk wurde 1729, dieses 1731 zum ersten Male aufgeführt. Nun steht freilich in den Rechnungen der Thomaskirche von Lichtmeß 1730 – ebendahin 1731, S. 36 nur folgendes: »50 Thlr. Dem Orgelmacher, Johann Scheiben vor die [769] bescheheneReparatur an der Orgel laut Zettel, und des Organisten Görners Attestat.« Namhaft gemacht wird also hier das Rückpositiv nicht, und was mit ihm vorgenommen wurde, war in Wirklichkeit keine Reparatur. Indessen muss man es mit dem Rechnungsführer in stilistischer Hinsicht nicht so genau nehmen. Ueber die im Jahre 1721 vollendete große Restauration der Thomasorgel schreibt er: »217. fl. 3 ggr. oder 190. Thlr. seind Joh. Scheiben ferner – nach den aufs neue mit ihm gemachten Contract, zusammen 390. Thlr. – vor die gantze und völlige Reparatur der großen Orgel, nebst 4. neuen Blaß Bälgen und 400. neue zurMixtur gehörigen Pfeiffen bezahlet worden.« Diese »400 neue zur Mixtur gehörige Pfeifen« schließen aber eine selbständige Sesquialtera für das Rückpositiv ein, welches – worauf ebenfalls Rust zuerst aufmerksam gemacht hat – eine Sesquialtera im Jahre 1670 noch nicht besaß, während Bach für die Matthäuspassion den Gebrauch dieses Registers im Rückpositiv vorschreibt. Ein erfahrener Orgelbauer, mit dem ich dieser Angelegenheit wegen Rücksprache nahm, bestätigte, daß für den Preis von 50 Thalern die in Rede stehende Veränderung in jenen Zeiten recht wohl habe hergestellt werden können. Allerdings nur mit einer Manual-Tastatur; hätten auch Pedal-Register für das Rückpositiv separirt werden sollen, wie Scheibe das 1722 an der Orgel der Neuen Kirche, die auch ein selbständiges Rückpositiv hatte, ausführte, so wäre die Sache theurer gekommen. Aber so stimmt es auch durchaus mit dem Gebrauche, den Bach später von dem Rückpositive machte. Um die Thomasorgel endlich muß es sich hier jedenfalls gehandelt haben, denn die Nikolai-Orgel besaß kein allein zu spielendes Rückpositiv, und es ist in den Rechnungen auch keine Spur davon zu finden, daß ihr Rückpositiv zu Bachs Zeit für eine solche Behandlung hergerichtet sei.

5. (S. 117.) Im Vorwort zu B.-G. I, S. XIV ist Moritz Hauptmann von der Ansicht ausgegangen, daß die Nikolai-Orgel im Kammerton gestanden habe, und hat daraus geschlossen, daß von den doppelten Continuostimmen, welche zu den Bachschen Cantaten häufig vorhanden sind, die nicht transponirte in der Nikolai-, die transponirte in der Thomas-Kirche gebraucht sei. Er konnte diese Ansicht darauf stützen, daß die Orgel der Nikolai-Kirche, welche im Jahre 1862 durch eine neue ersetzt worden ist, in der That die Kammertonstimmung hatte. Aber diese Orgel war nicht dieselbe, welche zu Bachs Zeit in der Nikolai-Kirche stand. Vielmehr wurde die alte Orgel, deren Disposition im Text gegeben ist, im Jahr 1793 durch eine neue ersetzt, welche die Gebrüder Trampeli aus Adorf für 7000 Thaler erbauten. Sie muß schlecht gearbeitet gewesen sein, da man sie schon nach kaum 70 Jahren wieder abtrug. Daß aber die alte Orgel im Kammerton gestanden habe, ist durch nichts beweisbar. Im 17. Jahrhundert war der Chorton noch ganz allgemein, die Orgel hätte also erst durch die Reparatur von 1725 auf den Kammerton gebracht sein müssen. Aber auch damals war diese Stimmung noch sehr wenig gebräuchlich, und es ist fest anzunehmen, daß, wenn sie 1725 [770] hergestellt worden wäre, dieses sich irgendwo angemerkt finden würde. Vielleicht die erste Orgel mit Kammerton in Sachsen baute Silbermann 1741 zu Zittau, und ihre Stimmung galt als eine Merkwürdigkeit (s. Sammlung einiger Nachrichten von berühmten Orgel-Wercken in Teutschland. Breßlau, 1757, S. 103). Auch war garkein Grund vorhanden, die Stimmung der Nikolai-Orgel zu verändern und sie somit in einen ganz unfruchtbaren Gegensatz zur Thomas-Orgel zu bringen, mit welcher sie zu Zeiten einunddieselben Kirchenstücke abwechselnd zu begleiten hatte; bei der Schwierigkeit, welche die zur Tieferstimmung erforderliche Verlängerung der Pfeifen, namentlich in älteren Orgeln mit sich bringt, könnte das nur eine thörichte Vergeudung von Geld und Mühe genannt werden. Wenn bei der concertmäßigen Kirchenmusik der Chorton irgendwie als ein Uebelstand empfunden wäre, so hätte man ihn in der Neuen Kirche sicher nicht geduldet. Aber auch diese Orgel, die 1704 erbaut wurde, hatte ihn und behielt ihn auch nach der großen Reparatur, die Scheibe für den Preis von 500 Thalern 1722 mit ihr vornahm (s. Rechnungen der Neuen Kirche von Lichtmeß 1721 bis ebendahin 1722 und die einliegenden, Contracte und Gutachten enthaltenden Actenstücke). Die Disposition dieser Orgel steht übrigens bei Niedt, Musikalischer Handleitung Anderer Theil. 2. Auflage. Hamburg 1721, S. 189.

6. (S. 138.) Christian Carl Rolles Neue Wahrnehmungen zur Aufnahme und weiteren Ausbreitung der Musik. Berlin, bey Arnold Wever. 1784. 8. sind ihrer Zeit sehr abfällig beurtheilt (s. Gerber, L. II, Sp. 314) und bald wieder vergessen worden. Allerdings ist die Ausdrucksweise unbeholfen und dunkel, die Darstellung zusammenhangslos und wirr. Trotzdem enthält das Büchlein, wenn man sich durch seine ungenießbare Form nicht abschrecken läßt, gute praktische Bemerkungen und ist für den vorliegenden Zweck eine werthvolle Quelle. Der Verfasser, Cantor an der Jerusalems- und Neuen Kirche zu Berlin, war der Sohn Christian Friedrich Rolles (s. Band I, S. 514) und Johann Heinrich Rolles, des Oratoriencomponisten, älterer Bruder, gehörte also einer geachteten Musikerfamilie an; außerdem stand er in Beziehungen zur Bachschen Schule. Die im Text mitgetheilte Stelle wird ausdrücklich als Ansicht Bachscher Schüler und andrer bedeutender Musiker der Zeit bezeichnet, denn im Inhaltsverzeichniß heißt es mit Beziehung auf sie: »von einigen berühmten Ton-Setzkünstlern, welche außer ihren theatralischen Arbeiten, auch in Kirchensachen sich ausgezeichnet; zum Ehren-Gedächtnisse, durch Aufführung einiger Lebens-Umstände für dieselben aufgerichtet. Die bemerkten sind: ein Agricola, Graun, Hasse, Kirnberger, Nichelmann, Telemann; ferner einige aus den Familien derer, welche in Anverwandschaft die Namen theils Bach, theils Rolle führen.«

7. (S. 154 f.) Kuhnaus Weihnachtscantate »Nicht nur allein am frohen Morgen«, für Chor, 2 Violinen, Viola, Bass, 2 Oboen, 2 Hörner, Pauken und Continuo gesetzt und in Partitur und Stimmen auf der Leipziger Stadtbibliothek befindlich, steht in A dur. In diese Tonart sind [771] sowohl der bezifferte Continuo als sämmtliche Streichinstrumente gesetzt. Violinen und Oboen sollen aus denselben Stimmen spielen, welche die Vorzeichnung


Anhang A

aufweisen. D.h. die Oboen spielten im G-Schlüssel ohne Vorzeichnung, also aus C dur, welches in der Tief-Kammerton-Stimmung wie H dur klang, Streichinstrumente mit der Orgel dagegen aus A dur in der Chortonstimmung, welches nun ebenfalls wie H dur klang. Bei den Cantaten »Erschrick mein Herz vor dir«, »Ich hebe meine Augen auf«, »Und ob die Feinde Tag und Nacht«, welche, wie auch die unten genannte, gleichfalls auf der Stadtbibliothek zu Leipzig aufbewahrt werden, stehen die Orgelstimmen ebenfalls in der Originaltonart, mußten folglich die Geigen in den Chorton gestimmt sein. Dies ist nicht der Fall bei der Cantate »Welt ade, ich bin dein müde«; hier steht der Continuo in G, die Streichinstrumente in A, die Flöten und Oboen in B; aber man sieht aus dieser Einrichtung wieder, daß die Holzbläser tiefe Kammerton-Stimmung hatten. Die Cantate Bachs »Höchst erwünschtes Freudenfest«, ursprünglich zur Einweihung der Orgel in Störmthal geschrieben, steht in B dur. Als Bach sie zum Trinitatisfeste in Leipzig aufführte, standen auch ihm nur Oboen im tiefen Kammerton zu Gebote; seine eigenhändige Bemerkung über den Oboestimmen: »tief Cammerthon« beweist es. Das von diesen geblasene B klang also wie A, demnach mußte die Stimme der im Chorton stehenden Orgel nach G dur rücken, wie auch geschehen ist. Daß in Wirklichkeit diese G dur-Stimme für eine Leipziger Aufführung angefertigt ist, beweist die über dem zweiten Theile stehende Notiz: »Parte 2da sub Communione«. Sämmtliche Streichinstrumente mußten nun, um aus den einmal vorhandenen in B dur ausgeschriebenen Stimmen gespielt werden zu können, einen halben Ton herunter gestimmt werden, eine Manipulation, die Bach durch die über diesen Stimmen ebenfalls befindliche Bemerkung »tief Cammerthon« vorschreibt. Als er später dieselbe Cantate nochmals aufführte, waren Oboen im hohen Kammerton vorhanden, deshalb schrieb er nun eine neue Generalbassstimme sorgfältigst in As dur, und die Streichinstrumente konnten in ihrer gewöhnlichen Stimmung bleiben. Diese neue Stimme ist übrigens dadurch merkwürdig, daß sie nur bei zwei Recitativen Bezifferung zeigt, meistens aber dieselbe durch Ueberschreibung einer Sing- oder Instrumentalstimme ersetzt und bei zwei Stücken weder das eine noch das andre aufweist. Sie könnte auch als Directionsstimme gedient haben, zumal die Cantate in ihr verkürzt und in ihren einzelnen Theilen umgestellt erscheint. Was endlich die Stimmung der Trompeten betrifft (vergl. über sie Band I, S. 343, Anmerk.), so möge zur Begründung des im Text Gesagten hier eine handschriftliche Notiz mitgetheilt werden, die vor einer auf der königlichen Bibliothek zu Berlin befindlichen Pfingst- Cantate Kuhnaus (»Daran erkennen wir, daß wir in ihm verbleiben«) zu lesen ist. Sie lautet: »1)NB. Dieses Stück geht in dem Chorton in den Violen [sind alle Streichinstrumente gemeint], Singstimmen und dem General Bass aus [772] dem B. 2) Sind die Trompeten ex C ? geschrieben. Muß also auff der Trompete ein Aufsatz bey dem Mundstücke gesetzt werden, daß die Trompeten einen Ton niedriger biß in den Cammerton klingen, so müssen auch die Pauken ein Ton tieffer gestimmt werden in den Cammerton herunter. 3) Die Hautbois und Bassons müssen Cammerton stimmen und sind diese Parteien im außschreiben schon einen Ton höher transponiret, daß auf diese Art alles also accordiret.«

8. (S. 161.) Gesner läßt Bach während des Dirigirens entweder Clavier oder Orgel spielen, was sich mit den thatsächlichen Verhältnissen ganz wohl in Einklang bringen läßt, wenn man letzteres auf die Traktirung des Rückpositivs bezieht. Die Erwähnung des Pedalspiels will freilich nicht passen, da das Rückpositiv kein Pedal hatte. Aber sich Bach an der großen Orgel sitzend und also den Generalbass spielend vorzustellen ist wieder mit Gesners übriger Darstellung nicht zu vereinigen und auch an sich kaum denkbar: wer 30 bis 40 Musiker zu leiten, und durch Handbewegungen, Takttreten, Kopfnicken, Tonangeben in Ordnung zu halten hat, kann ihnen nicht fortgesetzt den Rücken zukehren. Gesners Beschreibung paßt auch mehr auf Solo-Orgelspiel; es ist wohl begreiflich, daß er an Bachs großartige Orgelspiel-Leistungen grade dann dachte, als er ein Beispiel dafür anführen wollte, wie man verschiedene Beschäftigungen gleichzeitig vollbringen könne, und daß er dadurch bewogen die Genauigkeit in der Zeichnung des Gesammtbildes außer Acht ließ. So hat auch Adlung die Sache aufgefaßt, der (Anleitung S. 690) wo er von Bachs Größe als Orgelspieler redet, anmerkungsweise hinzufügt: »Was der berühmte Gesner in Göttingen von Bachen schreibt, welcher ihn in Weimar genung hören können, findet man eben daselbst [nämlich in Bellermanns Parnassus Musarum] S. 41 Not. p.« Die Erwähnung Weimars ist hier um so bemerkenswerther, als Gesner selbst von seinem Zusammensein mit Bach in Leipzig spricht, denn in Weimar war Bach eben vorzugsweise Organist. Daß Bach seit 1730 manchmal am Rückpositiv accompagnirt haben wird, hat Rust B.-G. XXII, S. XIV ff. schön auseinandergesetzt; einigen andren an jener Stelle niedergelegten Ansichten kann ich nicht beistimmen, da sie sich, wie aus der von mir gegebenen Darstellung der Verhältnisse hervorgeht, auf unrichtige Thatsachen stützen. – Noch muß an dieser Stelle auf den früher schon (Band I, S. 712 und 830) angeführten Ausspruch Kittels zurückgekommen werden, daß, wenn Seb. Bach eine Kirchenmusik aufführte, allemal einer von seinen fähigsten Schülern habe auf dem Flügel accompagniren müssen. Für den im Texte verfolgten Zweck ist diese Notiz unbrauchbar, weil, wie bereits früher gesagt, Kittels Schilderung nur von den Proben gemeint sein kann, von allem andern abgesehen schon deshalb, weil, als Kittel bei Bach studirte, das Cembalo in der Thomas-Kirche abgeschafft war. Er schrieb obiges mehr als 50 Jahre später; es ist nicht wunderbar, wenn seine Erinnerung ihn fehl gehen ließ. Aber in jener eingeschränkten Bedeutung ist die Notitz immerhin interessant: sie beweist, [773] daß Bach in den Proben stehend taktirte und einem Schüler das Generalbassspiel übertrug. Das Local für diese Proben hätte der Schulsaal sein müssen. Indessen befand sich dort während Bachs Zeit kein Cembalo. Das Inventar der im Besitz der Thomasschule befindlichen Instrumente, welches den Jahres-Rechnungen dieser Anstalt jedesmal beigegeben ist, lautet während der Jahre 1723 bis 1750 so:


»An Musicalischen Instrumenten


1 Regal, so alt und ganz eingegangen.

1. dito Anhang A 1696. angeschaffet.

1. Violon Anhang A 1711.

1 Violon Anhang A 1735. in der Auction erstanden. [fehlt natürlich in den Jahren vorher.]

2 Violons de Braz

2 Violinen Anhang A 1706. repariret.

1. Positiv in die Höhe stehend von 4. Registern undTremulanten, gelb mit Golde angestrichenAnhang A 1685. angeschafft.

1 Positiv in Form eines Thresores mit 4. Handhaben, welches ein gedacktes von 8. Fuß Thon hat.

1. Dergleichen von 4. Fuß

1. Principal von 2. Fuß, ist Anhang A 1720 angeschaffet worden, um bey denen Hauß Trauungen zu gebrauchen.«

Da nun, von Kittels Zeugniß ganz abgesehen, die Proben, welche außer der in der Kirche am Sonnabend stattfindenden Hauptprobe abgehalten wurden, schwerlich nur unter Begleitung eines Positivs vor sich gehen konnten, namentlich wenn Bachs verwickelte eigne Compositionen einstudirt wurden, so folgt, daß das Local derselben Bachs eigne Wohnung gewesen sein muß, in welcher mehre Flügel für alle Bedürfnisse der Einstudirenden zu Gebote standen.

9. (S. 184.) Die autographe Partitur der Cantate »Du wahrer Gott und Davids Sohn« zeigt als Wasserzeichen des Papiers den wilden Mann mit der Tanne. Dieses Zeichen kommt weder in dem zu Weimar noch zu Leipzig von Bach gebrauchten Papiere vor. Dagegen findet es sich im Autograph der Cantate »Durchlauchtger Leopold« (s. Bd. I, S. 821) und in demjenigen einer andern, erst unlängst zu Tage gekommenen cöthenischen Gelegenheitsmusik »Mit Gnaden bekröne der Himmel die Zeiten« (s. Nr. 51 dieses Anhangs); es ist also ein Merkmal der Cöthener Zeit. Nun beachte man Folgendes: 1) In Cöthen selbst hatte Bach keine Gelegenheit, Kirchencantaten aufzuführen; was er derartiges dort componirte, war für auswärts bestimmt. 2) Bach wollte am Sonntage Estomihi 1723 in Leipzig seine Probe ablegen. 3) Er hat die Partitur von »Du wahrer Gott« mit Hinblick auf einen besonders wichtigen Zweck ungewöhnlich sorgfältig und schön geschrieben, aber er hat sie nicht ganz vollendet: der Schlußchor fehlt. Daß es nicht Bachs anfängliche Absicht gewesen ist, mit dem Es dur-Chor zu schließen, so daß der Schlußchoral erst einer späteren [774] Idee sein Dasein zu verdanken hätte, geht daraus hervor, daß hinter dem Es dur-Chor das endüblicheS.D.G. sich nicht findet. Außerdem würde der im Recitativ durch die Instrumente eingeführte Choral in der Luft schweben, wenn nicht auf ein endliches Auf treten desselben im Chor von Anfang an gerechnet worden wäre; auch wird erst durch den in die C-Tonart ausmündenden Choralchor der durch die einzelnen Sätze der Cantate dargestellte Tonartenkreis geschlossen. 4) Aus der Beschaffenheit der Originalstimmen ergiebt sich, daß nur ein Theil der Stimmen in Cöthen, ein andrer Theil dagegen in dem Zeitraume der ersten Leipziger Jahre angefertigt worden ist. 5) Die Texte der in Rede stehenden Cantate und der schließlich als Probestück benutzten »Jesus nahm zu sich die Zwölfe«, welcher letzteren Entstehungsjahr wir aus bester Quelle wissen, sind augenscheinlich von demselben Poeten verfaßt. Beide werden durch dieselbe tastende Unsicherheit im Gebrauch der Versmaße gekennzeichnet. Die Schreibart soll madrigalisch sein, verfällt aber nach einigen Anläufen dazu immer wieder in den unmusikalischen, aber dem Verfasser offenbar geläufigen Alexandriner. Die Schlüsse aus diesen Propositionen ergeben sich fast von selbst. Als Bach die ursprünglich zum Probestück bestimmte Cantate »Du wahrer Gott« bis auf den Schlußchor ins Reine geschrieben hatte, änderte er seine Absicht, componirte ein neues Stück und legte das erste für eine passendere Gelegenheit zurück. Als ihm diese in Leipzig gekommen schien, completirte er die Stimmen und führte es auf; sicherlich zum Estomihi-Sonntag 1724, denn der Grund weshalb er es zuerst zurückgehalten hatte fiel nun fort und das Werk war wahrlich bedeutend genug, um nicht länger unbenutzt im Pulte liegen zu bleiben. Ich bemerke noch, daß schon W. Rust, wenngleich zum Theil auf andere Gründe gestützt, zu einem wesentlich gleichen Resultate gekommen ist; s. B.-G. V, 1, Vorwort S. XXI.

Zu der Cantate »Jesus nahm zu sich die Zwölfe« existiren zwei Originalpartituren, beide auf der königlichen Bibliothek zu Berlin befindlich. Die eine ist durchgehends autograph, und die fast vollständige Abwesenheit aller Correcturen, sowie die im ersten Chor mit Lineal gezogenen Taktstriche, kennzeichnen sie als Reinschrift. Wann sie gefertigt ist, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen; auf das Wasserzeichen des Papiers, einen Schild mit gekreuzten Schwertern, kann eine sichere Annahme über ihre Entstehung kaum gegründet werden, obgleich es in diesem Falle nicht unwahrscheinlich ist, daß dadurch ebenfalls auf Cöthen gedeutet wird (vgl. Bd. I, S. 833 f. und Nr. 30 und 46 dieses Anhangs). Die zweite Partitur ist von Anna Magdalena Bach hergestellt, Sebastian Bach hat nur einiges hineingeschrieben, z.B. eine ganze Textzeile unten auf Seite 7, ferner die sorgfältige Bezifferung, welche bis Takt 42 der ersten Arie geht. Nach Angabe des Wasserzeichens entstand die Partitur im Anfange der Leipziger Zeit. Der Kopf derselben trägt, ebenfalls von Anna Magdalenas Hand, die Worte: »NB. Dies ist das Probestück in Leipzig«.

Für die Herstellung einer Chronologie unter Bachs Cantaten sind die Wasserzeichen im Papier der Originalmanuscripte fast die wichtigsten [775] Anhaltepunkte. Eine durchgeführte Untersuchung und Vergleichung derselben ergiebt nämlich, daß in den Manuscripten gewisse wenige und von einander scharf unterschiedene Zeichen immer wiederkehren. Hieraus geht hervor, daß Bach zu verschiedenen Zeiten je eine bestimmte Sorte von Papier massenhaft gebrauchte, und daß demnach diejenigen Manuscripte, welchen ein und dasselbe Wasserzeichen gemeinsam ist, anch in dieselbe Zeitperiode fallen. Ganz untrüglich für jeden einzelnen Fall ist natürlich dieses Anzeichen nicht, aber bei dem Zustande, in welchem sich die Chronologie der Bach'schen Werke befindet, ist schon immer viel gewonnen, wenn es gelingt, die Masse der Cantaten in gesonderten Gruppen auf verschiedene Lebensperioden des Componisten zu vertheilen. Ist dieses geschehen so können andere Mittel zur genaueren Bestimmung der Entstehungstermine, wo sich solche überhaupt auftreiben lassen, auch erfolgreicher angewandt werden. Ich hoffe nun, daß mir eine solche gruppenweise Sonderung gelungen ist, und werde zunächst über die erste Gruppe der Leipziger Zeit mich weiter auslassen. Ich schicke voraus, daß, um mit Bestimmtheit die betreffenden Zeichen erkennen und wiedererkennen zu können, man hunderte von Manuscripten untersucht und zu verschiedenen Zeiten untersucht haben muß, weil manche, die beim ersten Male undeutlich oder sonst unverwerthbar erschienen, durch inzwischen gemachte neue Beobachtungen oft klar und bedeutungsvoll werden.

Die erste Zeitperiode erstreckt sich von 1723 bis ausschließlich October 1727; ihr Markstein ist die in diesem Monat geschriebene Partitur der Trauerode auf die Königin Christiane Eberhardine. Die Wasserzeichen der in diese Periode fallenden Manuscripte sind auf dem einen Blatte des Bogens


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auf dem anderen ein Halbmond. Diese Zeichen werden von folgenden Originalmanuscripten getragen:

1. Ärgre dich, o Seele, nicht

2. Christen ätzet diesen Tag

3. Christ lag in Todesbanden

4. Dazu ist erschienen der Sohn Gottes

5. Die Himmel erzählen die Ehre Gottes

6. Du Hirte Israels

7. Du sollst Gott deinen Herren lieben

8. Du wahrer Gott und Davidssohn

9. Ein ungefärbt Gemüthe

10. Erforsche mich Gott

11. Erfreute Zeit im neuen Bunde

12. Erwünschtes Freudenlicht

13. Halt im Gedächtniß Jesum Christ

14. Herr gehe nicht ins Gericht

15. Herr wie du willt

[776] 16. Herz und Mund und That und Leben (Umarbeitung für Leipzig)

17. Himmelskönig sei willkommen (Umarbeitung für Leipzig)

18. Höchsterwünschtes Freudenfest

19. Jesus nahm zu sich die Zwölfe

20. Jesus schläft, was darf ich hoffen?

21. Ihr Menschen rühmet

22. Leichtgesinnte Flattergeister

23. Lobe den Herrn, meine Seele (zum 12. Trinitatis-Sonntag)

24. Magnificat in Es dur (D dur)

25. Mein liebster Jesus ist verloren

26. Nimm was dein ist und gehe hin

27. O Ewigkeit du Donnerwort (F dur)

28. O heilges Geist- und Wasserbad

29. und 30. Sanctus in C dur und D dur

31. Schauet doch und sehet

32. Schau lieber Gott, wie meine Feind

33. Sehet, welch eine Liebe

34. Siehe zu, daß deine Gottesfurcht nicht Heuchelei sei

35. Sie werden aus Saba alle kommen

36. Sie werden euch in den Bann thun (G moll)

37. Singet dem Herrn ein neues Lied

38. Wachet, betet (Umarbeitung für Leipzig)

39. Weinen, Klagen

40. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch

41. Wo gehst du hin?

Um die Brauchbarkeit des neuen kritischen Instruments zu prüfen soll sogleich gezeigt werden, bei welchen dieser Compositionen noch andere Merkmale vorhanden sind, die sie in die Periode 1723–1727 verweisen. Von fünfen unter ihnen erfahren wir auf anderem Wege das Entstehungsjahr genau. Die Originalpartituren von »Ärgre dich o Seele nicht« und »Die Himmel erzählen die Ehre Gottes« tragen die Jahreszahl 1723, diejenige von »Mein liebster Jesus ist verloren« die Jahreszahl 1724. Die Cantate »Höchst erwünschtes Freudenfest« wurde laut eigenhändiger Bemerkung des Componisten in der Partitur und eines den Stimmen beiliegenden Textes zur Einweihung der neuen Orgel in Störmthal bei Leipzig componirt. Nach Ausweis der dortigen Kirchenrechnungen fand dieser Act am 2. November 1723 statt. Die Cantate »Jesus nahm zu sich die Zwölfe« wurde zu Estomihi 1723 in Leipzig aufgeführt, wie die Notiz Anna Magdalena Bachs erweist. Daß ferner ein Theil der Originalstimmen zu »Du wahrer Gott« aus dem Jahre 1724 stammt, ist oben wahrscheinlich gemacht. Der Text der Cantate »Ein ungefärbt Gemüthe« rührt von Neumeister her, wurde 1714 gedichtet und findet sich in den Fünffachen Kirchenandachten S. 334 ff. Der Text der Cantate »O heilges Geist- und Wasserbad« ist von Franck, stammt aus dem Jahre 1715 und steht in dessen »Evangelischem Andachts-Opffer«. Es ist natürlich, daß Bach in der ersten Leipziger Zeit, wo er mit Picander noch nicht in engerer Verbindung stand[777] und einen ihm zusagenden Textverfertiger am Orte selbst nicht immer sogleich aufzutreiben wußte, auf ältere ihm bekannte Dichtungen zurückgriff. Sicher beweisbar ist dieses Verfahren in zwei andern Fällen. Der Text zur Cantate »Ärgre dich o Seele nicht«, welche die Jahreszahl 1723 trägt, ist ebenfalls von Franck; derjenige zur Cantate »Ihr die ihr euch nach Christo nennet« desgleichen, und in Nr. 12 dieses Anhangs wird bewiesen werden, daß auch die letztere 1723 oder spätestens 1724 componirt sein muß. Somit erscheint es auch unter diesem Gesichtspunkte als wahrscheinlich, daß die Cantaten »Ein ungefärbt Gemüthe« und »O heilges Geist- und Wasserbad« in der ersten Leipziger Zeit entstanden sind. Von den oben angeführten 41 Compositionen sind also 8 schon jetzt in Folge andrer Merkmale in die Zeit vor 1727 zu verweisen, und es wird sich das gleiche noch bei einer Reihe andrer Cantaten herausstellen. Diese Merkmale sind äußerlicher Art. Es existiren deren aber auch innere in ziemlicher Fülle; da dieselben zugleich zur Charakterisirung der betreffenden Compositionen gehören, beschränke ich mich darauf sie im Texte ihresorts darzulegen. Auch wird das Gesagte wohl schon hinreichen zu beweisen, daß man in der That ein Recht hat, die Entstehung von Manuscripten, welche übereinstimmende Papierzeichen haben, ungefähr in dieselbe Zeit zu setzen.

10. (S. 185.) W. Rust hat, um die Zusammengehörigkeit beider Cantaten wahrscheinlich zu machen, mit Recht auch auf die übereinstimmende complicirtere Notirung der Oboe d'amore hingewiesen (B.-G. XVIII, Vorwort S. XIII). Es ist für dieses Instrument sowohl der G-Schlüssel auf der zweiten, als auch der C-Schlüssel auf der ersten Linie vorgezeichnet. Die Oboe d'amore stand eine kleine Terz tiefer, als die gewöhnliche Oboe, C moll also klang wie A moll, G moll wie E moll. Bach braucht dieses Instrument hier zum ersten Male, und um bei der abweichenden Stimmung desselben sich das Lesen der Partitur bequemer zu machen, hat er den C-Schlüssel mit vorgezeichnet, was er in späteren Fällen nicht mehr that. Ganz deutlich erkennt man die Absicht aus dem instrumentalen Mittelstück der Cantate »Die Himmel erzählen«, wo, wenn die Oboestimme im C-Schlüssel richtig verzeichnet werden sollte, ein Kreuz neben demselben hätte notirt werden müssen. Das ist nicht geschehen; es genügte Bach, sich der seltenen Stimmung überhaupt nur zu erinnern. Uebrigens waren solche doppelte Notirungen grade bei den Oboen nicht selten (vergl. Nr. 7 dieses Anhanges und Bd. I, S. 795) und konnten, wie in dem vorliegenden Falle, noch den Nebenzweck haben, die Ausführung der Partie durch eine gewöhnliche Oboe oder eine Violine, wenn eben eine Oboe d'amore nicht zur Hand war, zu erleichtern. Ob Bach auch diesen Zweck verfolgt hat, läßt sich nicht entscheiden, da die betreffenden Orchester-Stimmen fehlen. Wären die Stimmen zu der Cantate »Die Elenden sollen essen« nicht ganz verloren gegangen, so würde sich vielleicht auch eher bestimmen lassen, was das am Anfange dieser Partitur unter der ersten Zeile des Instrumentalbasses befindliche »col accomp.« bedeuten [778] soll. War es eine Notiz für den Ausschreiber der Generalbass-Stimme, da die Partitur selbst keine Bezifferung aufweist, die Bezifferung gemäß den Harmonien der Instrumente hinzuzufügen? Oder soll es etwas ähnliches bedeuten wie colla parte und beabsichtigte demgemäß Bach einen freieren Vortrag des Ritornells, wie er bei den Gängen der ersten Oboe allerdings denkbar ist? Die Wasserzeichen des autographen Manuscripts sind auf der einen Seite ein W, auf der andern ein Pferd.

11. (S. 189.) Wenn die Cantate »Ein ungefärbt Gemüthe« nicht 1723 componirt wäre, so könnte es, da es sich hier um die Zeit zwischen 1723 und 1727 handelt (s. Nr. 9 dieses Anhanges), nur noch 1726 oder 1727 geschehen sein. Denn 1724 fiel auf den 4. Trinitatis-Sonntag das Fest Mariae Heimsuchung, 1725 das Johannisfest; in diesen beiden Jahren konnte also keine gewöhnliche Sonntagsmusik vorkommen. Daß Bach aber so spät noch, wo er schon mit Picander in naher Verbindung stand, einen so unbedeutenden Neumeisterschen Text sich zur Composition ausgesucht haben sollte, ist höchst unwahrscheinlich. – In Neumeisters »Neuen geistlichen Gedichten« (s. Bd. I, S. 469) findet sich S. 105 ein Text auf den ersten Pfingsttag: »Gott der Hoffnung erfülle euch«, zu dem eine Bachs Namen tragende Composition auf der Amalienbibliothek des Joachimsthalschen Gymnasiums zu Berlin existirt (Querfolioband Nr. 43). Diese Composition ist ganz unbachisch und sicherlich unecht; sie zeigt große Stilverwandtschaft mit der in demselben Bande stehenden Cantate »Herr Christ der einge Gottssohn«, von welcher Bd. I, S. 800 f. gesprochen ist. – Es scheint, daß Bach aus den Fünffachen Kirchenandachten noch den dem 7. Trinitatissonntage gehörigen Text »Gesegnet ist die Zuversicht« componirt hat; von der Existenz der Musik wissen wir einstweilen nur durch eine Notiz in Breitkopfs Verzeichniß zur Michaelismesse 1770, S. 9, nach welcher sie für 4 Singstimmen, zwei Flöten, zwei Violinen, Bratsche und Bass gesetzt war.

12. (S. 191.) Die Entstehungszeit dieser Cantate ergiebt sich aus einem Merkmale der Stimme für die zweite Oboe, welche Stimme unter den auf der königlichen Bibliothek zu Berlin zugleich mit der autographen Partitur befindlichen Originalstimmen vorliegt. Am Schlusse dieser Stimme steht: Il Fine und darunter dieses Monogramm:


Anhang A

Das bedeutet, wie man sieht, die Buchstaben W F B, und ist eine knabenhafte Spielerei des Schreibers der Stimme, Wilhelm Friedemann Bachs. Die Ueberschrift, die Bemerkungen: »Aria tacet«, »Recit et Aria tac:«, »Recit tacet«, ferner der Violinschlüssel des nun beginnenden Stückes, die beiden Been, dasAnhang A , die Ueberschrift: »Aria all unis:«, unten auf der Seite das volti und endlich unter dem Monogramm nochmals mit grossen Buchstaben Il Fine – dieses alles hat Anna Magdalena Bach geschrieben, das übrige aber Friedemann und zwar mit durchaus ungeübter, steifer Kinderhandschrift. Im Sommer 1723 stand Friedemann in seinem dreizehnten [779] Lebensjahre; es er giebt sich aus obigem, daß die musikverständige Mutter ihm die Stimme zurichtete, welche er schreiben wollte. Vielleicht war es das erste Mal, daß er sich in dieser Weise an der Arbeit des Vaters betheiligte; augenscheinlich aber war er im Stimmenausschreiben noch ein vollständiger Neuling, was im Jahre 1724 schwerlich mehr der Fall gewesen ist. Ueber das Wasserzeichen des Manuscripts s. Nr. 32 dieses Anhangs.

13. (S. 192.) Die erste Aufführung der Umarbeitung (s. Nr. 9 dieses Anhangs) muß entweder 1723 oder 1725 stattgefunden haben, denn außer diesen Jahren kam bis 1728 der 26. Trinitatis-Sonntag im Kirchenjahre nicht wieder vor. Wenn ich mich mehr dem Jahre 1723 zuneige, so geschieht es, weil ich glaube, daß Bach den verhältnißmäßig selten eintretenden Sonntag im ersten Jahre seiner Leipziger Thätigkeit nicht ohne Aufführung einer eignen Composition vorüber ließ, um so weniger, als der kirchliche Charakter des Tages etwas besitzt, was grade seine Phantasie lebhaft erregen mußte. Die Spuren einer zweiten Aufführung der Umarbeitung liegen in der obligaten Violoncellstimme und einer der bezifferten Orgelstimmen in B vor. Diese Stimmen tragen das Wasserzeichen M A, welches für eine um 1730 fallende Gruppe von Cantaten das diplomatische Merkmal bildet, s. Nr. 33 dieses Anhangs. Zwischen 1725 und 1736 kam der 26. Trinitatis-Sonntag nur noch 1728 und 1731 vor; an einem dieser beiden Tage muß also die zweite Aufführung vor sich gegangen sein.

14. (S. 198.) Daß Bach im ersten Jahre seiner Leipziger Thätigkeit wenigstens zu den wichtigsten Festen die Cantaten und übrigen Figuralmusiken sämmtlich selbst componirte, darf als gewiß angenommen werden. Wenn es überhaupt Sitte war, daß die Cantoren oder Capellmeister den Bedarf des Kirchenjahres größtenteils aus eignen Mitteln deckten, wenn Männer wie Fasch sogar in dem ersten Jahre einer neuen Wirksamkeit einen doppelten vollständigen Jahrgang, also über 100 Cantaten componirten (s. Gerber, N.L. II, Sp. 92), so war doch Bach gewiß nicht der Mann, der hierin hinter andern zurückstehen wollte. Außerdem sagt er mit eignen Worten in einem vom 15. Aug. 1736 datirten Promemoria, welches durch seinen Streit mit dem Rector Johann August Ernesti veranlaßt worden war, daß die Cantaten, welche er mit dem ersten Chore mache, meistens von seiner eignen Composition wären. Es kommt also nur darauf an, unter den erhaltenen Fest-Cantaten die richtigen zu treffen. Bach schrieb fünf Jahrgänge, also für jedes Fest wenigstens fünf Musiken. Zum ersten Weihnachtstage sind deren sogar sechse vorhanden und nach ihren Anfängen bezeichnet folgende:

1) Christen ätzet diesen Tag

2) Ehre sei Gott in der Höhe

3) Gelobet seist du, Jesu Christ

4) Jauchzet, frohlocket, auf preiset die Tage

[780] 5) Unser Mund sei voll Lachens

6) Uns ist ein Kind geboren.

6) ist eine frühe Arbeit aus der weimarischen Zeit (s. Bd. I, S. 481) und kann für den gegebenen Fall überhaupt nicht in Betracht kommen, man müßte denn das Unwahrscheinlichste annehmen, daß Bach für die erstmalige Feier eines der größesten Kirchenfeste in seiner neuen Stellung nichts besseres zu thun gewußt habe, als eine nicht eben bedeutende Jugendarbeit aufzuwärmen. 2) ist die Composition eines zum 1. Weihnachtstage 1728 von Picander gedichteten Textes. 3) trägt das diplomatische Merkzeichen der zwischen 1735 und 1750 componirten Werke (s. Nr. 56 dieses Anhangs). 4), zum Weihnachts-Oratorium gehörig, ist laut einer Notiz Ph. Emanuel Bachs im Jahre 1734 componirt. 5) enthält als fünften Satz ein Duett »Ehre sei Gott in der Höhe«, welches sich als eine erweiterte Umarbeitung des zu Bachs großem lateinischen Magnificat gehörigen Virga Jesse floruit erweist. Dieses wurde für die Weihnachts-Vesper zu Leipzig componirt; die Cantate 5) kann also nicht für den ersten Weihnachtstag 1723 geschrieben sein, da sonst die Umarbeitung älter sein müßte, als die ursprüngliche Gestalt. Folglich bleibt nur 1) übrig. Diesem Resultat entspricht das Wasserzeichen der Originalstimmen (s. Nr. 9 dieses Anhangs), zu seiner weiteren Befestigung trägt der Umstand bei, daß die Partie der Oboe im A moll-Duett bei einer späteren Aufführung von Bach der obligaten Orgel zuertheilt ist: dieses war erst nach der 1730 erfolgten Abänderung des Rückpositivs an der Thomasorgel möglich, also muß die Cantate vor diesem Jahre geschrieben sein.

Von den Magnificat-Compositionen Bachs besitzen wir nur noch eine, und ob es überhaupt mehr als zwei gegeben hat, darf man wohl bezweifeln. Die diplomatischen Merkmale der Partitur verweisen sie in den Zeitraum 1723–1727 (s. Nr. 9 dieses Anhangs). Die Wahrscheinlichkeit, daß sie zu Weihnachten 1723 und nicht erst 1724, 1725 oder 1726 entstand, wird durch die Anknüpfung derselben an eine Kuhnausche Cantate erhöht.

15. (S. 214.) Cantaten auf den zweiten Christtag sind nur noch vier übrig:

1) Christum wir sollen loben schon

2) Dazu ist erschienen der Sohn Gottes

3) Selig ist der Mann, der die Anfechtung erduldet

4) Und es waren Hirten in derselbigen Gegend auf dem Felde.

Von ihnen trägt 1) als Wasserzeichen den Halbmond ohne ein correspondirendes Zeichen auf der andern Bogenhälfte: das diplomatische Merkmal der Periode 1735–1750 (s. Nr. 56 dieses Anhangs). 4) gehört zum Weihnachts-Oratorium, fällt also in das Jahr 1734. Das Wasserzeichen von 3) ist der Schild mit gekreuzten Schwertern; wenn sich überhaupt hierauf eine Zeitbestimmung gründen läßt, so ist es jedenfalls nicht die der ersten anderthalb Leipziger Jahre, wie in Nr. 30 dieses Anhangs auseinandergesetzt werden soll. Es bleibt also 2) in Uebereinstimmung mit den Papiermerkmalen (s. Nr. 9 dieses Anhangs).

[781] 16. (S. 215.) Die gleiche Zahl von Cantaten, wie für den zweiten, liegt für den dritten Christtag vor:

1) Herrscher des Himmels erhöre das Lallen

2) Ich freue mich in dir

3) Sehet, welch eine Liebe

4) Süßer Trost, mein Jesus kommt.

1) gehört zum Weihnachts-Oratorium. 2) entstand zu gleicher Zeit mit dem sechsstimmigen Sanctus, welches Bach hernach der H moll-Messe einverleibte. Dieses Sanctus ist zwischen 1735 und 1737 componirt. Gegen 4) spricht das diplomatische Merkzeichen: der Schild mit gekreuzten Schwertern. Ueber 3) s. außerdem Nr. 9 dieses Anhangs. Eine Andeutung, daß Picander der Dichter von 3) sein könnte, liegt im Text des Alt-Recitativs. Ziemlich übereinstimmend mit diesem heißt es bei Picander zum Sonntag Quasimodogeniti aus dem Jahre 1729:


Welt, behalte du das deine,

Denn mein Jesus bleibet meine;

Hab ich diesen Schatz in mir,

So verlang ich nichts mehr hier,

Fülle, Reichthum und Erbarmen

Hab ich stets in Jesu Armen.


17. (S. 216.) Die Neujahrs-Cantaten der fünf Jahrgänge sind vollständig erhalten, nämlich:

1) Gott, wie dein Name so ist auch dein Ruhm

2) Herr Gott, dich loben wir

3) Jesu, nun sei gepreiset

4) Lobe den Herrn, meine Seele

5) Singet dem Herrn ein neues Lied.

Außerdem als 6) die zum Weihnachts-Oratorium gehörige »Fallt mit Danken, fallt mit Loben«. Von 5) glaubte Rust, daß nur die vier Singstimmen und zwei Violinen vorhanden wären, vergl. B.-G. XII2, Vorwort S.V. Indessen liegt auch ein bedeutender Theil der autographen Partitur vor in Gestalt einer bisher für selbständig gehaltenen Cantate »Lobe Zion deinen Gott«, welche die königl. Bibliothek zu Berlin aufbewahrt. Daß diese nicht vollständig ist, läßt schon das Fehlen jeder Ueberschrift, ja selbst des stehenden J.J. über dem Anfange der ersten Seite vermuthen, ferner der Umstand, daß jetzt die Cantate mit einer Arie in A dur beginnt und mit einem Choral in D dur schließt, endlich daß zu diesem Choral, während im übrigen nur Streichinstrumente begleiten, noch drei Oboen, drei Trompeten und Pauken mitwirken. Die Zusammengehörigkeit der Partitur und der unvollständigen Stimme zu »Singet dem Herrn« scheint schon L. Erk (Johann Sebastian Bachs mehrstimmige Choralgesänge und geistliche Arien. Zweiter Theil. S. 124 unter Nr. 247) erkannt zu haben. Sie wird evident nicht nur durch die Congruenz der Tonart und die in Partitur und Stimmen gleichen Wasserzeichen, sondern besonders auch durch die von Picander zum ersten Jubeltage der Augsburgischen Confession (1730) gefertigte Cantaten-Dichtung. Diese ist durchaus nur eine Umdichtung [782] des Textes der in Rede stehenden Neujahrscantate. Der Eingangs-Bibelspruch ist geblieben, die Construction des zweiten Satzes gleichfalls, nur daß die zwischen die Choralzeilen geschobenen Recitative theils etwas erweitert, theils etwas verkürzt sind. Genau angepaßt der bereits vorhandenen Musik sind die Worte zur Arie und zum Duett, wie folgende Gegenüberstellung augenscheinlich macht:


Arie der Neujahrs-Cantate.


Lobe, Zion, deinen Gott,

Lobe deinen Gott mit Freuden!

Auf erzähle dessen Ruhm,

Der in seinem Heiligthum

Fernerhin dich als dein Hirt

Will auf grünen Auen weiden.


Arie der Jubel-Cantate.


Lobe, Zion, deinen Gott,

Lobe herrlich seinen Namen.

Auf! erzähle, denke dran,

Was der Herr an uns gethan,

Darum bete für ihn an,

Rühme seines Wortes Saamen.


Duett der Neujahrs-Cantate.


Jesus soll mir alles sein,

Jesus soll mein Anfang bleiben,

Jesus ist mein Freudenschein,

Jesu will ich mich verschreiben,

Jesus hilft mir durch sein Blut,

Jesus macht mein Ende gut.


Duett der Jubel-Cantate.


Selig sind wir durch das Wort,

Selig sind wir durch das Gläuben,

Selig sind wir hier und dort,

Selig, wenn wir treu verbleiben,

Selig, wenn wir nicht allein

Hörer, sondern Thäter sein.


Es kann kein Bedenken erregen, daß der letzte Text in Picanders Gedichten Aria überschrieben ist, da die Bedeutung dieses Wortes auch bei Bach sich keineswegs auf ein einstimmiges Gesangstück beschränkt. Der Schlußchoral in der Jubelcantate ist die dritte Strophe des Liedes »Es woll uns Gott genädig sein« und auch die beiden noch übrigen Recitative weichen in ihrer metrischen Form von den in der Neujahrs-Cantate befindlichen ab. Jedenfalls aber wird aus den dargelegten Verhältnissen nicht nur die Zusammengehörigkeit der obengenannten Handschriften, sondern auch das ersichtlich, daß in ihren wesentlichen Theilen die Jubelcantate »Singet dem Herrn« nicht, wie bisher angenommen wurde, als verloren zu betrachten ist. Selbst der Schlußchoral dürfte in der Trinitatis-Cantate »Lobe den Herrn meine Seele« erhalten sein, worüber das nähere bei andrer Gelegenheit (s. Nr. 42 dieses Anhangs) gesagt werden soll. Es würde demnach nichts weiter fehlen als die Recitative. – Was nun die [783] erste Aufführung der Neujahrs-Cantate »Singet dem Herrn« zum 1. Jan. 1724 wahrscheinlich macht, sind vor allem ihre diplomatischen Merkmale (s. Nr. 9 dieses Anhangs), welche sie weder mit 1) noch 2) noch 3) gemeinsam hat. 1) ist auch, deshalb unmöglich, weil ihr Text von Picander erst für Neujahr 1729 gedichtet wurde. 3) wird durch seine Wasserzeichen in die Zeit um 1736 verwiesen (s. Nr. 56 dieses Anhangs). 2) hat als Wasserzeichen einen Adler, worauf sich ein Schluß auf die Entstehungszeit nicht gründen läßt, da diese Figur in Bachschen Manuscripten aus verschiedenen Zeiten sich findet. Aber in einer später hinzugeschriebenen Stimme für Violetta sind die Buchstaben M A zu bemerken, das Merkzeichen für 1727–1736 (s. Nr. 33 dieses Anhangs). Folglich ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß das Werk selbst vor 1727 fällt, also in dieselbe Zeitperiode wie 5); wenn dieses der Fall ist, so könnte es auch zum Neujahr 1724 seine erste Aufführung erlebt haben, und würde demnach 5) auf 1725, 1726 oder 1727 zu setzen sein (s. weiteres hierüber unter Nr. 29 dieses Anhangs). Indessen die größere Wahrscheinlichkeit hat es doch immer, daß 5) mit »Christen ätzet diesen Tag«, dem C dur-Sanctus, demMagnifcat, »Dazu ist erschienen«, »Sie werden aus Saba alle kommen«, »Mein liebster Jesus ist verloren«, »Erfreute Zeit im neuen Bunde«, »Christ lag in Todesbanden« u.s.w. – alles Werke, die dieselben diplomatischen Merkmale tragen – einem und demselben engen Zeitabschnitte angehört. In welcher Lebensperiode Bachs endlich 4) unterzubringen ist, darüber kann, da Originalmanuscripte einstweilen gänzlich fehlen, nur nach innern Gründen entschieden werden. Hier wird folgendes genügen. Für den vierten Abschnitt von 4), eine Tenor-Arie, lautet der Text:


Tausendfaches Unglück, Schrecken,

Trübsal, Angst und schneller Tod,

Völker, die das Land bedecken,

Sorgen und sonst noch mehr Noth

Sehen andre Völker zwar,

Aber wir ein Segensjahr.


Es wird also auf große gleichzeitige Kriegsereignisse Bezug genommen, von denen Sachsen unberührt blieb. Dies paßt nicht auf den Zeitraum von 1723–1730, während dessen ganz Europa im Frieden lebte.

18. (S. 218.) Außer der Cantate »Sie werden aus Saba alle kommen« sind nur noch zwei für das Epiphaniasfest vorhanden: »Liebster Emanuel, Herzog der Frommen« und »Herr, wenn die stolzen Feinde schnauben«. Die letztere bildet den sechsten Theil des Weihnachts-Oratoriums, die Cantate »Liebster Emanuel« gehört aus diplomatischen Gründen in die Zeit von 1735 an (s. Nr. 56 dieses Anhangs). Wenn hier und da, z.B. bei Mosewius (Johann Sebastian Bach in seinen Kirchen-Cantaten und Choralgesängen S. 21) eine Epiphanias-Musik »Die Könge aus Saba kamen dar« angeführt wird, so ist darunter die Cantate »Sie werden aus Saba alle kommen« zu verstehen, deren zweiter Satz in einigen Abschriften fälschlich vor dem ersten steht. Nicht nur die gleichen Wasserzeichen (s. Nr. 9 dieses Anhangs), sondern auch die im Texte angegebenen [784] musikalischen Uebereinstimmungen nöthigen dazu, die Compositionen »Sie werden aus Saba« und »Christen ätzet« in engste zeitliche Verbindung zu bringen. Wurde also letztere zum ersten Weihnachtstage 1723 componirt, so die erstere ganz gewiß zum Epiphaniasfeste 1724.

19. (S. 220.) Zu Mariä Reinigung hat Bach folgende Cantaten geschrieben:

1) Der Friede sei mit dir, du ängstliches Gewissen

2) Erfreute Zeit im neuen Bunde

3) Ich habe genug

4) Ich habe Lust

5) Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn

6) Mit Fried und Freud ich fahr dahin.

5) gehört in das Jahr 1727; s. hierüber S. 243. 3) betreffend wird weiter unten der Beweis geführt werden, daß sie um 1730 componirt sein muß. 6) gehört in die Periode von 1735 an (s. Nr. 56 dieses Anhangs). Daß von den übrigen Cantaten es die zweite sei, welche 1724 zur Aufführung kam, läßt sich vollständig freilich nicht beweisen. 4) ist verloren gegangen bis auf eine Spur, die sich in Breitkopfs Verzeichniß zur Michaelismesse 1761, S. 19, findet, wo es heißt: »Bachs, Joh. Seb. Capellm. und Musikdirectors in Leipzig Cantate: In Fest. Purificat. Mariae. Ich habe Lust zu etc. à 2 Oboi, 2 Violini, Viola, 4 Voci, Basso ed Organo. à 1 thl. 4 gr«. Absolutes Vertrauen verdient diese Angabe nicht, denn einige Zeilen weiter sind zwei Cantaten (»Herr Christ der einge Gottssohn« und »Gott der Hoffnung erfülle euch«) unter Bachs Namen aufgeführt, welche zweifellos nicht von ihm herstammen (vgl. Nr. 11 dieses Anhangs). Außerdem sagt der Herausgeber J.G.J. Breitkopf im Vorbericht des Verzeichnisses selbst: »Einen größern Fehler haben die geschriebenen Musicalien, in der öfters, theils aus Vorsatz, theils aus Irrthum, falschen Angabe des Verfassers. So wenig ich im Stande gewesen bin, auch durch Hülfe meiner Freunde, alle diese Unrichtigkeiten zu entdecken: desto mehr wird es mich erfreuen, wenn mir die Entdeckung derselben von Kennern mitgetheilet werden wird«. Jedoch die Unechtheit der Cantate »Ich habe Lust« zu beweisen, dazu fehlt es ebenfalls an Mitteln. 1) ist zu Mariä Reinigung und zum dritten Ostertage benutzt worden. In der Gestalt, in welcher sie vorliegt, paßt sie streng genommen für keinen der beiden Tage. Der erste Abschnitt, ein Bassrecitativ, und der Schlußchoral »Hier ist das rechte Osterlamm« beziehen sich nur auf Ostern und speciell das Evangelium des dritten Feiertages. Die Arie dagegen und das nachfolgende Recitativ machen sich ausschließlich mit Empfindungen zu schaffen, die durch das Evangelium des Marienfestes angeregt werden. Da die Arie das einzige frei erfundene Musikstück der Cantate ist, welches eine feste Form hat, so muß sie der ältere Bestandtheil, die Cantate also anfangs für das Marienfest bestimmt gewesen und erst später zum Osterfest überarbeitet worden sein. Man darf aber kaum annehmen, daß Arie, Recitativ und etwa ein für den Tag passender andrer Choral ihren ganzen anfänglichen [785] Bestand ausgemacht haben. Hier liegen Räthsel vor, die nur mit Hülfe der Originalmanuscripte zu lösen sein dürften; solche waren bis jetzt nicht zu entdecken, es sind nur spätere Abschriften bekannt. Den Text der Arie und des Recitativs möchte ich für Francksche Poesie halten:


Arie. Welt ade! ich bin dein müde,

Salems Hütten stehn mir an,

Wo ich Gott in Ruh und Friede

Ewig selig schauen kann.

Da bleib ich, da hab ich Vergnügen zu wohnen,

Da prang ich gezieret mit himmlischen Kronen.


Recit. Nun Herr regiere meinen Sinn,

Damit ich auf der Welt,

Solang es dir

Mich hier zu lassen noch gefällt,

Ein Kind des Friedens bin.

Und lasse mich zu dir aus meinen Leiden

Wie Simeon in Frieden scheiden.

Da bleib ich, da hab ich Vergnügen zu wohnen,

Da prang ich gezieret mit himmlischen Kronen.


Auch die Musik zu diesen Worten ist mir von jeher weimarischen Ursprungs erschienen und wer nur die erste Arie der Cantate »Komm, du süße Todesstunde« vergleicht, wird gewiß dieser Meinung beipflichten. In beiden tritt zu dem Sologesange ein stimmungsverwandter einstimmiger Choral, dort »Wenn ich einmal soll scheiden«, hier »Welt ade! ich bin dein müde« – Worte, welche durch den Arientext gleichsam frei reproducirt werden. Auch die Combination mit den Instrumentalstimmen ist eine ähnliche, manche Bewegungen derselben fast ganz übereinstimmend, übereinstimmend endlich auch die Grundempfindung des Stückes. Entstand aber die Cantate in Weimar, so wird man zögern müssen anzunehmen, daß sie schon 1724 wieder aufgeführt wurde, da Bach die erstmalige Feier des Tages Mariä Reinigung, weil es ein Festtag war, gewiß lieber mit einer neuen Musik beging, als mit der Wiederholung jener, wenn auch gefühlstiefen, so doch kleinen und anspruchslosen Composition. Keinerlei Hinderniß aber steht entgegen, in der Cantate 2), deren Papierzeichen sie grade in diese Zeit weist (s. Nr. 9 dieses Anhangs) die neucomponirte Musik zu erblicken.

20. (S. 221.) Folgendes sind die fünf Cantaten Bachs auf den ersten Ostertag:

1) Christ lag in Todesbanden

2) Denn du wirst meine Seele

3) Der Himmel lacht, die Erde jubiliret

4) Ich weiß, daß mein Erlöser lebt

5) Kommt eilet und laufet.

2) gehört in Bachs Jugendzeit, s. Bd. I, S. 225 ff. Für Leipziger Zwecke hat Bach sie später noch einmal wieder hervorgesucht, doch fällt diese Bearbeitung in die dreißiger Jahre (s. Nr. 55 dieses Anhangs). 3) ist in [786] Weimar componirt, s. Bd. I, S. 534 ff. Auch sie ist in Leipzig wieder aufgeführt, doch zuverlässig nicht zum ersten Osterfeste, das Bach dort erlebte. 4) ist gleichfalls in Weimar componirt, s. Bd. I, S. 495 ff. 5) steht in Zusammenhang mit der Cantate für den zweiten Ostertag »Bleib bei uns, denn es will Abend werden«, und diese entstand, wie später nachzuweisen ist, ebenfalls in den dreißiger Jahren (s. Nr. 56 dieses Anhangs). Folglich bleibt nur 1) übrig, welche ohnehin schon durch ihre diplomatischen Merkmale in die Periode 1724–1727 verwiesen wird (s. Nr. 9 dieses Anhangs).

21. (S. 228 und 234.) Von den Cantaten zum ersten Pfingsttage sind folgende übrig:

1) Erschallet ihr Lieder

2) O ewiges Feuer, o Ursprung der Liebe

3) Wer mich liebet, der wird mein Wort halten

4) Wer mich liebet (größere Composition).

Die Cantate 2) ist die Umarbeitung einer Trauungs-Cantate. Muß es überhaupt unwahrscheinlich erscheinen, daß Bach bei seiner ersten Pfingst-aufführung mit einem Arrangement debütirte, so läßt sich auch nachweisen, daß 2) zu gleicher Zeit mit Kirnbergers Partiturabschrift der Matthäus-Passion geschrieben ist. Wann Kirnbergers Abschrift entstand, wird sich ziemlich genau bestimmen lassen; hier genügt die Bemerkung, daß die Matthäuspassion 1729 componirt wurde. Ueber die Cantaten 3) und 4) beziehe ich mich auf Bd. I, S. 505 f. und S. 798 f. Nach den dort gemachten Mittheilungen fiele 3) ins Jahr 1716, 4) ins Jahr 1731. Letzteres muß ich auf Grund weiterer Forschungen jetzt für falsch erklären; die Cantate 4) wird, wie unter Nr. 55 nachgewiesen werden soll, 1735 entstanden sein. Ersteres bleibt bestehen. Daß trotz einer auf einer alten Copie der Partitur von 3) befindlichen chronologischen Notiz diese Cantate 3) nicht im Jahre 1731 componirt sein kann, ergiebt sich auch daraus noch, daß die Originalstimmen die Wasserzeichen der Periode 1723–1727 tragen, während die ebenfalls erhaltene autographe Partitur ein Wasserzeichen aufweist, das in keinem Leipziger Manuscript vorkommt. Bach muß demnach zur Cantate 3) in seiner ersten Leipziger Zeit neue Stimmen haben ausschreiben lassen, natürlich zum Zwecke einer abermaligen Aufführung. Daß diese nicht schon 1724 stattfand, läßt sich freilich mit Sicherheit nicht beweisen. Doch darf man auch hier annehmen, Bach habe nicht mit einem alten Werke debütirt. Wäre es aber doch der Fall gewesen, so würde 1) auf Pfingsten 1725 zu setzen sein. Die Entstehung der Composition vor 1730 steht fest. In dieses Jahr fällt die Einrichtung eines selbständig spielbaren Rückpositivs in der Thomaskirche (s. Nr. 4 dieses Anhangs). Dieses ist in dem Duett verwendet worden, aber, wie aus den Originalstimmen hervorgeht, erst bei einer wiederholten Aufführung. Ursprünglich war der Cantus firmus im Duett einem Orchesterinstrumente zuertheilt, was Bach wohl nicht gethan hätte, wenn ihm bei Composition des Werkes das Rückpositiv schon zu diesem Zwecke verfügbar [787] gewesen wäre. Weiter ergiebt sich, daß die Composition auch vor dem Jahre 1728 entstanden sein wird, da in den zur wiederholten Aufführung angefertigten Stimmen sich das Wasserzeichen M A findet, und das mit ihm versehene Papier von Bach seit dem Herbst 1727 gebraucht wurde. Das Wasserzeichen der älteren Stimmen der Cantate 1), welches Bd. I, S. 808 als Füllhorn oder Körbchen keine zutreffende Bezeichnung erhalten hat, ist dieses:


Anhang A

Es befindet sich in einem Papier von auffallender Schönheit und Stärke. Beides, die Qualität des Papiers und das Zeichen, werden wieder bemerkbar an einigen Originalstimmen der Weihnachts-Cantate »Christen, ätzet diesen Tag«; sodann an einigen autographen Stimmen der Cantate »Wachet, betet«. Diese, weimarischen Ursprungs, wurde in Leipzig mehre Male wieder aufgeführt, und zwar innerhalb des Zeitraums 1723–1727 entweder 1723 oder 1725 (s. Nr. 13 dieses Anhangs). Ferner findet sich dasselbe Papier mit demselben Zeichen in der autographen Partitur und einigen Original-Stimmen der Cantate »Himmelskönig, sei willkommen«. Sie wurde ebenfalls in Weimar – und zwar zu Palmarum – componirt und in Leipzig mindestens zwei Mal – und zwar zum Feste Mariae Verkündigung, da der Palmsonntag als Fastensonntag nicht musikalisch begangen wurde – wieder aufgeführt. Die eine Aufführung fällt laut Wasserzeichen M A in einer Originalstimme in die Periode ums Jahr 1730, die andre in die Periode 1723–1727 (s. Nr. 9 dieses Anhangs). Nun konnte aber diese Cantate, deren Text für Leipzig keine Umänderung erfuhr, nur dann für Mariä Verkündigung benutzt werden, wenn die Feier dieses Festes auf Palmsonntag fiel (s. S. 101). Dieses geschah zwischen 1723 und 1727 zweimal, nämlich 1723 und 1725. Zu Palmsonntag 1723 war aber Bach noch nicht in Leipzig. Also fand die erste Leipziger Aufführung der Cantate »Himmelskönig« am 25. März 1725 statt. Wir können somit die Entstehungszeit der Cantate »Erschallet ihr Lieder« mit ziemlicher Sicherheit auf den Zeitraum 1723–1725 einschränken. Im Jahre 1723 führte Bach in der Nikolai- und Thomaskirche noch keine Pfingstmusik auf; die Cantate »Erschallet ihr Lieder« könnte also, falls sie 1723 componirt sein sollte, nur für die Universitätskirche bestimmt gewesen sein. Dieses anzunehmen verwehrt der Umstand, daß sie mit einer Cantate auf den vier Wochen vor Pfingsten fallenden Sonntag Jubilate zu einer und derselben Zeit componirt zu sein scheint; ich meine die Cantate »Weinen, Klagen«. Erstens nämlich sind Papier und Wasserzeichen der Manuscripte dieselben. Zweitens ist die Beschaffenheit des Textes eine sehr verwandte und derselbe sicherlich ebenfalls von Franck gedichtet. Drittens kommen [788] in der Cantate »Weinen, Klagen« ebenso wie in »Erschallet ihr Lieder« und auch in der Ostercantate »Christ lag in Todesbanden« die bei Bach während der Leipziger Zeit übrigens ungebräuchlichen doppelten Violen vor. Ist aber »Weinen, Klagen« mit »Erschallet ihr Lieder« in demselben Jahre componirt, so kann dieses nicht das Jahr 1723 sein, da in ihm Bach erst zu Pfingsten an der Universitätskirche, und zum 1. Trinitatis-Sonntage als Thomas-Cantor seine Wirksamkeit begann. Wir bleiben somit bei den Jahren 1724 und 1725 stehen.

22. (S. 229.) Die chronologische Bestimmung stützt sich nur auf die diplomatischen Merkmale des Papiers (s. Nr. 9 dieses Anhangs) und den Umstand, daß eine Francksche Dichtung benutzt ist. Dieses that Bach eben in der frühesten Leipziger Zeit; zum Trinitatisfeste 1723 aber hatte er sein Amt als Thomascantor noch nicht angetreten. Ich habe hier einen Bd. I, S. 809 (Nr. 28) begangenen Irrthum zu berichtigen. Wiederholte Untersuchung hat mich überzeugt, daß das Manuscript der Cantate »O heilges Geist- und Wasserbad« auf der Amalienbibliothek kein Autograph Bachs, sondern eins seiner Frau Anna Magdalena ist. Die grade hier besonders überraschend hervortretende Aehnlichkeit der Handschriften war der Grund meines Irrthums.

23. (S. 230.) Der Sonntag nach Neujahr kommt bekanntlich nicht in jedem Kirchenjahre vor. So lange Bach in Leipzig lebte, ist er nur in folgenden Jahren eingetreten: 1724, 1727, 1728, 1729, 1733, 1734, 1735, 1738, 1739, 1740, 1744, 1745, 1746, 1749, 1750. Von diesen Jahren kommt noch 1728 in Wegfall, da wegen des Todes der Königin Christiane Eberhardine vom 7. September 1727 bis zum Epiphanias-Fest 1728 »das Orgelschlagen, alle anderen Saiten- und Freuden-Spiele, das Figuralsingen in allen Kirchen, bei Hochzeiten, Kindtauffen, Leichenbegängnissen, auf der Gasse, von den Schülern vor den Thüren« u.s.w. verboten war (Consistorial-Verord nung in einem Actenfascikel auf dem Ephoralarchiv zu Leipzig »Trauer-Feiern beim Absterben der sächsischen Fürsten. Vol. I. von 1656 an«). Wir besitzen noch eine zweite Cantate Bachs auf den Sonntag nach Neujahr, »Ach Gott, wie manches Herzeleid« (B.-G. XII2, Nr. 58), deren Originalstimmen das Zeichen M A tragen. Hiernach fällt die Composition derselben entweder 1729, oder 1733–35. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß Bach in diesen selben Jahren für einen verhältnißmäßig selten vorkommenden und nicht eben wichtigen Sonntag noch eine zweite Composition gemacht haben sollte, und der reichliche Gebrauch des einfachen vierstimmigen Choralsatzes macht die Entstehung von »Schau lieber Gott« schon in dieser mittleren und noch mehr in der späteren Zeit zweifelhaft. Dagegen aber findet er sich in den ersten Leipziger Jahren mehrfach, z.B. in der schon besprochenen Weihnachtsmusik »Dazu ist erschienen der Sohn Gottes« (vgl. Nr. 15 dieses Anhangs) und in der zum 1. Sonntage nach Epiphanias des Jahres 1724 geschriebenen Cantate »Mein liebster Jesus ist verloren«. Abgesehen [789] von diesen Erwägungen gehört übrigens die Cantate »Schau lieber Gott« schon wegen der diplomatischen Merkzeichen in die Periode 1723–1727 (s. Nr. 9 dieses Anhangs). Sie kann demnach nur für 1724 oder 1727 componirt sein. Die genannte Art der Choralverwendung scheint sie aber nahe an »Dazu ist erschienen« und »Mein liebster Jesus« heranzurücken. Es kommt hinzu, daß sie im Text mit der letzteren auch sonst noch eine nicht zu verkennende Aehnlichkeit hat. In beiden findet sich ein als Arioso mit imitirendem Grundbass behandelter Bibelspruch. In beiden ferner ein aus vier trochäischen und zwei daktylischen Tetrapodien gebildeter Arientext, wie ein solcher aus der Cantate »Der Friede sei mit dir, du ängstliches Gewissen« in Nr. 19 dieses Anhangs angeführt worden und übrigens in den Bachschen Cantaten selten zu finden ist.

24. (S. 232.) Original-Partitur und -Stimmen sind auf der königl. Bibliothek zu Berlin. Erstere ist unvollständig: sie enthält das erste Stück ganz, das zweite fragmentarisch, das dritte ohne Text, das vierte fragmentarisch; alles übrige fehlt. In beiden Continuo-Stimmen steht bei der Alt-Arie: senza Basso. Es liegt aber eine autographe bezifferte Cembalo-Stimme in A dur bei. Der Cembalo-Bass geht mit der Grundstimme der Partitur durchweg in der tieferen Octave, trägt aber Bezifferung auch bei den Schluß-Cadenzen und wo sonst noch die Oboen pausiren. Man erkennt hieraus deutlich die Thätigkeit des Cembalo als Directions-Instruments (vgl. S. 158 ff. dieses Bandes). Wesentlich für die Gesammtwirkung kann es nicht sein sollen, weil durch den Octaven-Bass der Tendenz, dem Stücke einen lichten und verklärten Charakter zu geben, gradeswegs entgegen gearbeitet würde. Um aber die Musicirenden zu leiten und zusammen zu halten war der tiefere Bass ein sehr geeignetes Mittel: er fiel den Umstehenden vernehmlicher ins Gehör und war doch wieder nicht so stark vernehmlich, daß er die Zuhörenden gestört hätte. Die Generalbass-Accorde, während die Oboen pausiren, dienen dem nämlichen Zweck, da sie dem Fortgange eine größere Sicherheit und Verständlichkeit zu Gunsten der Mitwirkenden verleihen; für die Wirkung auf die Zuhörer sind sie unwesentlich, indem sich der Harmoniengang auch mittelst des Basses allein begreift. Folgerichtig wird auch in Breitkopfs Verzeichniß zur Michaelismesse 1761, S. 19 das Cembalo gar nicht erwähnt; es heißt dort einfach: »Cantate: In Dom. I. Epiph. Mein liebster Jesus ist etc. à 2 Oboi, 2 Violini, Viola, 4 Voci, Basso ed Organo.« – Es darf angenommen werden, daß bei ähnlichen Solostücken, z.B. in der Sopran-Arie des Himmelfahrts-Oratoriums (B.-G. II, S. 35 ff.), von Bach ebenso verfahren wurde.

25. (S. 233). Der vierte Epiphanias-Sonntag kam während der Zeit von 1724–1750 nicht vor in den Jahren 1725, 1728, 1731, 1733, 1736, 1738, 1739, 1741, 1742, 1744, 1747, 1749, 1750. Da nach Ausweis der Wasserzeichen die Cantate »Jesus schläft« in die Periode 1723–1727 gehört (s. Nr. 9 dieses Anhangs), so müßte sie, wenn nicht [790] 1724, dann jedenfalls 1726 oder 1727 componirt sein. Von diesen beiden Jahren kommt aber 1727 deshalb in Wegfall, weil 1727 auf den 4. Epiphanias-Sonntag das Fest Mariä Reinigung fiel und demnach keine gewöhnliche Sonntagsmusik gemacht werden konnte. Also kommen nur die Jahre 1724 und 1726 in Frage. Nun findet sich aber auf der letzten Seite der autographen Partitur ein durchstrichener fragmentarischer Entwurf zum ersten Chor der Epiphanias-Cantate »Sie werden aus Saba alle kommen«. Hieraus geht hervor, daß beide Cantaten in dieselbe Zeit gehören, denn es ist bei Bachs starkem Verbrauch von Notenpapier undenkbar, daß er nach einem Zeitraum von doch wenigstens zwei Jahren noch einen Bogen benutzt haben sollte, der anfänglich zum Concept der Cantate »Sie werden aus Saba« bestimmt gewesen war. Wenn also dieses Werk zum Epiphaniasfeste 1724 componirt ist, so muß die Cantate »Jesus schläft« in demselben Jahre entstanden sein.

26. (S. 236.) Die chronologische Bestimmung stützt sich zunächst auf die Wasserzeichen (s. Nr. 9 dieses Anhangs) und sodann auf die ähnliche Factur der ersten Sätze in dieser Cantate und der Trinitatismusik »O heilges Geist- und Wasserbad«. Weitere Stützpunkte lassen sich nicht gewinnen. Wer aber die immer wiederkehrende Erscheinung beobachtet hat, daß Bach es in neuen und eigenartigen Formen nicht bei einem einzigen Versuche bewenden zu lassen pflegt, sondern nicht eher ruht, bis er ihr Wesen nach verschiedenen Seiten hin zum Ausdrucke gebracht und in gewissem Sinne erschöpft hat, wird jener Aehnlichkeit eine beträchtliche Beweiskraft beimessen.

27. (S. 237.) Das Evangelium erzählt von der wunderbaren Heilung, welche Christus an einem Taubstummen vollzog. An dieses Ereigniß eine Jubel-Cantate knüpfen über die unzähligen Segnungen, mit welchen Gott die Menschen lebenslang überschüttet, ist zwar nicht ganz unmöglich, liegt aber, ohne irgend ein andres mitwirkendes Motiv, doch recht fern. Vollends wenn man die Einzelheiten des Textes betrachtet, überzeugt man sich, daß der Hauptzweck der Cantate nicht die Feier des 12. Trinitatis-Sonntags hat sein können. Nach diesem Hauptzwecke nun haben wir nicht weit zu suchen, denn in die Zeit des Sonntags fiel ungefähr auch die jährliche Rathswahl. Und vergleichen wir die Texte andrer Rathswahl-Cantaten, wie »Preise Jerusalem den Herrn« (B.-G. XXIV, Nr. 119), »Wir danken dir Gott, wir danken dir« (B.-G. V1, Nr. 29), so beweist die übereinstimmende Haltung derselben, daß die Rathswahl in der That der eigentliche Zweck gewesen sein muß. Ueberdies hat Bach, um den Zweck noch schärfer hervorzuheben, später den Text theilweise umarbeiten und mit ausgesprochenen Beziehungen auf die Obrigkeit ausstatten lassen. Diese Umarbeitung, welche auch eine musikalische Umgestaltung nach sich zog, hat um das Jahr 1730 stattgefunden. Denn die zu diesem Zwecke in die Originalstimmen eingefügten neuen Stimmblätter weisen als Wasserzeichen die Buchstaben M A auf (s. Nr. 33 dieses Anhangs), während [791] die älteren Stimmen die diplomatischen Merkmale der Periode 1723–1727 tragen (s. Nr. 9 dieses Anhangs). Ueber das Verhältniß der Umarbeitung zur Originalgestalt im Einzelnen ist die Ausgabe der Bach-Gesellschaft nachzusehen. Nun findet sich Takt 16 des zweiten Recitativs der älteren Fassung eine doppelte Lesart im Texte. Es heißt dort: »Ach sei mir nah und sprich dein kräftig Hephata!« Darin liegt eine wörtliche Bezugnahme auf das Sonntags-Evangelium; so konnte nur bei der Sonntags-Aufführung gesungen werden. Ueber »Hephata« steht als Variante das allgemeinere »gnädig Ja«. Dieses ist, wie man deutlich erkennt, von Bach selbst erst dann übergeschrieben, als die von Anna Magdalena angefertigte Stimme schon vollendet vorlag. Auf die um 1730 erfolgte Bearbeitung kann sich die Textänderung nicht beziehen, denn durch jene Bearbeitung wurde das gesammte Recitativ entfernt und durch ein neues ersetzt. Wir dürfen also zweierlei mit Sicherheit schließen: 1) Die erste Aufführung der Cantate im Rathswahl-Gottesdienste hat zwischen 1723 und 1727 stattgefunden. 2) Die Aufführung zum 12. Trinitatis-Sonntage ging der Aufführung zur Rathswahl vorher. Und da die Cantate augenscheinlich von Beginn an viel mehr für letzteren als für ersteren Zweck geschaffen wurde, so müssen beide Aufführungen in demselben Jahre vor sich gegangen sein; es kann demnach die Entstehung der Composition nur in ein Jahr fallen, in welchem der 12. Trinitatis-Sonntag früher fiel, als der Rathswahl-Gottesdienst desselben Jahres. Von den Jahren, welche in Frage kommen, fällt 1723 fort, da für dieses bereits eine Bachsche Rathswahlmusik vorliegt (s. S. 192 dieses Bandes). 1726 fiel der Rathswahlgottesdienst auf 26. Aug., der 12. Trinitatis-Sonntag auf 8. Sept., also nach jenem; 1727 der Rathswahlgottesdienst auf 25. Aug., der 12. Trinitatis-Sonntag auf 31. Aug., also ebenfalls nach jenem. Mithin bleiben übrig die Jahre 1724 und 1725. 1724 war der 12. Trinitatis-Sonntag am 27. Aug., der Rathswahlgottesdienst am 28. Aug.; 1725 jener am 19. Aug., dieser am 27. August. Wenn ich mich zwischen diesen beiden Jahren für 1724 als das Entstehungsjahr der Cantate »Lobe den Herrn, meine Seele« entscheide, so liegt der Grund auf der Hand. Grade weil 1724 der 12. Trinitatis-Sonntag und der Tag des Rathswahlgottesdienstes unmittelbar neben einander lagen, konnte Bach leicht auf den Ge danken kommen, eine Musik so einzurichten, daß sie für beide Tage brauchbar war, und somit durch eine That zweien Pflichten zu genügen. Vgl. noch Nr. 40 dieses Anhangs, am Ende.

28. (S. 244.) Die autographe Partitur zeigt in ihren vier ersten Bogen das weimarische Wasserzeichen, in den beiden letzten M A; die Stimmen dagegen tragen die Merkmale der Periode 1723–1727 (s. Nr. 9 dieses Anhangs). In der autographen Partitur der Trauerode auf den Tod der Königin Christiane Eberhardine, welche am 15. October 1727 vollendet wurde, findet sich zum ersten Male das Papier mit M A durchweg verwendet. Es muß also wohl die Anfertigung des neuen Manuscripts von »Herz und Mund« in die Uebergangszeit fallen, als welche der Sommer 1727 anzusehen ist.

[792] 29. (S. 245.) Unter Nr. 17 dieses Anhangs ist über die diplomatischen Merkzeichen der Cantate schon gesprochen und die Möglichkeit, daß sie bereits zum 1. Januar 1724 componirt sei, als eine zwar vorhandene aber doch schwache bezeichnet worden. Streng genommen läßt sich aus den Wasserzeichen nur folgern, daß die Cantate nicht später als in den ersten dreißiger Jahren geschrieben ist. Denn die Periode, in welcher Bach das Papier mit M A gebrauchte, erstreckt sich über neun Jahre (1727–1736); er gebrauchte aber während dieser Zeit auch verschiedene andre Papiersorten, hiernach hindert also nichts anzunehmen, daß auch unsere Neujahrs-Cantate später als 1727 entstanden ist und nur vor 1736 noch durch die bewußte Violetta-Stimme completirt wurde. Wenn ich sie dennoch in die erste Periode versetze, so bestimmen mich hierzu innere Gründe. Die Nachbildung des Telemannschen Stils in ihr ist so auffallend, daß sie nicht unbewußt und gleichsam zufällig geschehen sein kann, sondern eine Absicht ganz deutlich verräth. Diese Absicht findet ihre Erklärung eben in den musikalischen Verhältnissen, unter denen Bach die ersten Jahre in Leipzig verbrachte. Sie machten gewisse Rücksichten auf den herrschenden Geschmack wünschenswerth, und Bach nahm sie innerhalb der durch seine Eigenthümlichkeit gezogenen Gränzen auch nicht ungern. Gegen 1730 hin war er aber in Sachen des Leipziger musikalischen Geschmackes schon die tonangebende Persönlichkeit geworden, und ich wüßte kein Beispiel, daß er es seitdem noch einmal unternommen hätte, so absichtsvoll in einem andern Stile zu schreiben.

Daß Bach von der Kunst der bedeutendsten deutschen Tonmeister seiner Zeit innerlich berührt worden sei, war schon Winterfelds Meinung (Ev. Kirchenges. III, S. 385). Der Sache nach bin ich einverstanden, kann aber die Beispiele, durch welche Winterfeld seine Behauptung zu erhärten sucht, nicht als beweiskräftig ansehen. Ich wüßte in den Cantaten »Jesus schläft« und »Halt im Gedächtniß Jesum Christ« nichts aufzuzeigen, was auf eine directe Beeinflussung durch die Hamburger Meister hindeutete. Auch ist die Vermuthung Winterfelds, daß Bach erst in der Zeit, da diese Compositionen entstanden, von der Musik der Hamburger nähere Kenntniß genommen habe, nicht zutreffend: bei Gelegenheit der Passionsmusiken wird nachgewiesen werden, daß Bach schon in Weimar eine Keisersche Passion zur Aufführung brachte. Was aber die Cantate »Gedenke Herr, wie es uns gehet« betrifft, in welcher sich Hasses Einfluß zeigen soll (Ev. K. III, S. 386 f.), so bin ich, bis nicht zuverlässigere Quellen geöffnet worden sind, in Bezug auf ihre Echtheit absolut ungläubig. Breitkopfs Verzeichniß zur Michaelismesse 1761, wo sie S. 19 allerdings unter Bachs Namen figurirt, ist, wie ich schon unter Nr. 19 dieses Anhangs gezeigt habe, kein ausreichender Bürge, ebensowenig die Handschrift 44 des Joachimsthalschen Gymnasiums zu Berlin. Allein der erste Chor der Cantate zeigt ein paar Anklänge an den Schlußchor des ersten Theils der Matthäus-Passion. Aber auch nur Anklänge, wirklich Bachscher Geist steckt gar nicht darin, noch weniger in den übrigen Stücken. In dem ganzen Werke findet sich fast keine polyphone Stelle und nicht [793] eine interessante Combination. Einzelne Beispiele helfen hier nichts; den Gesammteindruck halte ich für überzeugend.

30. (S. 246.) Die autographe Partitur und die Originalstimmen, welche auf der königl. Bibliothek zu Berlin sind, haben als Wasserzeichen einen Schild mit gekreuzten Schwertern. Dieses Merkmal findet sich sehr häufig in dem Papier aus jener Zeit und in dem von Bach gebrauchten in sehr verschiedenen Zeiten seines Lebens. Die Form variirt allerdings mehrfach, indessen, wo nicht die Linien des bekannten und eigenthümlichen Sachsenschildes deutlich hervortreten, ist sonst auf diesen Umstand kaum irgend ein Gewicht zu legen. So findet sich das Zeichen in cöthenschen Manuscripten, wie in der H moll-Partie (s. Bd. I, S. 834), in Theilen der Johannes-Passion; dann wieder in der Cantate »Gott, wie dein Name, so ist auch dein Ruhm«, welche zu Neujahr 1729 gedichtet wurde, und in der autographen Umdichtung der 1728 entstandenen Cantate »Vergnügte Pleißenstadt«, dann wieder in Theilen der Lucas-Passion, ferner in den Cantaten »Ihr werdet weinen und heulen« und »Gott fähret auf mit Jauchzen«, die um 1735 fallen, sowie in einer durch die Ernestische Angelegenheit veranlaßten Eingabe Bachs an den Rath vom 12. Aug. 1736. Daß aber in früheren Leipziger Jahren ein Papier mit solchen Zeichen von Bach gebraucht ist, wird dadurch keineswegs ausgeschlossen. Nur gestattet wenigstens das bis jetzt vorliegende Material nicht, dieses schon für die ersten anderthalb Jahre anzunehmen. Die Cantaten, welche es außerdem noch führen und über deren Entstehungszeit sich sonst noch irgend eine Angabe machen läßt, sind »Gottlob, nun geht das Jahr zu Ende« (Sonntag nach Weihnachten), »Unser Mund sei voll Lachens« (1. Weihnachtstag), »Liebster Jesu, mein Verlangen« (1. Sonntag nach Epiphanias). In die Leipziger Zeit gehören sie alle, daran kann bei der Beschaffenheit der Schrift und dem inneren Gehalte der Composition nicht gezweifelt werden. Die erste kann aber frühestens am 31. December 1724 aufgeführt sein, denn 1723 kam der Sonntag nach Weihnachten nicht vor; die zweite frühestens zum 25. Dec. 1724 aus Gründen, die in Nr. 14 dieses Anhangs auseinandergesetzt sind; die dritte frühestens am 7. Januar 1725, da für den 1. Sonntag nach Epiphanias des Jahres 1724 die Cantate »Mein liebster Jesus ist verloren« vorliegt. Daß man die Cantate »Gottlob, nun geht« nicht zuweit in die Leipziger Zeit hinabrücke (es könnte sich bis zum Jahre 1730 nur noch um die Jahre 1725 und 1726 handeln, da 1728 und 1729 der Sonntag nach Weihnachten im Kirchenjahre nicht vorkam und 1727 der Landestrauer wegen nicht musicirt wurde), verwehrt Neumeisters Dichtung, denn zu den Fünffachen Kirchenandachten griff Bach augenscheinlich nur in jener Zeit, da er sich mit Picander noch nicht völlig eingelebt hatte. Und ebenso muß man über den Franckschen Text »Alles nur nach Gottes Willen« denken. Auch er ist unzweifelhaft nicht in Weimar, sondern in Leipzig von Bach componirt, und gewiß auch in den früheren Jahren, aber nach Obigem wohl nicht vor 1725.

[794] 31. (S. 254.) Die autographe Partitur der Cantate, welche B-G. II, Nr. 20 abgedruckt ist, besitzt Herr Professor Rudorff in Lichterfelde bei Berlin. Sie besteht aus sechs Bogen, den Titel auf dem Umschlag hat Anna Magdalena Bach geschrieben. Nur im Papier des Umschlags und der ersten beiden Bogen finden sich die unter Nr. 9 dieses Anhanges mitgetheilten Wasserzeichen, in den andern Bogen ist ein Wasserzeichen überhaupt nicht zu erkennen. Diese andern Bogen enthalten alle übrigen Theile der Cantate mit Ausnahme des ersten Chors. Nicht nur das Papier ist verschieden; man bemerkt auch, daß die Notenlinien mit einem weniger breiten Rostral gezogen sind und Bach sich andrer Tinte zum Schreiben bedient hat. Ob hier nur äußere Umstände gewaltet haben, oder ob der größere Theil des Werkes später componirt ist, läßt sich hiernach nicht entscheiden. Es wäre wohl denkbar, daß dem Anfangschor ursprünglich eine andere Fortsetzung gefolgt wäre; daß er ein für sich bestehendes Stück ausgemacht haben sollte, ist des gleichzeitigen Umschlags wegen nicht möglich, denn für eine ganze Kirchen-Cantate wäre er zu kurz gewesen. Untersucht man nun die auf der Thomasschule zu Leipzig befindlichen Originalstimmen, so wird eine spätere Umgestaltung der Cantate mit Beibehaltung des ersten Chors allerdings sehr wahrscheinlich. Die Stimmen sind frühestens 1735 geschrieben, wie ihr Wasserzeichen ausweist (s. Nr. 56 dieses Anhangs). Nur in der Tenor- und Bassstimme zeigen sich die diplomatischen Merkmale der Periode 1723–1727. Bach wird also das Papier, auf welchem die erste Gestalt der Cantate fixirt war, ursprünglich nicht ganz aufgebraucht, sondern in dem Manuscript-Convolute noch einige leere Blätter vorgefunden haben, die er jetzt benutzte. Daß dergleichen öfter bei ihm vorgekommen ist, habe ich schon Band I, S. 813 dargethan.

32. (S. 265.) Die Originalstimmen der Cantate zeigen als Wasserzeichen theils eine kleine schildartige Figur, theils ein C, theils eine merkwürdige Figur mit einer Krause oben und zwei sackartig herabhängenden Zipfeln, welche sich nicht in der Mitte des Blattes, sondern näher zum Mittelknick des Bogens hin befindet. Dieses Zeichen findet sich außerdem nur noch in den Originalmanuscripten der Cantate »Ihr, die ihr euch von Christo nennet«, welche dem Jahre 1723 oder 1724 angehört (s. Nr. 12 dieses Anhangs); man wird daher die Cantate »Liebster Gott« in dieselbe Zeit verweisen müssen. Die Originalstimmen derselben, auf der Bibliothek der Thomasschule zu Leipzig befindlich, stehen in D dur statt in E dur, und im ersten Chor ist der Part der beiden Oboi d'amore zwei concertirenden Violinen zuertheilt. Die Vergleichung mit den Partiturabschriften der Cantate – denn eine autographe Partitur fehlt –, welche das Werk in E dur haben, macht es zweifellos, daß die letztere Tonart die originale ist. Da der Gebrauch der Oboi d'amore eine frühere Entstehung der Cantate als in Leipzig ausschließt, die Originalstimmen aber schon 1723 oder 1724 angefertigt sein müssen, so geht hieraus hervor, daß Bach das Arrangement, welches den Oboe-Bläsern ihre Aufgabe wesentlich erleichtert,[795] sehr bald nach Composition der Cantate und vielleicht bevor sie überhaupt zur öffentlichen Aufführung kam, vorgenommen haben wird.

33. Mit der Cantate »Wer nur den lieben Gott läßt walten« treten wir in eine neue Handschriften-Gruppe ein, deren Signatur die Buchstaben M A sind. Ich führe zunächst die zu dieser Gruppe gehörigen Cantaten auf, einschließlich der weltlichen und sonstigen Gelegenheits-Musiken, sowie einer Motette und Messe. Manche derselben zeigen neben M A auch noch andre Wasserzeichen, auf die ich später zurückkomme:

1. Ach Gott, wie manches Herzeleid (C dur)

2. Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf (Motette)

3. Der Herr ist mein getreuer Hirt

4. Erhöhtes Fleisch und Blut

5. Es ist das Heil uns kommen her

6. Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe

7. Gelobet sei der Herr, mein Gott

8. Geschwinde, geschwinde, ihr wirbelnden Winde (Der Streit zwischen Phöbus und Pan)

9. Herr Gott, Beherrscher aller Dinge

10. Ich glaube, lieber Herr

11. Ich liebe den Höchsten

12. Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ

13. In allen meinen Thaten

14. Jauchzet, frohlocket, auf preiset die Tage (Weihnachts-Oratorium)

15. Jauchzet Gott in allen Landen

16. Jesu nun sei gepreiset

17. Kyrie und Gloria der H moll-Messe

18. Laß, Fürstin, laß noch einen Strahl (Trauerode auf den Tod der Königin Christiane Eberhardine)

19. Laßt uns sorgen, laßt uns wachen (Cantate zum Geburtstage des Churprinzen)

20. Nun danket alle Gott

21. Preise dein Glücke, gesegnetes Sachsen (Cantata gratulatoria in adventum Regis)

22. Schweigt stille, plaudert nicht (Caffee-Cantate)

23. Schwingt freudig euch empor

24. Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut

25. Tönet, ihr Pauken, erschallet Trompeten (Cantate der Königin zu Ehren)

26. Wachet auf, ruft uns die Stimme

27. Was frag ich nach der Welt

28. Was Gott thut, das ist wohl gethan (G dur, Composition des Kirchenliedes)

29. Was soll ich aus dir machen, Ephraim

30. Wer da glaubet und getauft wird

[796] 31. Wer nur den lieben Gott läßt walten

32. Wir danken dir Gott.

Die älteste dieser Compositionen ist die Trauerode: Bach vollendete sie, laut eigenhändiger Notiz auf der autographen Partitur, am 15. Oct. 1727. Auch bei andern unter ihnen findet sich das Datum der Entstehung angemerkt: die Cantate »Wir danken dir Gott« wurde hiernach 1731 geschrieben, »Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ« 1732, »In allen meinen Thaten« 1734, das Weihnachts-Oratorium 1734, »Laßt uns sorgen« 1733, »Tönet, ihr Pauken« 1733, »Preise dein Glücke« 1734. Die autographe Partitur der Motette »Der Geist hilft« trägt die Bestimmung zur Beerdigung des Rectors J.H. Ernesti; derselbe starb am 16. October 1729. Kyrie und Gloria der H moll-Messe überreichte Bach dem Churfürsten von Sachsen unter dem 27. Juli 1733 (s. B.-G. VI, S. XV). Für die Cantate »Wachet auf, ruft uns die Stimme«, welche auf den 27. Trinitatis-Sonntag geschrieben ist, muß bemerkt werden, daß dieser Sonntag während der Zeit, da Bach in Leipzig lebte, nur zweimal vorgekommen ist, nämlich 1731 und 1742. Der »Streit zwischen Phöbus und Pan« ist ein Gedicht Picanders und steht im dritten Theil seiner Gedichte S. 501 ff. Die Vorrede dieses Theils datirt vom 18. Februar 1732; die Ueberschrift der Dichtung sagt aus, daß die Aufführung dieses Drama per musica bereits stattgefunden habe. In demselben dritten Theil steht S. 564 ff. auch die Caffee-Cantate. Endlich sei noch erwähnt, daß die königl. Bibliothek zu Berlin ein bisher als Autograph angesehenes, mir jedoch als Handschrift Anna Magdalena Bachs erscheinendes Manuscript der Partita aus dem zweiten Theil der »Clavierübung« aufbewahrt, welches auch die Signatur M A trägt. Der zweite Theil der »Clavierübung« erschien laut den eigenhändigen handschriftlichen Zusätzen J.G. Walthers zu seinem Handexemplar des Lexicons, welches sich in der Bibliothek der Gesellschaft der Musikfreunde zu Wien findet, in der Ostermesse 1735. Nachdem das Werk gedruckt war, hatte Bach natürlich keine Veranlassung mehr, es abzuschreiben, oder für sich abschreiben zu lassen. Die Handschrift fällt also vor den genannten Termin, aber da das Werk doch gewiß erst nach Abschluß des ersten Theils der »Clavierübung« componirt wurde, auch nicht früher als 1731.

Die Zeit, wann Bach das Papier mit M A aufhörte zu gebrauchen, ist um 1736. Am 13., 15. und 19. August des Jahres 1736 verfaßte Bach drei Schriftstücke in Veranlassung seines Streites mit dem Rector Ernesti. In ihnen findet sich als Wasserzeichen ein Reiter, der auf einem Posthorn bläst. In Bachs musikalischen Manuscripten, soweit sie vorliegen, kommt dieses Wasserzeichen nur zweimal vor, in der Cantate »Schleicht, spielende Wellen« und in der autographen Partitur eines C moll-Concerts für zwei Claviere und Streichinstrumente, das sich im Besitze des im Herbst 1877 gestorbenen Herrn Grasnick zu Berlin befand und nun der königl. Bibliothek daselbst gehört (s. B.-G. XXI2, Nr. 3 und Vorwort S. IX). Aber nur die ersten acht Bogen des letzeren Manuscripts tragen obiges Wasserzeichen, im letzten Bogen steht M A und man sieht, daß dieser Bogen kurz zuvor von Bach für einen andern Zweck bestimmt gewesen [797] und dann zurückgelegt worden war: er trägt nämlich köpflings den Entwurf eines Cantaten-Anfangs (D dur; die Trompete beginnt:


Anhang A

Dieses Autograph fällt in die Zeit, in welcher Bach aufhörte, das Papier mit M A zu benutzen. Auf der Gränze der Periode steht auch »Was Gott thut, das ist wohlgethan«, eine Composition, die deshalb in das Jahr 1736 zu versetzen ist, weil sie mit der Cantate »Schleicht, spielende Wellen« dieselbe Art der Notirung für die Oboe d'amore theilt (s. das nähere hierüber unter Nr. 40 dieses Anhangs). Das häufigst vorkommende Wasserzeichen der um 1736 beginnenden letzten Periode ist ein Halbmond, der sich in der Form etwas von dem der Periode 1723–1727 unterscheidet, besonders aber daran erkennbar ist, daß ihm das correspondirende Zeichen der andern Bogenhälfte fehlt (s. das weitere hierüber in Nr. 56 dieses Anhangs). Mit dem Jahre 1737 scheint die Signatur M A ganz zu verschwinden, in einigen Autographen, wie der Cantaten »Wo soll ich fliehen hin«, »Jesu nun sei gepreiset«, kommen noch beide Zeichen neben einander vor.

34. (S. 269.) Durch die Signatur M A ist die Entstehungszeit der Cantate im allgemeinen begränzt (s. Nr. 33 dieses Anhangs). Eine größere Einschränkung dieses Zeitraumes ergiebt sich durch die Nöthigung, das Jahr 1731 und auch das Jahr 1732 oder 1733 auszuscheiden. Denn 1731 fiel auf den 5. Trinitatissonntag das Johannisfest und für 1732 oder 1733 liegt eine andre Cantate (»Siehe ich will viel Fischer aussenden«) vor. Indessen würde uns diese Einschränkung dem Ziele noch nicht viel näher bringen. Es existirt nun aber ein Gedicht Picanders (II. Thl., S. 89 der zweiten Auflage): »Bey dem Grabe Herrn C.K. Freyberg, den 6. Jul. 1728«., dessen erste Strophe lautet:


Geh eitle Welt, verbuhlte Dirne,

Verbirg vor mir dein Angesicht;

Die Schminke deiner glatten Stirne

Verführet meine Seele nicht.

Dein Anmuth ist ein Schau-Gerüchte,

Das die vergifften Sodoms-Früchte

In ausgezierten Schaalen weist.

Weg! schnöde Lust, die Hand zurücke,

Denn dieses ist ein schlechtes Glücke,

Wenn man den Tod in Töpffen speist.


Ihr möge die in der Cantate befindliche Paraphrase der fünfte Strophe des Neumarkschen Kirchenliedes gegenüber gestellt werden:

Denk nicht in deiner Drangsals Hitze,

Wenn Blitz und Donner kracht

Und dir ein schwüles Wetter bange macht,

Daß du von Gott verlassen seist.

[798] Gott bleibt auch in der größten Noth,

Ja gar bis in den Tod

Mit seiner Gnade bei den Seinen.

Du darfst nicht meinen,

Daß dieser Gott im Schooße sitze,

Der täglich, wie der reiche Mann,

In Lust und Freuden leben kann.

Der sich mit stetem Glücke speist

Bei lauter guten Tagen,

Muß oft zuletzt,

Nachdem er sich an eitler Lust ergötzt,

Der Tod in Töpfen! sagen. u.s.w.


Picander war in der Bibel sehr bewandert, und liebte es dies durch entlegene Anspielungen auch auf das alte Testament zu zeigen. Wie er in den »Erbaulichen Gedancken« S. 449 plötzlich Usas Frevel an der Bundeslade (Chronica I, 14, 7 ff.) citirt, so nimmt er hier Bezug auf eine Wunderthat des Propheten Elisa (Könige II, 4, 40: »da sie von dem Gemüse aßen, schrien sie und sprachen: O Mann Gottes, der Tod im Topfe!«). Daß diese Anspielung sowohl in der Paraphrase als in der Gedichtstrophe sich findet, würde, glaube ich, schon hinreichen, die Autorschaft Picanders für den Cantatentext zu beweisen, und den Hinweis unnöthig erscheinen lassen, wie grade auch Picander es liebt, Bibelstellen und Kirchenliedstrophen mit madrigalischen Versen zu durchweben. Es steckt aber in der Gedichtstrophe auch ein ganz vernehmlicher Anklang an die fünfte Strophe des Neumarkschen Liedes, über welches die Cantate componirt ist. Ich meine die Anwendung der Worte »Glücke« und »speist« in den beiden letzten Zeilen. Man lese nun erst die Paraphrase und darnach die Strophe und man wird den entschiedenen Eindruck haben, daß diese sehr bald nach jener gedichtet sein muß, als dem Verfasser der Klang und Fall der Worte der Paraphrase noch im Ohre lag. Und vergleicht man die Daten, an welchen das Grabgedicht überreicht und die Cantate aufgeführt wurde, so passen sie darauf: jenes geschah am 6. Juli, dieses – wenn eben das Jahr 1728 das richtige sein soll – am 27. Juni. Es kann hiergegen nicht in Betracht kommen, daß von den drei Continuostimmen der Cantate das Originalmanuscript der Orgelstimme den Halbmond trägt, das Merkzeichen der letzten, von 1735 beginnenden, Periode. Denn diese Stimme kann recht wohl später erst hergestellt worden sein.

35. (S. 273.) Ich kenne diese Cantate nur vermittelst der Partitur Franz Hausers, die er im Jahre 1833 nach den auf der Thomasschule zu Leipzig damals befindlichen, jetzt nicht mehr vorhandenen Stimmen anfertigte. Ihre Entstehungszeit läßt sich mit ziemlich viel Wahrscheinlichkeit in das Jahr 1730, das Datum ihrer ersten Aufführung demnach auf den 22. Januar 1730 fest stellen. 1729 hatte Bach wegen der Matthäuspassion und der cöthenischen Trauermusik zur Composition schwerlich Zeit und 1731 kam der dritte Epiphanias-Sonntag im Kirchenjahre nicht vor.

[799] 36. (S. 272, 275, 276, 278, 286, 302, 473.) Die Wasserzeichen der autographen Partitur und der meisten Originalstimmen sind diese:


Anhang A

Sie kommen insgesammt in folgender kleinen Anzahl von Cantaten vor:

1) Der Herr ist mein getreuer Hirt

2) Ehre sei Gott in der Höhe

3) Geist und Seele sind verwirret

4) Gott, wie dein Name so ist auch dein Ruhm

5) Herr Gott Beherrscher aller Dinge

6) Ich bin vergnügt in meinem Glücke

7) Ich habe genug

8) Ich liebe den Höchsten von ganzem Gemüthe

9) Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren: außerdem in einer weltlichen Cantate, nämlich

10) Der Streit zwischen Phöbus und Pan.

In den Originalmanuscripten von 1, 5, 7, 8 und 10 findet sich neben obigen auch das Zeichen M A (s. Nr. 33 dieses Anhangs), wodurch die Entstehungsperiode der Cantaten im allgemeinen schon begränzt wird. Außerdem gehört 4) in den Picanderschen Cantaten-Jahrgang und wurde zum 1. Januar 1729 gedichtet. Nun aber wird in Cantate 3) obligate Orgel verwendet; dieses konnte allerfrühestens 1730 geschehen (s. Nr. 4 dieses Anhangs). Ferner: die Originalstimmen von 5), welche sämmtlich M A aufweisen, sind von Philipp Emanuel Bach geschrieben und mit einzelnen eigenhändigen Zusätzen Seb. Bachs versehen. Sie entstanden also, als Emanuel Bach noch im elterlichen Hause war. Er verließ dasselbe im Jahre 1733, um sich nach Frankfurt an der Oder zu begeben1. Folglich muß Cantate 5) spätestens in diesem Jahre componirt sein. Sodann: [800] die Cantate 7) erfuhr später eine Umarbeitung. Die in Folge davon angefertigten neuen Stimmen zeigen in ihrem größten Theile als Wasserzeichen einen Adler und gegenüber einAnhang A (= HIR). Diese in Bachschen Manuscripten nur ganz vereinzelt zusammen vorkommenden diplomatischen Merkmale finden sich aber in dem der autographen Partitur der Glückwunsch-Cantate »Preise dein Glücke, gesegnetes Sachsen« angehefteten, von Bach selbst geschriebenen, Texte derselben. Die Cantate wurde zum 5. October 1734 aufgeführt; folglich muß die Composition der Cantate 7) früher fallen. Weiter: in der autographen Partitur der Cantate 8) sind die Violinen und Bratschen der Einleitungssinfonie von Takt 24 an eine ganze Weile, dann noch einmal an einer späteren Stelle und hier und da auch andre Partien von Wilhelm Friedemann Bach geschrieben. Im Juli 1733 wurde Friedemann Bach, welcher bis dahin bei seinem Vater gelebt hatte, Organist an der Sophienkirche zu Dresden (s. Bitter, Bachs Söhne II, S. 161). Uebrigens fiel in diesem Jahre von Estomihi bis zum vierten Trinitatis-Sonntage einschließlich die Kirchenmusik der Landestrauer wegen aus (s. »Trauer-Feiern beim Absterben der sächsischen Fürsten.Vol. I.« von 1656 an. Auf dem Ephoral-Archiv zu Leipzig), und 8) ist Pfingst-Cantate. Folglich kann dieselbe spätestens 1732 componirt sein. Endlich: den Text zu 10) hat Picander verfaßt; er findet sich im 3. Theil seiner Gedichte, S. 501 ff. Die Vorrede zu diesem Theil datirt vom 18. Februar 1732. Geht man die mit Seite 241 beginnenden »Schertzhafften Gedichte« durch, denen meistens Tag und Jahr ihrer Bestimmung beigedruckt sind, so merkt man, daß unter ihnen die chronologische Ordnung herrscht. Ein paar Ausnahmen kommen vor S. 395, 450 und 517. Sie betreffen aber immer nur den Monat, nie das Jahr. Cantate 10) ist ohne Datirung. Dies erklärt sich einfach daraus, daß sie offenbar für keinen besondern Zweck, sondern eben nur für eine Aufführung im Collegium musicum berechnet war, welches Bach damals schon dirigirte. Das unmittelbar vorhergehende Gedicht trägt den 1. November 1731, es folgen noch sieben Gedichte, die sämmtlich dem Jahre 1731 gehören, theilweise keinen Monatstag, theilweise ein älteres Datum als den 1. Nov. tragen, während eines – das letzte unter ihnen – dem 26. Dec. 1731 bestimmt ist. Das letzte überhaupt datirte Gedicht der Sammlung folgt diesem unmittelbar und ist mit 8. Januar 1732 bezeichnet. Dann schließen sich auf 18 Blättern noch »Arien«, der Text der Caffee-Cantate und Register an. Aus allem obigen ergiebt sich, daß die Dichtung von 10) mit Bestimmtheit in das Jahr 1731 gesetzt werden kann. Und da über derselben steht »in einem Dramate aufgeführt«, die Composition also schon vollendet war, als Picander die Dichtung zum Druck gab, so wird man erstere nicht allzuweit an das Ende des Jahres, sondern ungefähr in den Sommer 1731 verlegen müssen. Wir haben also für obige Cantaten das Kirchenjahr 1730–1731 als wahrscheinlichste Entstehungsperiode und das Kirchenjahr 1731–1732 als äußerste Gränze derselben mit ziemlicher Sicherheit feststellen können. Man bemerkt aber, daß unter ihnen sich zwei auf den 12. Trinitatis-Sonntag finden. Es muß sich demach die Periode über zwei Kirchenjahre [801] erstrecken. Welchem der beiden die einzelnen Cantaten angehören, darüber lassen sich freilich nur stärker oder schwächer begründete Vermuthungen hegen, und selbst solche nicht einmal bei allen.

Ueber Cantate 2) enthält das Vorwort zu B.-G. XIII1 einen ungenauen Bericht. Das autographe Fragment enthält nämlich vor dem Bass-Recitativ »Das Kind ist mein« auch noch die letzten 19 Takte einer Alt-Arie »O du angenehmer Schatz«. Das Fragment besteht nur aus einem Foliobogen, welcher oben rechts die Zahl 7 trägt. Hiernach muß der Eingangschor sehr ausgedehnt gewesen sein, vielleicht ging auch noch eine Intrumentalsinfonie vorher. Den Schlußchoral »Wohlan so will ich mich An dich o Jesu halten« führt Erk unter Nr. 278 seiner Sammlung an, doch mit unrichtigem Text und ohne seine Quelle zu kennen.

Die autographe Partitur von 4) hat das oben mitgetheilte Wasserzeichen nur in den ersten beiden Bogen; in den letzten beiden zeigt sich der Schild mit gekreuzten Schwertern (s. Nr. 30 dieses Anhangs). Diese beiden letzten Bogen sind augenscheinlich später zugefügt; sie enthalten die beiden entlehnten Stücke der Cantate: die Arie »Jesus soll mein erstes Wort« aus »Der zufriedengestellte Aeolus« und den Schlußchoral »Laß uns das Jahr vollbringen« aus »Jesu nun sei gepreiset«. Erstere ist einen Ton abwärts, dieser einen Ton aufwärts gerückt. Beide sind Reinschriften, das dazwischen stehende Recitativ dagegen ist Concept. Vermuthlich begann Bach die Cantate gegen Ende 1730, ließ sie dann aber halbfertig liegen und vollendete sie erst nach 1736.

37. (S. 278.) Aus dem Nachlasse des Professor Fischhoff in Wien besitzt die königl. Bibliothek zu Berlin eine von dem Autograph der Cantate genommene Abschrift. Das Autograph selbst ist inzwischen größtentheils verschollen; Fragmente desselben, enthaltend Takt 24–67 der ersten Arie, die zweite Arie vom letzten Viertel des 24. Taktes an, das folgende Recitativ und den Schlußchoral besaß früher Herr Professor F.W. Jähns in Berlin. Er gab sie, nachdem er sorgfältige Abschrift davon genommen, an den Autographensammler Petter in Wien. Die obere Hälfte des Partiturblattes, auf dem das Fragment der ersten Arie stand, erhielt von Petter Herr Ott-Usteri in Zürich, der im Januar 1870 die Gefälligkeit hatte, sie mir zur Einsicht zu übersenden. Auf der Vorderseite oben rechts steht die Zahl 7. Auf die Seitenzahl kann sich dies nicht beziehen sollen, da alsdann nur etwa 5 Seiten für das vorhergehende Orgelconcert angenommen werden müßten, ein Raum, der selbst für den ersten Satz desselben zu knapp wäre. Wenn sich die Zahl aber auf die Bogen bezieht, so ergiebt sich, daß nicht etwa der erste Satz, sondern nur das ganze Concert als Einleitung gedient haben kann: hierfür reicht die Bogenzahl aus, während sie für den ersten Satz viel zu groß wäre. Mit diesem Ergebniß stimmt die Bemerkung auf dem Titel der Fischhoffschen Abschrift, daß zu der Cantate als Introitus gehöre das Orgelconcert: (folgt das Hauptthema in Noten). Die ersten beiden Sätze desselben sind von Bach noch einmal für die Cantate »Wir müssen durch viel Trübsal in das [802] Reich Gottes eingehen« benutzt worden und zwar so, daß der erste Satz die Instrumental-Einlei tung bildet, in das Adagio aber der Hauptchor hineingebaut ist. Die Oberstimme ist um eine Octave tiefer transponirt, sonst an der älteren Fassung des Clavierconcerts, welche man B.-G. XVII, S. 275 ff. mitgetheilt findet, nichts verändert. Wir dürfen annehmen, daß auch der Bearbeitung für die Cantate »Ich habe meine Zuversicht« jene ältere Fassung zu Grunde lag, da die spätere zu viel speciell claviermäßiges an sich trägt. Die Arie »Unerforschlich ist die Weise« steht für Singstimme und Violoncell in E moll, für die obligate Orgel in D moll. Nach einer Bemerkung auf dem Umschlag der Fischhoffschen Abschrift ist im Autograph die Singstimme im Violinschlüssel um eine Octave zu hoch geschrieben. Das soll, da sowohl bei Fischhoff als auch in der Abschrift des Jähnsschen Fragmentes die Arie im Altschlüssel steht, offenbar heißen, daß in der autographen Partitur sowohl Alt-als Violinschlüssel vorgezeichnet waren. Den Grund glaube ich zu erkennen: der Altschlüssel paßt für E moll, der Violinschlüssel für D moll, der Sänger mußte dann nur seinen Part eine Octave tiefer ausführen. Solchen doppelten Notirungen sind wir bei Bach schon öfter begegnet (s. Nr. 10 dieses Anhangs). Dann folgt freilich, daß Bach die Arie bald in E moll, bald in D moll hat singen lassen, in letzterem Falle führte er den Orgelpart auf einem im Kammerton stehenden Instrumente aus. Nicht zu leugnen ist, daß die Tonart E moll in der Modulationsordnung des ganzen Werkes etwas fremdartig berührt, indessen fügt sie sich zwischen das unmittelbar vorhergehende und unmittelbar nachfolgende ganz glatt ein, glatter als es D moll thut. Mit Rücksicht darauf, daß man schon sehr viel D moll vorher gehört hatte, mochte dem Componisten die Ausweichung in eine entferntere Tonart nicht unangemessen erscheinen.

38. (S. 280, 282, 284, 286, 291, 294, 302, 556.) Ueber die Entstehungszeit der Cantate »Gott soll allein mein Herze haben« bedarf es folgender Auseinandersetzung. Eine kleine Gruppe Bachscher Originalmanuscripte führt als diplomatisches Merkzeichen eine schildartige Figur, an deren beiden Seiten nach oben hin Palmblätter hervorstehen, während durch die Mitte eine nach unten hin sich gabelnde Leiste läuft. Die Cantaten-Manuscripte, welchen dieses Merkmal eigen ist, sind:

1) Ach Gott, wie manches Herzeleid (C dur)

2) Es wartet alles auf dich

3) Gelobet sei der Herr

4) Gott soll allein mein Herze haben

5) Ich armer Mensch, ich Sündenknecht

6) Ich will den Kreuzstab gerne tragen

7) Siehe ich will viel Fischer aussenden

8) Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten

9) Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust

10) Was Gott thut, das ist wohl gethan (B dur)

11) Wer weiß, wie nahe mir mein Ende.

[803] Unter diesen muß 8) außer Betracht bleiben, eine zum 11. Dec. 1726 geschriebene weltliche Gelegenheits-Cantate. Daß sie nicht die Zeit der gesammten Gruppe bestimmen kann, wird alsbald klar werden. Bach hat bei ihr zufällig einmal eine Papiersorte gebraucht, welche, wenn ihre Qualität auch sonst eine ganz andre ist, doch dasselbe Wasserzeichen aufweist, welches den übrigen viel später geschriebenen Manuscripten zu eigen gehört. 1) und 3) haben in einem Theil der Stimmen das Zeichen M A, wodurch demnach die Gruppe in die Periode 1727–1736 verwiesen wird (s. Nr. 33 dieses Anhangs). In 4) und 11) ist obligate Orgel verwendet; hierdurch schränkt sich die Periode auf die Jahre 1730–1736 ein. Näher heran führt uns die von Bach selbst geschriebene Stimme der obligaten Orgel von 11). Diese trägt andre Zeichen als die autographe Partitur und die übrigen Stimmen, nämlich


Anhang A

Nur in zwei Cantaten habe ich außerdem diese Zeichen noch gefunden, woraus geschlossen werden darf, daß sie in demselben kürzeren Zeitabschnitte componirt sind. Die Cantaten heißen:

Herr deine Augen sehen nach dem Glauben

Wir danken dir Gott, wir danken dir.

Von der ersteren ist zu merken, daß die Zeichen in den Stimmen selbst nicht, sondern nur in dem dazu gehörigen Originalumschlag, hier aber auch unverkennbar deutlich hervortreten. Von der letzteren, daß sie nur in der autographen Partitur erscheinen, während in ihren Originalstimmen sich M A findet, übrigens auch in dieser Cantate obligate Orgel vorkommt und endlich dieselbe laut Bachs eigenhändiger Aufschrift zum Rathswahlgottesdienst 1731, d.h. zu Montag dem 27. August dieses Jahres componirt worden ist. Wir nehmen somit einstweilen das Jahr 1731 als den frühesten Entstehungs-Termin der in obiger Gruppe zusammengefaßten Cantaten an; eine unten mitzutheilende Thatsache wird diese Annahme aufs bestimmteste bestätigen. Es gilt nun zunächst die späteste Gränze ihrer Entstehung aufzusuchen. Hier wird die Behauptung begründet erscheinen, daß die bewußten Cantaten, wenn man von 8) absieht, eben ihrer geringen Anzahl wegen in einem nicht allzuweit zu bemessenden Zeitraume bei einander stehen. Nun ist 7) dem 5. Trinitatis-Sonntag bestimmt. Dieser fiel 1731 aus, weil in diesem Jahre auf den 5. Trinitatis-Sonntag das Johannisfest gefeiert wurde. 3) gehört dem Trinitatis-Feste und kann darum nicht im Jahre 1733 componirt sein, weil in diesem das Trinitatisfest wegen der Landestrauer nicht mit Musik begangen wurde. [804] 5), auf den 22. Trinitatis-Sonntag geschrieben, kann ebenfalls dem Jahre 1733 nicht angehören, denn 1733 fiel dieser Sonntag aus wegen des auf denselben Tag fallenden Reformationsfestes. Dagegen kann wiederum 1), dem Sonntage nach Neujahr zugedacht, nicht 1732 entstanden sein, weil es in diesem Jahre keinen Sonntag nach Neujahr gab, ebenso wenig aber auch 1730 und 1731, denn auch in diesen Jahren kam der Sonntag nach Neujahr nicht vor. Wir müssen deshalb 1) auf 1733 setzen und gewinnen damit eine Periode von etwa anderthalb Jahren, welche mit den 16. Trinitatis-Sonntage (9. September) 1731 beginnt und mit dem Sonntage nach Neujahr (4. Januar) 1733 abschließt.

39. (S. 287.). Bevor die autographe Partitur der Cantate bekannt wurde, hegte W. Rust die Ansicht, dieselbe sei ein früheres, etwa in Weimar entstandenes Werk. Er glaubte dieser Ansicht auch nachher treu bleiben zu müssen, obgleich die Partitur am Schlusse den eigenhändigen Vermerk Bachs trägt »Fine. S.D. Gl. 1734«. Zur Begründung wies er auf einige Discrepanzen hin, welche zwischen den Bezifferungen der Orgelstimme und den durch die darüber liegenden Stimmen hergestellten Harmonien bestehen. Es giebt zu der Cantate zwei Original-Orgelstimmen, eine ältere in As und eine spätere in G. Auf die letztere kann es hier nicht ankommen, denn wenn ihre Bezifferung an ein paar Stellen nicht mit den Harmonien der Partitur stimmt, so kann Bach nachträglich Aenderungen beabsichtigt haben. Dagegen ließe sich bei den Abweichungen der älteren Orgelstimme allenfalls denken, daß diese Stimme zu einer früheren Partitur, als die vorliegende ist, angefertigt wäre, und auf andre ursprüngliche Lesarten hindeutete. Der Abweichungen, welche Rust anführt, sind nicht mehr als drei. Von ihnen aber setzt S. 218, Takt 8 der Ausgabe der B.-G. meiner Ansicht nach eine andre Führung der obligaten Stimmen nicht voraus: die Collision zwischen Q der zweiten Violine und à der Orgelstimme ist eine vorübergehende Härte, dergleichen sich in Bachs Werken unzählige finden. Takt 5 derselben Seite ist eine wirkliche Discrepanz, es handelt sich dabei um das Vorhandensein oder Fehlen eines Quadrats vor es: die ältere Orgelstimme fordert Anhang A die jüngere im Einklange mit der Partitur ē, aber es hindert nichts anzunehmen, daß Bach bei einer späteren Aufführung, zu welcher er die jüngere Orgelstimme gebrauchte, in der Partitur das Quadrat vor Anhang A zugesetzt habe. Es bleibt die dritte Abweichung S. 193, Takt 1 und in der Parallelstelle S. 201, Takt 2; um hier die Generalbassbezifferung möglich zu machen, müßte allerdings die erste Hälfte des Taktes ganz anders geführt werden. Ich halte die Stelle im Orgelbass einfach für verschrieben. Es kommt in Bachschen Orgelstimmen nicht selten vor, daß dieselben nicht zum übrigen passen wollen, indem Bach beim eiligen Niederschreiben die Partitur vorübergehend außer Acht ließ und sein Gedächtniß ihn über den Harmoniengang und auch wohl die Bassführung täuschte. So findet sich z.B. im ersten Chor der Cantate »Halt im Gedächtniß Jesum Christ« Takt 72 über [805] dem Fis des Basses in der nicht transponirten Continuostimme die Bezifferung Anhang A, in der transponirten Orgelstimme dagegen Anhang A. Rust hat die erstere aufgenommen, während meiner Meinung nach die letztere das richtige giebt, vgl. T. 51 und 102; man sieht, daß Bach beim Beziffern der untransponirten Continuostimme sich eine andre Harmonie dachte, als die wirklich von den Streichinstrumenten gebotene. Oder man muß annehmen, daß der Accord der Streichinstrumente verschrieben sei, dem Takt 2 analog lauten sollte, und Bach sich diese Harmonie vorstellte; dann gilt das Gesagte von der Bezifferung der Orgelstimme. Ein Fehler liegt in jedem Falle vor. Welch sonderbare Schreibfehler auch in Noten Bach begehen konnte, dafür liefert eine Stelle aus der Cantate »Angenehmes Wiederau« (B.-G. V1, S. 404, Takt 3) einen Beleg, wo Bach in fünf von ihm selbst angefertigten Violin-und Bratschen-Stimmen eine ganz verkehrte, mißtönende Tonreihe hingeschrieben hat, indem er sich augenscheinlich den Gang des Basses anders vorstellte, als er war. Jedenfalls sind die Differenzen zwischen Orgelstimme und Originalpartitur verschwindend an Zahl und geringfügig. Aus ihnen einen so weitreichenden Schluß ziehen und aller Praxis entgegen behaupten zu wollen, das Datum am Ende der Partitur beziehe sich nicht auf die Entstehungszeit, sondern nur auf die Zeit der Abschrift oder eine besondere Begebenheit, scheint mir sehr gewagt. Die inneren Gründe, welche Rust noch anführt, haben wenig überzeugendes. Grade im ersten Satze finde ich eine hohe Reife und eine so außerordentliche Kunst, wie sie Bach in Weimar nach allem was wir wissen noch nicht besaß. Was den siebenstimmigen Schlußchoral und sein Verhältniß zu demjenigen der Cantate »Wachet, betet« betrifft, so möchte ich daran erinnern, daß wir diese Cantate nur aus der Leipziger Umarbeitung kennen (vgl. Nr. 13 dieses Anhangs) und daß ein ganz ähnliches Tongebilde sich auch am Schlusse der Cantate »Lobe den Herren, den mächtigen König« findet. Eigenhändige Jahresangabe des Componisten, innere Zusammengehörigkeit des Werkes mit einer Anzahl ähnlich gestalteter Cantaten aus derselben Zeit, und die diplomatischen Merkmale des Papiers (s. Nr. 33 dieses Anhangs) – alles dieses bildet einen so festen Grund für die Festsetzung der Entstehungszeit der Cantate »In allen meinen Thaten«, daß es ganz andrer Mittel bedürfte um ihn zu erschüttern, als sie Rust herbeizuschaffen vermochte.

40. (S. 293.) In den Originalstimmen dieser Cantate läßt sich ein diplomatisches Merkzeichen, das für die Bestimmung der Entstehungszeit benutzt werden könnte, nicht erkennen. Was uns veranlassen muß die Cantate in das Jahr 1732 zu verlegen, ist die Art, wie die in ihr vorkommenden Oboi d'amore notirt sind. Bach hat bei der Notirung dieses Instrumentes zu verschiedenen Zeiten drei verschiedene ungewöhnliche Methoden befolgt und W. Rust scheint mir durchaus im Rechte, wenn er hierin einen sichern Anhaltepunkt für chronologische Bestimmungen sieht; s. B.-G. XXIII, S. XVI f. Es ist hinzuzufügen, daß neben jenen drei [806] Methoden Bach während seiner ganzen Leipziger Zeit die Oboe d'amore auch wie die gewöhnliche Oboe notirte; so in »Es erhob sich ein Streit« (1725), Trauerode (1727), Matthäuspassion (1729), »Es ist das Heil uns kommen her« (um 1731), Weihnachts-Oratorium (1734), »Freue dich, erlöste Schaar« (nach 1737), »Du Friedefürst, Herr Jesu Christ« (1744). Daraus folgt, daß Bach nur vorübergehend zu gewissen Zeiten für Oboi d'amore zu schreiben gezwungen war, welche eine kleine Terz unter Kammerton stimmten. Um so mehr sind wir befugt, wenn nicht andre Umstände dagegen sprechen, die Entstehungszeiten von Compositionen, welcheOboi d'amore in dieser Stimmung aufweisen, so dicht wie möglich zusammen zu rücken. Kyrie und Gloria der H moll-Messe wurden am 27. Juli 1733 dem Churfürsten von Sachsen überreicht; im Kyrie finden sich die Oboi d'amore in der genannten Stimmung und in einer Notirungsweise, welche mit derjenigen in der Cantate »Christus der ist mein Leben« übereinkommt. Componirt sind die beiden Messensätze jedenfalls im Frühling 1733. S. noch Nr. 41 dieses Anhangs. – Gegen die oben citirte Auseinandersetzung Rusts möchte ich hier nur einen Einwand machen. Ich verstehe nicht warum er (S. XVII) auf Grund der Notirung der Oboe d'amore grade die Umarbeitung der Cantate »Lobe den Herrn meine Seele« in die Zeit zwischen 1733 und 1737 verlegen will, da dieses Instrument sich in der ersten Niederschrift der Cantate ganz ebenso notirt findet. Daß meine Untersuchungen über die Entstehungszeit der Cantate mich zu einem andern Resultat geführt haben, ist aus Nr. 27 dieses Anhangs zu ersehen. Aber auch für die Richtigkeit des Jahres 1724 gewährt die Notirung der Oboe d'amore eine Stütze. Denn diese Notirung findet sich auch in den zeitlich nahe stehenden Cantaten »Die Elenden sollen essen« und »Die Himmel erzählen« (1723). Daß hier außerdem der C-Schlüssel auf der ersten Linie angewendet ist, geschah des bequemeren Partiturlesens wegen (s. Nr. 10 dieses Anhanges). Ob das in der Partitur der Cantate »Lobe den Herrn meine Seele« nicht etwa auch geschehen ist, bleibt dahingestellt, da wir, wie dort die Stimmen, so hier die Partitur nicht mehr besitzen.

41. (S. 294.) Diplomatische Merkmale zur chronologischen Fixirung der Cantate sind nicht vorhanden. Doch muß folgendes hier Erwähnung finden. Wenn man die Cantate nicht in die drei ersten Leipziger Jahre setzen will, wohin sie ihrer Form nach doch nicht recht paßt, so ist die Möglichkeit ihrer Entstehung kaum wieder vor den Jahren 1730–1733 vorhanden. Denn 1726 und 1729 kam der 24. Trinitatissonntag nicht vor, 1727 fiel der Landestrauer wegen vom 13. Trinitatissonntage ab den Rest des Jahres hindurch die Kirchenmusik aus, und im Herbst 1728, wo der 24. Trinitatissonntag auf den 7. Nov. fiel, war Bach zu sehr mit andern Arbeiten beschäftigt, als daß es wahrscheinlich wäre, er habe zur Composition dieser Cantate Muße gefunden. Im Jahre 1734 gab es wieder keinen 24. Sonntag nach Trinitatis; später fällt er noch in den Jahren 1737, 1740, 1745 aus. Nun aber weist die Cantate für die Oboi d'amore [807] dieselbe Stimmung und Notirung auf, wie sie sich in der Cantate »Christus der ist mein Leben« findet (s. Nr. 40 dieses Anhangs). Wir müssen sie also derselben zeitlich möglichst nahe zu bringen suchen, und es steht nichts im Wege, sie in dasselbe Jahr zu setzen. Aus demselben Grunde würde auch die Aufführung des umgearbeiteten großen Magnificat auf Weihnachten 1732 zu verlegen sein, wozu dessen diplomatische Merkzeichen (M A) bestens stimmen (vgl. Nr. 9 dieses Anhangs).

42. (S. 299). Weshalb die Cantate »Herr Gott, Beherrscher aller Dinge« nicht wohl später als 1733 componirt sein kann, ist unter Nr. 36 dieses Anhangs angegeben. Die Jubelcantate »Gott man lobet dich in der Stille« kam am 26. Juni 1730 zur Aufführung. Sie ist ebenso wie die erste und dritte Jubelcantate von Picander gedichtet. Zuerst werden diese Texte wieder abgedruckt in Christoph Ernst Siculs »Des Leipziger Jahr-Buchs Zu dessen Vierten Bande Dreyzehente Fortsetzung«. Leipzig, 1731. S. 1126 ff., wozu dort bemerkt wird: »Von dem Cantore oppidano, Herr Johann Sebastian Bachen, sonst Anhalt Cöthenischen Capellmeister, componirt«. 1732 gab sie Picander im dritten Theile seiner Gedichte, S. 73 ff. selbst heraus. Beim Vergleichen des Textes der Rathswahl-Cantate »Gott man lobet dich in der Stille« ergiebt sich, daß er zu derselben Musik paßt. Der Herausgeber derselben, A. Dörffel, hat das in Bezug auf die zweite Arie (»Heil und Seegen« Rathswahlcantate; »Treu im Gläuben« Jubelcantate) schon bemerkt. Der einleitende Bibelspruch ist in beiden Fällen derselbe. Es gilt obiges aber auch für die erste Arie, d.h. in der Composition: für den Chor, welcher dem als Arie componirten Bibelspruche folgt. Sein Text lautet in der Rathswahl-Cantate:


Jauchzet, ihr erfreuten Stimmen,

Steiget bis zum Himmel 'nauf!

Lobet Gott im Heiligthum,

Und erhebet seinen Ruhm.

Seine Güte,

Sein erbarmendes Gemüthe

Hört zu keinen Zeiten auf.


In der Jubel-Cantate:


Zahle, Zion, die Gelübde,

Zahle sie dem Höchsten aus.

Deine Hoffnung trifft dir ein,

Brunn und Quellen sind noch rein,

Seine Treue

Baut und gründet auf das neue

Seines Nahmens Ehr und Hauß.


Daß diese Zeilen im Druck mit Aria bezeichnet sind, beweist durchaus nicht, daß sie Bach nicht als Chor behandelt habe; Aria deutet hier nur einen in Da capo-Form gehaltenen Text an. Wenn man nun beide Texte mit der zugehörigen Musik vergleicht, so stellt sich heraus, daß die Musik nur zum Text der Raths wahl-Cantate erfunden sein kann, weil in der Bildung der Tonreihen auf das »Jauchzen« der erfreuten Stimmen und das »Aufsteigen« derselben zum Himmel ganz augenfällig Bezug genommen [808] ist; daß also die Rathswahl-Cantate älter sein muß als die Jubel-Cantate. Der Text »Zahle, Zion, die Gelübde« paßt theilweise recht schlecht zur Musik, so daß man schwankend werden könnte, ob er wirklich derselben unterlegt worden sei; aber der Text der Trauungs-Cantate »Herr Gott, Beherrscher aller Dinge« paßt eben so schlecht, und ist doch wirklich zu der Musik auch benutzt worden (s. B.-G. XIII1, S. XIV). Endlich ist noch zu erwähnen, daß auch die ersten Recitative beider Cantaten in ihren Anfängen wenigstens an einander anklingen (»Auf! du geliebte Lindenstadt!« Rathswahl: »Ach! du geliebte Gottesstadt«, Jubelfest). Wie übrigens die Rathswahl-Cantate jetzt vorliegt, kann sie nicht erster Entwurf, sondern muß spätere Abschrift, resp. Ueberarbeitung sein; hierüber sehe man Dörffels sorgfältige Auseinandersetzungen B.-G. XXIV, S. XXXIV f.

Es versteht sich wohl von selbst, daß Picander auch der Dichter des Rathswahl-Textes war, wenn schon in seinen Gedichten derselbe nicht steht. Daß aber die dritte, am 27. Juni 1730 aufgeführte Jubel-Cantate »Wünschet Jerusalem Glück!« gleichfalls nichts anderes ist, als die Uebertragung einer Rathswahlmusik, können wir aus Picanders Gedichten selbst nachweisen. Nicht zwar in der Einzel- aber wohl in der Gesammtausgabe seiner Werke steht S. 192 f. ein Rathswahltext, der, abgesehen von den Recitativen und dem Schlußchoral, im metrischen Bau seiner Theile ganz mit dem Jubeltexte übereinstimmt, nur daß das Arioso »Der Höchste steh uns ferner bey« ganz fehlt. Indessen dieses Arioso scheint Bach überhaupt nicht componirt zu haben, da es in den »Nützlichen Nachrichten« u.s.w. von 1741, wo S. 82 ff. der Text dieser Rathswahlcantate zuerst abgedruckt ist, gleichfalls fehlt.

Bei Untersuchungen, wie es diese sind, müssen verschiedene ähnliche Fälle die Glaubwürdigkeit des einzelnen verstärken. Ich verweise deshalb auf Nr. 17 dieses Anhanges, wo dargethan ist, daß auch die erste Jubelcantate »Singet dem Herrn ein neues Lied« auf einer älteren Composition beruht. Alle drei Werke also waren nicht im eigentlichen Sinne Originalcompositionen; das erste ursprünglich eine Neujahrsmusik, die beiden andern Rathswahl-Cantaten. Und wenn wir letzteres ins Auge fassen, werden wir mit einiger Zuversicht auch Auskunft geben können über den Schlußchoral der ersten Jubelcantate »Es danke Gott und lobe dich«, an dessen Stelle in der Weihnachtsmusik ein andrer steht. Eine Rathswahl-Cantate war auch »Lobe den Herrn meine Seele« (1724) und an deren Ende befindet sich der verlangte Choral. Daß er von dort an den Schluß der ersten Jubelcantate übertragen wurde, ist um so wahrscheinlicher, weil er auch in der Trauungscantate »Herr Gott, Beherrscher aller Dinge« einen Platz fand, und diese steht ja zu dem Jubelfeste wenngleich in indirecter so doch sehr bestimmter, nachweisbarer Beziehung.

43. (S. 303.) Die Angaben über die Originalmanuscripte dieser Cantate, welche im Vorworte der Ausgabe der B.-G. gemacht sind, muß ich theils für unrichtig, theils für unvollständig erklären. Die Mezzosopran-Stimme, [809] von welcher dort die Rede ist, hat allerdings, wie man deutlich sieht, ursprünglich in E moll gestanden, war demnach eine richtige Sopranstimme. Nachher sind die Vorzeichnung und die Versetzungszeichen sorgfältigst geändert; die Vorzeichnung aber ist


Anhang A

Das bedeutet nicht Es moll, wie im Vorworte angegeben wird, sondern C moll. Die autographe Partitur, in welcher die Cantate ebenfalls in C moll steht, begann Bach in der Absicht, den Gesang dem Mezzosopran oder Alt zu lassen; zu der ersten Arie ist denn auch der Gesang im Altschlüssel geschrieben. Dann aber wurde der Componist andern Sinnes, schrieb die Singstimme für die übrigen Theile der Cantate im Bass-Schlüssel und setzte mit Bezug auf die erste Arie unten auf die erste Seite die Worte: »Die Singstimme muß in den Bass transponiret werden«. Die Mezzosopran-Stimme aber enthält die vollständige Cantate. Hieraus geht klar hervor, daß die Niederschrift in E moll, also für Sopran, das erste war, wie sich denn auch eine vollständige Flötenstimme in E moll (statt der späteren Oboe in C moll) vorfindet. Dann wurde die Cantate für Mezzosopran oder Alt eingerichtet und zu diesem Zwecke nach C moll transponirt. Endlich wurde für den Alt eine Bassstimme eingesetzt. Als Sopranbearbeitung findet sich ein Theil der Cantate, nämlich Recitativ und zweite Arie, in dem Buche der Anna Magdalena Bach, wodurch das Werk seine anfängliche Bestimmung verräth. Ich habe das eben dargelegte Verhältniß erst nach dem Erscheinen des ersten Bandes in Folge wiederholter genauer Untersuchung der Handschriften entdeckt und muß daher das Bd. I, S. 757 unten Gesagte, womit ich den Angaben Rusts gefolgt bin, jetzt als unrichtig bezeichnen. Auch ist im Vorwort der B.-G. nicht mitgetheilt, daß die Partitur die autographe Ueberschrift trägt: »Festo Purificationis Mariae. Cantata«. Die hierin gegebene Bezeichnung des Werkes ist aber für seinen Charakter nicht unwichtig.

44. (S. 338.) Die Partitur der Lucas-Passion besteht aus 14 vollgeschriebenen und einem als Umschlag dienenden Bogen, dessen erstes Blatt zum Titel benutzt ist, dessen zweites aber das letzte und vollgeschriebene Blatt der Partitur bildet. Der Titel lautet: »J.J. Passio D.J.C. secundum Lucam à 4 Voci, 2 Hautb., 2 Violini, Viola e Cont.«, giebt demnach die Instrumente nicht vollständig an, da auch Flöten und Fagott angewendet sind. Die Partitur hat das Aussehen, als ob mit Unterbrechungen an ihr geschrieben sei, auch sind dreierlei verschiedene Papiersorten für sie gebraucht. Der als Umschlag dienende Bogen, sowie Bogen 1, 11, 12 und 14 haben die diplomatischen Merkmale der unter Nr. 36 dieses Anhangs aufgeführten Gruppe von Cantaten. Bogen 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10 zeigen als Wasserzeichen den Schild mit gekreuzten Schwertern, Bogen 13 endlich den Adler und gegenüber die Buchstaben H I R. Diese letzteren Zeichen, von denen unter Nr. 36 ebenfalls schon die Rede war, weisen auf das Jahr 1734, das Posthorn und die Buchstaben G A W auf [810] die Jahre 1731 und 1732. Zwischen 1731 und 1734 wird also die Partitur geschrieben sein, und, da 1731 die Marcus-Passion zur erstmaligen Aufführung kam, so könnte sie entweder 1732, oder 1733, oder 1734 in Leipzig wieder aufgeführt sein. Indessen ist die Wahrscheinlichkeit für 1732 keine große, da Bach in diesem Jahre die Passionsmusik in der Nikolaikirche aufführen mußte, durch deren ungünstige Räumlichkeiten er sich genirt fühlte. Vielmehr scheint mir die Entstehungsgeschichte der Partitur folgenden Verlauf gehabt zu haben. Bach begann ihre Anfertigung Ende 1732 in der Absicht das Werk zum Charfreitag 1733 aufzuführen. Da trat unvorhergesehen am 1. Febr. 1733 der Tod des Königs-Churfürsten und mit ihm eine allgemeine Landestrauer ein: vom Sonntag Estomihi bis zum 4. Trinitatissonntage einschließlich fiel alle Kirchenmusik und mit ihr auch die jährige Passionsaufführung aus. Bach ließ nun die Arbeit zeitweilig liegen, nahm sie aber im Laufe des Jahres langsam wieder auf und vollendete sie am Anfang des Jahres 1734, zu dessen Charfreitag er nun das Werk in der Thomaskirche zu Gehör brachte. Daß die Partitur in ihrer vorliegenden Gestalt die Ueberarbeitung eines ganz frühen Werkes ist, ergiebt sich sowohl aus ihrem Stil, der im Context weiter unten ausführlich besprochen wird, als auch aus dem Ansehen der Handschrift.

45. (S. 339.) Ihre Entstehung während der weimarischen Zeit verrathen die Stimmen einmal durch die feine, zierliche Handschrift, die Bach in seinen jungen Jahren eigen war, ferner aber durch die Bd. I, S. 808 mitgetheilten Wasserzeichen, die bei Bachschen Manuscripten ein untrügliches Merkmal der weimarischen Periode sind. Die Stimmen werden auf der königlichen Bibliothek zu Berlin aufbewahrt und bestehen aus Sopran, Alt, Tenor, Bass, Violino 1 und 2, Viola 1 und 2 – alles einfach – und Cembalo. Es gehören zu ihnen noch Doubletten und eine Orgelstimme, welche in Leipzig geschrieben sind. Bach hat also die Keisersche Marcus-Passion dort wieder aufgeführt und zwar, nach den Wasserzeichen der Orgelstimme zu schließen, die mit denjenigen der Ostercantate »Denn du wirst meine Seele«, der Himmelfahrts-Cantate »Gott fähret auf mit Jauchzen« und der Reformations-Cantate »Gott der Herr ist Sonn und Schild« übereinstimmen (s. Nr. 55 dieses Anhangs), um die Mitte der dreißiger Jahre. Auch eine Partitur dieser Passion bewahrt dieselbe Bibliothek, welche ebenfalls Bach besessen haben muß, denn der Text derselben ist durchweg von ihm geschrieben. Auf sie hat Chrysander (Händel I, S. 436) aufmerksam gemacht. Sie trägt die Jahreszahl 1720, welche hernach in 1729 verändert ist. Aus obigem geht aber hervor, daß jene sich nicht auf die Zeit der Composition beziehen kann, die mindestens schon in der ersten Hälfte des zweiten Jahrzehnts stattgefunden haben muß.

46. (S. 353.) Die Johannespassion ist in der Ausgabe der Bach-Gesellschaft, Band XII, Erste Lieferung, von W. Rust nach sorgfältiger [811] kritischer Durcharbeitung des handschriftlichen Materials herausgegeben worden. Die Resultate derselben, soweit sie sich auf die Sonderung der Originalhandschriften nach den verschiedenen Ueberarbeitungen und auf die Constatirung von wenigstens vier Aufführungen des Werkes zu Bachs Lebzeiten beziehen, werden als endgültig feststehend angesehen werden können. In chronologischer Hinsicht blieb jedoch noch das meiste zu thun übrig. Ich lege die Ergebnisse meiner Untersuchungen hier vor.

Die älteste Partiturniederschrift der Johannes-Passion besitzen wir nicht mehr. Die vorliegende Partitur ist eine viel spätere Abschrift, und nur die ersten zehn Blätter derselben hat Bach selber geschrieben. Dagegen sind die für die erste Aufführung geschriebenen Stimmen erhalten geblieben, neben ihnen zugleich solche Stimmen, welche für eine zweite, und solche, welche für eine vierte Aufführung neu hinzugefügt worden sind. Hauptsächlich vermittelst dieser Stimmengruppen lassen sich die Abänderungen und Umgestaltungen erkennen, welche Bach nach und nach mit dem Werke vornahm. Es fragt sich nun, wann diese verschiedenen Stimmencomplexe, die älteren, die mittleren und die neueren, angefertigt sind. Um zur Lösung dieser Frage einen sichern Anhaltepunkt zu gewinnen, müssen wir mit den mittleren Stimmen beginnen. Ihre Wasserzeichen sind dieselben wie die der unter Nr. 9 dieses Anhanges aufgeführten großen Cantaten-Gruppe. Sie fallen also in die Periode 1723–1727. Bach hat aber bei der Aufführung, zu deren Zwecke sie geschrieben wurden, auch die älteren Stimmen nicht unbenutzt gelassen. Man sieht dies 1) aus der dem älteren Stimmencomplexe zugehörigen concertirenden Sopranstimme, Tenorstimme und ersten Violinstimme, denen ein neues Blatt mit dem für die zweite Aufführung componirten Eingangschore vorgeheftet ist; 2) aus der älteren Continuostimme, in welcher sich für das Arioso »Betrachte meine Seel« und die nachfolgende Arie »Erwäge« – ebenfalls neu hinzucomponirte Stücke – eine Einlage findet. Beides, die vorgehefteten Blätter sowohl als die Einlage, tragen das diplomatische Merkzeichen M A. Daß dieses eine neue bedeutende Gruppe von Cantaten chronologisch bestimmt, welche sich an die Gruppe 1723–1727 unmittelbar anschließt, ist unter Nr. 33 dieses Anhangs ausgeführt. Die mittleren Stimmen müssen also auf der Gränze beider Perioden, d.h. im Jahre 1727, angefertigt sein.

Wie eben schon berührt wurde, findet sich in ihnen bereits an Stelle des ursprünglichen Einleitungschors »O Mensch, bewein dein Sünde groß« der Chor »Herr unser Herrscher«. Die Annahme Rusts, jener Chor sei, um den ersten Theil der erst im Jahre 1729 geschriebenen Matthäuspassion bei deren späterer Ueberarbeitung in würdigster Weise abzuschließen, aus der Johannespassion entfernt worden, und seine Entstehung falle deshalb nach 1729, kann also nicht richtig sein. Aber zu welchem Zwecke wurde er entfernt? Daß er Bach nicht mehr genügt habe ist ein unmöglicher Gedanke. Wenn dieses bei einigen Arien der Fall war, so trägt deren Beschaffenheit den Grund offen zur Schau. Ein vollendeteres Stück aber, als den Choralchor »O Mensch, bewein«, und ein Stück, das[812] mehr als er von echtester Passionsstimmung erfüllt wäre, hat Bach überhaupt nicht geschrieben. Er muß ihn also schon für einen andern Zweck verbraucht gehabt haben. Es kann das nach dem Inhalte des Chors nur in einer Passionsmusik geschehen sein. Denn während der eigentlichen Fasten- und Leidenszeit wurde in Leipzig nur an einem einzigen Tage concertirende Kirchenmusik gemacht: in der Charfreitags-Vesper. Um keine Möglichkeit unberücksichtigt zu lassen, sei erwähnt, daß auch am Sonntag Estomihi, obwohl er noch nicht zur wirklichen Fastenzeit gezählt wurde, weshalb an ihm auch noch Kirchenmusik sein durfte, schon auf Christi Leiden Bezug genommen zu werden pflegte. Aber daß Bach den bewußten Chor für eine Estomihi-Musik verbraucht habe, ist nahezu undenkbar, weil 1) es ganz gegen seine Gewohnheit war ein großes Werk zu Gunsten eines kleineren zu plündern, 2) der Chor mit seinen mächtigen Verhältnissen in den Rahmen einer gewöhnlichen Cantate nicht paßte und es 3) sehr unwahrscheinlich ist, Bach habe von den fünf Estomihi-Cantaten, wel che er überhaupt schrieb, nicht weniger als viere allein zwischen 1723 und 1730 componirt. Es folgt hieraus also wohl, daß Bach zwischen der Zeit der älteren und derjenigen der mittleren Stimmen zur Johannes-Passion noch eine andre Passion geschaffen haben muß, ein Ergebniß, welches durch den Umstand eine Bekräftigung erhält, daß aus dem Jahre 1725 eine Passionsdichtung des damals schon für Bach arbeitenden Picander vorliegt. Soweit gelangt können wir nun den Zeitpunkt der ersten Aufführung der Johannes-Passion ziemlich sicher feststellen. Fünf Passionen hat Bach überhaupt geschrieben. Die Matthäus-Passion entstand 1729, die Marcus-Passion 1731, die Lucas-Passion in Bachs frühester Zeit, vermuthlich während der ersten weimarischen Jahre. Selbstverständlich war die erste Passionsmusik, welche er in Leipzig aufführte, von seiner eignen Composition. Die Lucaspassion kann es nicht gewesen sein, da mit einem unreifen kleinen Jugendwerke Bach sich nicht in Leipzig introduciren konnte, eine Wiederaufführung auch unter allen Umständen nicht ohne Retouchirung desselben unternommen hätte, und diese in der That erfolgte Retouchirung fand erst nach der Aufführung der Marcuspassion statt (s. Nr. 44 dieses Anhangs). Es bleiben also nur die Johannes-Passion und die verloren gegangene spätere übrig. Wäre letztere die 1724 aufgeführte gewesen – wir wollen ein mal von ihrem muthmaßlichen Zusammenhang mit Picanders Dichtung aus dem Jahre 1725 absehen –, so müßte die Johannes-Passion in die vorleipzigische Zeit fallen. Für Cöthen konnte sie nicht bestimmt sein, weil Bach dort keine Kirchenmusiken zu besorgen hatte, und in der reformirten Gemeinde Passionsaufführungen überhaupt nicht üblich waren. Für Weimar stellt sie sich auf den ersten Blick als viel zu bedeutend und reif heraus. Ueberdies muß man den Zusammenhang ins Auge fassen, welcher zwischen der Johannes-Passion und der Cantate »Du wahrer Gott und Davidssohn« besteht. Eine Anzahl deutlicher Indicien läßt es als fast gewiß erscheinen, daß diese Cantate ursprünglich zu einer Leipziger Aufführung am Estomihi-Sonntage 1723 geschrieben worden ist (s. Nr. 9 [813] dieses Anhangs). Sie schloß mit dem Choralchor »Christe, du Lamm Gottes«. Als Bach sich aber entschied, für die Estomihi-Aufführung eine andre Cantate zu componiren und diese einstweilen unbenutzt zu lassen, nahm er jenen Choralchor in die Johannespassion hinüber: daß die Entstehung wirklich in dieser Weise stattgefunden hat, und nicht umgekehrt der Choral »Christe, du Lamm Gottes« aus der Passion in die Cantate übertragen sein kann, wie Rust (B.-G. V1, S. XIX) annimmt, habe ich ebenfalls unter Nr. 9 dieses Anhangs zu zeigen gesucht. Die Passion ist also später vollendet als die Cantate. Im Mai des Jahres 1723 aber siedelte Bach schon nach Leipzig über. Wenn man sich nun nicht an die vage Annahme klammern will, Bach habe die Johannespassion, auf Bestellung oder aus sonst irgend einer Veranlassung, für einen andern fremden Ort componirt – eine Annahme, die um so haltloser wird, als Bach grade in jener Zeit sein ganzes Streben darauf richten mußte, zunächst den Anforderungen seines neuen Amtes in würdiger Weise zu genügen – so bleibt, da wir nur zwischen zwei Passionsmusiken die Wahl haben, die verloren gegangene fünfte aber von beiden die spätere ist, und Bach an dem ersten Charfreitag, den er in Leipzig verlebte, unzweifelhaft eine eigne Composition aufführte, keine andre Möglichkeit bestehen, als daß die Johannes-Passion am 7. April 1724 zum ersten Male zu Gehör kam.

Hieraus folgt allerdings noch nicht, daß sie auch in der unmittelbar vorhergehenden Zeit componirt sei. Eine Untersuchung der älteren Stimmen belehrt uns, daß dem in der That nicht so gewesen sein wird. Das Papier derselben ist nicht dasjenige, welches Bach in Leipzig von 1723 an für die nächsten Jahre überwiegend zu gebrauchen pflegte. Als diplomatisches Merkmal tritt der Schild mit gekreuzten Schwertern hervor. Ein Papier mit solchem Zeichen gebrauchte er zwar auch in Leipzig, doch hat es sich bis jetzt nicht nachweisen lassen, daß dieses schon in den ersten anderthalb Jahren geschehen sei (s. Nr. 30 dieses Anhangs). Wohl aber spricht vieles für den Gebrauch dieses Papiers in Cöthen (s. Nr. 9 dieses Anhangs). Ich halte es deshalb für wahrscheinlich, daß die Johannes-Passion gleich der Cantate »Du wahrer Gott und Davidssohn« noch in Cöthen entworfen wurde, und zwar eben so wie diese im Hinblick auf die anzutretende Stellung in Leipzig. Da Bach sich erst spät zur Bewerbung entschloß, mußte er sich mit der Composition beeilen; hieraus erklärt es sich leicht, wenn er für sie ein Stück der frisch componirten, aber endlich für ihren Zweck doch nicht geeignet befundenen Cantate »Du wahrer Gott« benutzte. Auf eine durch Zeitmangel beeinflußte Composition deutet auch die ursprüngliche Beschaffenheit des Textes, welcher für die später erfolgte gründliche Neubearbeitung eine Hauptveranlassung war. Da dieser Umstand schon in die Charakterisirung des Werkes hineingreift, so begnüge ich mich ihn hier nur anzudeuten.

Nach der ersten Aufführung 1724 hätte also die zweite 1727 stattgefunden. Für dieses Jahr spricht auch noch der Umstand, daß, da mit den Passionen in den beiden Hauptkirchen abgewechselt werden sollte, 1724 aber in der Nikolaikirche musicirt wurde, 1727 die Aufführung der [814] Johannespassion in der Thomaskirche stattgefunden hätte. Dazwischen fiel die verloren gegangene Passion, welche ich um des Picanderschen Textes willen auf 1725 setze. 1729 kam die Passion nach Matthäus, 1731 diejenige nach Marcus. Man bemerkt das Bestreben Bachs, sich für seine eignen Werke, welche einen größeren Aufwand an musikalischen Mitteln erheischten, die geräumigere Thomaskirche zu wählen. Die Lucas-Passion wird 1734 aufgeführt sein, da 1733, wo die Reihe wieder an der Thomaskirche gewesen wäre, der Landestrauer wegen die Passionsmusik ausfiel (s. Nr. 44 dieses Anhangs), und die dritte Aufführung der Johannes-Passion dürften wir dann auf 1736 setzen. Bach hätte hiernach vier seiner Passionen nach der Reihenfolge der Evangelisten aufgeführt. Wann die vierte Aufführung der Johannes- Passion stattgefunden hat, läßt sich näher nicht bestimmen; auf die diplomatischen Merkmale der neueren Stimmen, welche zu diesem Zwecke angefertigt worden sind, kann man keine sichern Vermuthungen gründen. Auch die Zeit, wann die jetzige Originalpartitur entstand, läßt sich demnach nur annähernd angeben: es ist nach der Anfertigung der neueren Stimmen geschehen, jedenfalls also in der letzten Lebensperiode des Meisters.

47. (S. 367, 521, 557, 581). Der Text der Matthäus-Passion findet sich im zweiten Theil von Picanders »Ernst-Scherzhafften und Satyrischen Gedichten«, S. 101 ff. Das Jahr der Aufführung steht zwar nicht dabei und ebenso wenig findet sich auf der autographen Partitur eine chronologische Notiz. Wohl aber steht über dem gedruckten Texte die Bemerkung, daß die Musik für die Thomaskirche bestimmt war. Da der zweite Theil der Gedichte zu Ostern 1729 erschien, so wird hierdurch das Jahr der ersten Aufführung sicher gestellt. 1728 und 1730 fand die Passionsmusik in der Nikolaikirche statt, 1731 brachte Bach in der Thomaskirche seine Marcus-Passion, deren Text im dritten, 1732 erschienenen, Theile der Picanderschen Gedichte steht. Die Annahme aber, daß die Matthäus-Passion schon 1727 aufgeführt, und der Text erst zwei Jahre später in die Gedichtsammlung aufgenommen sei, wird, von allem andern abgesehen, einfach dadurch unmöglich, daß Picander schon 1727 den ersten Band seiner Gedichte herausgab, ohne daß der Text in ihm sich findet. An der Richtigkeit der Annahme, daß im Jahre 1729 die Matthäus-Passion die erste Aufführung erlebt habe, ist also nicht zu zweifeln.

Dagegen läßt sich die Wiederaufführung des Werkes in seiner erweiterten Gestalt nur annähernd bestimmen. Die ältere Fassung ist nicht im Autograph, sondern nur in einer Abschrift Kirnbergers erhalten, welche sich jetzt auf der Bibliothek des Joachimsthalschen Gymnasiums zu Berlin befindet. Wann die Abschrift gemacht ist, läßt sich ziemlich genau nachweisen. Kirnberger, 1721 zu Saalfeld in Thüringen geboren, verließ seine Vaterstadt um bei J. Peter Kellner in Gräfenroda Musik zu studiren, begab sich 1738 zur besseren Fortsetzung seiner Studien nach [815] Sondershausen und von da auf Anregung Heinrich Nikolaus Gerbers zu Bach nach Leipzig. Hier lebte er als einer seiner hingegebensten Schüler von 1739–1741; dann ging er ins Ausland und kehrte erst 1751, ein Jahr nach Bachs Tode, zurück. Kirnbergers Partiturabschrift kann hiernach nicht später als 1741 gemacht sein; es ist aber auch sehr wahrscheinlich, daß sie nicht vor 1739 entstand. Denn selbst wenn Kirnberger durch Vermittlung Kellners oder Gerbers zu der Partitur-Vorlage hätte kommen können, ist es glaublich, daß er schon als ihr Schüler reif für das Verständniß der Matthäuspassion gewesen wäre? ist nicht vielmehr die Abschrift eines so umfangreichen Werkes ein Zeugniß für die durch den unmittelbaren Verkehr erweckte Begeisterung eines Kunstjüngers für seinen Lehrer? Indessen wird die oben bezeichnete Wahrscheinlichkeit schon durch einen andern Umstand zur Gewißheit. Das Papier, auf welchem Kirnberger schrieb, ist ein solches, dessen sich auch Bach mehrfach für seine eignen Niederschriften bediente, und zwar ist es eine Papiersorte seltener und abweichender Art, von der man nicht annehmen kann, daß sie Kirnbergern zufällig auch an einem andern Orte habe zur Verfügung stehen können. Ihre Wasserzeichen:


Anhang A

finden sich in den autographen Partituren von Bachs Cantate »O ewiges Feuer« und dem Chor »O Jesu Christ mein's Lebens Licht«2, sowie im Autograph einer aus dem Gloria der H moll-Messe gemachten lateinischen Weihnachtsmusik. Es dürfte also Kirnberger die Partitur sogar in Bachs eignem Hause geschrieben haben, bei dem er vielleicht, wie andre Schüler, Wohnung gefunden hatte. Nun konnte die Matthäuspassion wegen ihrer großen Massen nur in der Thomaskirche aufgeführt werden. An der Thomaskirche war die Reihe 1740 (s. Nr. 44 dieses Anhangs und Nr. 46 gegen Ende). Die Aufführung nach der neuen Bearbeitung kann also frühestens in diesem Jahre stattgefunden haben, wobei [816] man zugleich annehmen müßte, daß Kirnberger seine Abschrift in dem vorhergegangenen Jahre genommen habe. Es ist indessen einiges vorhanden, was es wahrscheinlich macht, daß die Abschrift erst um 1741 gefertigt ist. Kirnberger, der einen gründlichen Compositionscursus bei Bach durchmachte (s. Gerber, L. I, Sp. 725), kann auf ein Werk wie die Matthäuspassion erst am Ende desselben geführt worden sein. Ferner giebt es eine Johannis-Cantate J.G. Goldbergs, der grade um diese Zeit Bachs Schüler war (»Durch die herzliche Barmherzigkeit unsers Gottes« in Partitur und Stimmen auf der königl. Bibliothek zu Berlin); die autographen Stimmen derselben sind auf demselben Papier geschrieben, wie Kirnbergers Copie. Es ergäbe sich also als frühester Termin für die Neubearbeitung das Jahr 1742. Will man noch weiter zu kommen suchen, so muß man Papier und Schrift des Autographs mit andern Bachschen Autographen vergleichen. Hier stellt sich eine vollständige Uebereinstimmung zwischen den Originalstimmen und der autographen Reinschrift des sechsstimmigen Ricercars aus dem »Musikalischen Opfer« heraus, welches die königl. Bibliothek zu Berlin bewahrt. Das »musikalische Opfer« entstand 1747. Man würde demnach die Umarbeitung der Matthäuspassion erst auf das Jahr 1746 oder gar 1748 legen müssen.

Mit den Ergebnissen der chronologischen Untersuchungen über Bachs Passionen steht eine Zeitangabe in Widerspruch, welche sich bei Marpurg, Legende einiger Musikheiligen (Cöln, 1786), S. 62 findet. Friedemann Bach in Halle (s. das Register des genannten Buchs unter diesem Namen) hatte 1749 für eine Serenate, deren Composition ihm aufgetragen war, einige Arien »aus einem gewissen sehr künstlichen Passionsoratorio« benutzt. Bei der Aufführung der Serenate »fand sich unter den Zuhörern ein sächsischer Cantor unweit Leipzig, dem die parodirten künstlichen Arien bekannt waren«. Durch ihn kam es an den Tag, »daß die Arien nichts weniger als neu, und wenigstens 30 Jahre alt, und noch dazu aus der Passion eines gewissen großen Doppelcontrapunktisten entlehnt« waren. Wenn auch Seb. Bachs Name von dem Erzähler nicht ausdrücklich genannt ist, so geht doch aus der gesammten Erzählung unzweifelhaft hervor, daß es sich um eine Passionsmusik seiner Composition handelt. Um welche? darüber läßt sich aus Marpurgs Worten nichts schließen. Nehmen wir es mit den angeführten Zahlen ernsthaft, so müßte es eine Passion sein, welche spätestens 1719 componirt wäre. Dies Jahr paßt auf keine der besprochenen fünf Passionen. Meiner Ueberzeugung nach ist aber auf die genannte Zahl 30 garkein Gewicht zu legen. Wie es scheint war Marpurg selbst darüber unklar, welche der Bachschen Passionen von Friedemann mißbraucht worden war, und was wußte er denn genaueres über die Entstehungszeit dieser Werke? Ihm lag hier offenbar nur daran, einen langen Zeitraum zu bezeichnen. Daß er keine genauere chronologische Bestimmung beabsichtigte, deutet schon das Wort »wenigstens« zur Genüge an.

[817] 48. (S. 422.) Das Oster-Oratorium liegt in drei Gestalten vor. Die erste kennen wir aus Originalstimmen, die zweite aus der autographen Partitur und einigen zu ihr gehörigen Stimmen, die dritte wieder nur aus später angefertigten autographen Stimmen. Die bestimmtesten Indicien für die Chronologie giebt die Partitur. Ihre Wasserzeichen sind auf dem einen Blatte des Bogens


Anhang A

auf dem andern Blatte ein M, um welches sich Arabesken schlingen. Beide Zeichen finden sich wieder in der autographen Partitur der Johannis-Cantate »Freue dich, erlöste Schaar«. Diese ist Umarbeitung einer weltlichen Gelegenheitsmusik »Angenehmes Wiederau«, welche am 28. September 1737 aufgeführt wurde. Von den Wasserzeichen des Autographs der Gelegenheitsmusik ist das eine dort und hier nicht völlig dasselbe, es stellt in der Gelegenheitsmusik sich so dar:


Anhang A

also wohl N M. Nach den Erfahrungen indessen, die ich gemacht habe, braucht eine solche doch nur in einer Nebensache hervortretende Verschiedenheit nicht auch den verschiedenen Ursprung und Charakter des Papieres zu bedeuten, und wird es hier um so weniger thun, als das andre, der Schild mit der dreizackigen Krone ganz genau übereinstimmt. Der Gebrauch desselben Papieres im Jahre 1737 wird noch durch ein zweites Manuscript erwiesen: eine in Sachen seines Streites mit dem Rector Ernesti von Bach selbst geschriebene Eingabe an den König-Churfürsten vom 18. October 1737 trägt dieselben Wasserzeichen, wie die Gelegenheitsmusik. Es dürfte daher die Johannis-Cantate möglichst bald nach der Composition und Aufführung der Gelegenheitsmusik, also schon zum 24. Juni 1738 niedergeschrieben sein, und demnach die Partitur des Oster-Oratoriums zum ersten Ostertag (6. April) 1738. Unter den Stimmen, welche das Oratorium in seiner ältesten Gestalt geben, und als diplomatisches Merkmal den Schild mit gekreuzten Schwertern haben, befindet sich eine Continuostimme, auf deren letzter Seite der nacher wieder durchstrichene Anfang der zweiten Oboestimme zu der Cantate »Bleib bei uns, denn es will Abend werden« zu sehen ist. Diese Cantate ist für den zweiten Oster tag componirt; [818] es ist also klar, daß die Notenschreiber mit der Herstellung der Stimmen zu dieser Cantate und zu dem Oster-Oratorium während derselben Zeit und vermuthlich an demselben Tische beschäftigt waren, denn es muß einer von ihnen entweder den zweiten Bogen der Continuostimme des Oratoriums, als er schon theilweise beschrieben war, für noch unbeschrieben gehalten und sich angeschickt haben, ihn für die zweite Oboestimme der Cantate »Bleib bei uns« zu verwenden, oder die anfänglich beabsichtigte Benutzung des Bogens für die Oboestimme der Cantate unterblieb aus einem nicht erkennbaren Grunde, und der Bogen fand nun Verwendung für die Continuostimme des Oratoriums. Hieraus läßt sich die sehr wahrscheinliche Vermuthung ableiten, daß beide Stücke zu einem und demselben Osterfest componirt worden sind. Das diplomatische Merkmal der Cantate »Bleib bei uns« ist aber der Halbmond. Ein so signirtes Papier begann Bach 1735 zu gebrauchen (s. Nr. 56 dieses Anhangs). Wenn nun wirklich die Ueberarbeitung des Werkes, wie die Partitur sie zeigt, 1738 stattfand, so muß die Anfertigung der älteren Stimmen und mit ihr die Composition des Oratoriums in die unmittelbar vorhergehenden 2–3 Jahre fallen. Auf 1737 wird sie nicht anzusetzen sein, weil mit der Ueberarbeitung natürlich auch eine Wiederaufführung verbunden war, und daß Bach zwei Jahre hintereinander dieselbe Ostermusik aufgeführt hätte, ist nicht anzunehmen. Die größte Wahrscheinlichkeit ist also für 1736 als Entstehungsjahr (vgl. noch Nr. 54 dieses Anhangs). Die späteren Stimmen endlich, in welchen das Oratorium in seiner dritten Gestalt erscheint, haben als diplomatische Merkmale den Adler undAnhang A (= H I R). Ein Papier mit diesen Signaturen ist im Gebrauche Bachs bis jetzt sicher nur aus dem Jahre 1734 bekannt (s. Nr. 36 dieses Anhangs). Will man an dieser chronologischen Thatsache unnachgiebig festhalten, so wird freilich alles vorher auseinandergesetzte unmöglich. Hier stehen sich unvereinbare Zeugnisse gegenüber. Indessen muß doch bemerkt werden, daß obiges Signum sich auch in einem einzelnen Stimmblatte der Cantate »Gelobet sei der Herr« findet, welche in das Jahr 1732 gesetzt werden mußte (s. Nr. 38 dieses Anhangs), daß es also eine ganz sichere Stütze für die Zeitbestimmung nicht bietet. Und da für die Entstehung der autographen Partitur nach 1737 die gewichtigsten Gründe sprechen, indem die derzeitige Benutzung des hier in Frage kommenden Papiers mehrfach sicher bezeugt ist, da ferner die Entstehung der ältesten Stimmen nach 1735 ebenfalls viel wahrscheinliches hat und – was die Hauptsache – diese beiden Möglichkeiten sehr wohl zu einander stimmen, so muß man diesem vereinigten Zeugniß jedenfalls mehr Glauben schenken und die Benutzung eines älteren Papiers für die späteren Stimmen als eine Zufälligkeit ansehen.

49. (S. 426.) Im Nekrolog S. 168 heißt es bei der Aufzählung der ungedruckten Werke Bachs unter 4) »Einige zweychörige Moteten«. Forkel dagegen S. 61 schreibt: »Viele ein- und zweychörige Motetten« und berichtet weiter unten, daß von den doppelchörigen Motetten noch [819] 8 bis 10 vorhanden wären, aber unter verschiedenen Besitzern zerstreut. S. 36 schreibt er sogar, daß Bach »ein-, zwey- und mehrchörige Motetten« componirt habe. Daß Forkel hier nicht ins Blaue hinein gesprochen hat, muß man annehmen. Somit wären seit 1801 noch mehre Motetten verloren gegangen oder doch verborgen geblieben. Dreichörige z.B. kennt man heutzutage garkeine, und wenn man von doppelchörigen alles zusammenzählt was unter Bachs Namen umläuft, wird immer noch nicht die von Forkel angegebene höchste Zahl erreicht. Aber unter den doppelchörigen Motetten sind mehre unechte oder wenigstens zweifelhafte. Unecht ist jedenfalls die 1819 bei Breitkopf und Härtel in Partitur herausgegebene Motette »Lob und Ehre und Weisheit und Dank«, welche später als Nr. 3 in die neue Ausgabe der Schichtschen Collection aufgenommen wurde, nachdem aus derselben die Motette »Ich lasse dich nicht« als ein Werk Joh. Christoph Bachs ausgesondert war. Daß sie in einer Handschrift der Gottholdschen Bibliothek zu Königsberg (Nr. 13569, 2) ebenfalls Bachs Namen trägt, beweist nicht viel, da die Abschriften der in dieser Sammlung befindlichen Bachschen Motetten ebenfalls auf Schicht zurückgehen dürften. Die Composition »Lob und Ehre« wimmelt von den gröbsten musikalischen Schnitzern und es ist schwer zu begreifen, wie man sie so lange als Bachs Arbeit hat gelten lassen können. In der Sammlung des Herrn Kammersänger Hauser in Carlsruhe befindet sich dieselbe Motette in Partitur und Stimmen als ein Werk Georg Gottfried Wagners; diesen werden wir uns eher als Autor gefallen lassen dürfen. Wagner, geb. 1698, war 1712–1719 Thomasschüler, studirte bis 1726 in Theologie und betheiligte sich von 1723–1726 noch an Bachs Musikaufführungen (s. Gerber, L. II, Sp. 755 f.); dann wurde er Cantor in Plauen. Aus seinem Bildungsgange erklärt sich leicht, daß die äußerliche Factur des Stückes manchmal an Bach erinnert, welchen Wagner sich augenscheinlich als Muster genommen hat.

Zum Theil zweifelhaft, zum Theil ebenfalls sicher unecht ist eine doppelchörige Motette »Jauchzet dem Herrn alle Welt«. Ueber sie findet sich in dem Katalog des Emanuel Bachschen Nachlasses und zwar unter der Rubrik der Sebastian Bachschen Compositionen S. 73 folgende Notiz: »Motetto: Jauchzet dem Herrn alle Welt. Für 8 Singstimmen und Fundament, in 2 Chören. In Partitur«. Diese Handschrift ist jetzt auf der königlichen Bibliothek zu Berlin. Unten rechts steht auf der ersten Seite monogrammatisch: J.G. Parlaw3. Die Motette besteht aus drei Sätzen; der mittlere ist der Choralchor aus der Cantate »Gottlob, nun geht das Jahr zu Ende« mit unterlegter fünfter Strophe statt der ersten – also in der That eine Composition Sebastians. Der dritte Satz, ein doppelchöriges [820] »Amen, Lob und Ehre und Weisheit und Dank und Preis und Kraft und Stärke sei unserm Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit« steht in Rochlitz' »Sammlung vorzüglicher Gesangstücke«. Mainz, Schotts Söhne. 1835. Band III, S. 66 ff. als selbständiges Stück unter Telemanns Namen. Daß er thatsächlich von Telemann, gewiß nicht von Seb. Bach herstammt, sieht ein jeder, der den Stil beider Männer studirt hat. Zweifelhaft bleibt die Echtheit des ersten Satzes, welcher unverkennbar Telemannsche Züge, aber auch einen gewissen großartigen Wurf und jene Tonfülle und imponirende Sicherheit der Stimmführung zeigt, welche man eigentlich nur an Bach kennt (vgl. noch Bd. I, S. 800). Ich halte es für wahrscheinlich, daß Emanuel Bach das Werk aus heterogenen Bestandtheilen zusammensetzte. Die Angabe des Katalogs kann nicht entscheiden, da derselbe erst nach Emanuel Bachs Tode angefertigt wurde.

Derartige Contaminirungen haben grade mit Seb. Bachs Compositionen öfter stattgefunden. Die Singakademie zu Berlin bewahrt eine vierstimmige Weihnachts-Motette: (D dur) »Kündlich groß ist das gottselige Geheimniß, Gott ist offenbaret im Fleisch«, mit Generalbass und einem längeren Instrumentalzwischenspiel, das vermuthlich ursprünglich von Geigen und Generalbass ausgeführt worden ist. Auch der 1869 verstorbene Professor A.W. Bach in Berlin besaß ein Manuscript dieses Werkes. Zelter hat es unternommen, dasselbe für Doppelchor zu arrangiren, und das Zwischenspiel einem Solosopran und Solo-Alt über dem Continuo zuertheilt. In einer Schlußbemerkung vom 31. December 1805 sagt er, dies Stück sei von dem großen Sebastian Bach und ursprünglich mit Instrumenten gesetzt. Das ist aber gewiß nicht der Fall; die Weichheit und ruhige Glätte neben dem Mangel an innerem Reichthum deutet auf Graun, an dessen Chor »Christus hat uns ein Vorbild gelassen« das Stück manchmal merklich erinnert. Wie mir Herr Professor Grell, der hochbejahrte frühere Leiter der Singakademie, mittheilte, hat man auch früher schon das Stück Graun zugeschrieben. Angehängt sind nun aber die beiden, wirklich Seb. Bach gehörigen Zwischensätze des großen Magnificat »Vom Himmel hoch«, nach D dur, und »Freut euch und jubilirt« nach A dur transponirt; in letzterem wird der Continuo vom Singbass ausgeführt.

Auch die Motette »Ich lasse dich nicht« ist später durch Anhängung eines von Seb. Bach gesetzten Chorals erweitert worden (s. Bd. I, S. 93, Anmerk. 37).

50. (S. 431.) Die fünfstimmige Motette »Nun danket alle Gott« entdeckte ich in einer sehr fehlerhaften, aber der meines Wissens bis jetzt einzigen, Handschrift eines Sammelbandes der Gottholdschen Bibliothek zu Königsberg, Nr. 13569. Der Band enthält außerdem noch die Motetten »Komm Jesu komm« und »Lob und Ehre«, und ist durchweg von derselben Hand geschrieben. Das Manuscript mag um 1800 entstanden sein und wird aus dem Nachlasse Schichts stammen. Titel des Einbandes: »3 Motetten | von | J.S. Bach«. Bei jeder der andern beiden Motetten ist es [821] noch einmal ausdrücklich bemerkt, daß sie von S. Bach seien (was beiläufig gesagt für die Motette »Lob und Ehre« falsch ist; s. Nr. 49 dieses Anhangs); bei der letzteren steht nur »Motette | Nun danket alle Gott«. Aber daß sie dem Anfertiger der Handschrift, oder dem welcher die Handschrift anfertigen ließ, ebenfalls für Bachs Werk gegolten hat, beweist der Gesammttitel, und grade an ihrer Echtheit kann aus innern Gründen am wenigsten gezweifelt werden. Der Schlußchoral hat von zwei Noten abgesehen denselben Baß, wie der Bachsche Choralsatz, welchen L. Erk in seiner Sammlung als Nr. 270 wieder hat abdrucken lassen; nur die Mittelstimmen bewegen sich hier und da etwas freier, doch ohne die Harmonie zu alteriren, so daß die Identität beider Bearbeitungen feststeht und nur die von Erk gegebene für einen andern Zweck etwas mehr ausgeschmückt erscheint. Daß die Handschrift aus Leipzig stammt, wird übrigens schon dadurch bewiesen, daß über dem Choral »Gott Vater, dir sei Preis« in der Motette »Lob und Ehre« bemerkt steht: »Aus Nr. 584 Altes Gesb. O Gott du frommer Gott«. Nr. 584 aber führte dieses Lied eben im Leipziger Gesangbuch.

51. (S. 450.) Auf dem Umschlag des Autographs in Hochfolio steht von fremder, älterer Hand: »Sechs Bogen starckes Fragment einer eigenhändigen Cantate von Joh. Sebastian Bach auf das Geburtsfest Leopolds, Fürsten zu Anhalt-Cöthen«. Darunter von andrer Hand mit schwärzerer Tinte: »(Durch Tausch anderer Manuscripte von D. Pölchau in Berlin erhalten.

D. Fst.)«.

»D. Fst.« ist »Dr. Feuerstein«, einstmaliger Besitzer einer Autographensammlung in Pirna, aus welcher nach dessen Tode der Vater des jetzigen Besitzers das Autograph erwarb. Wasserzeichen: der Harzmann mit Felljacke und Tanne (vgl. Nr. 9 dieses Anhangs). Schrift: die eines Concepts, flüchtig, eng, unsauber und mit vielen Correcturen. Bei Repetitionen sind mehrfach nur die Taktstriche gezogen und der Raum dazwischen ganz oder größtentheils zu späterer Ausfüllung frei gelassen. Letzte Seite leer; auf der vorletzten steht unten folgende Rechnung:


»Thlr.gr.Pf.

64– 4– 2

31– 7– 2

21– 19– 2

2– 18– 9

41– 18– 9

2– 5– 6

11– 5– 6

41– 11– 6

41– 21– 6

206 Thlr. 10 gr. 5. Pf.81 gr.17 Pf.


3 Thlr. 9 gr.«


[822] Ob diese Rechnung Einnahme oder Ausgabe bedeutet, ist unerfindlich; auf Bachs eigne Finanzen wird sie sich aber wohl beziehen.

Das Manuscript beginnt mitten im 2. Theil einer Tenorarie, welcher mit angezeigtem Da capo schließt. Die Haupttonart war, wie man sich durch Vergleichung der parodirten Kirchencantate »Ein Herz, das seinen Jesum lebend weiß« vergewissert, B dur. Mit einem vierstimmigen Gesänge in B dur schließt auch die Cantate. Da das erhaltene Fragment sehr umfänglich ist und die Länge einer gewöhnlichen Cantate fast schon überschreitet, so dürfte die Tenorarie, etwa mit vorausgehendem Recitativ, das erste Stück gewesen und nicht mehr als ein Bogen des Manuscripts verloren gegangen sein. Der Text, soweit er vorhanden ist, lautet:


Mit Gnaden bekröne der Himmel die Zeiten,

Auf Seelen ihr müßet ein Opfer bereiten,

Bezahlet dem Höchsten mit Dancken die Pflicht.


Das zweite Stück, ein Recitativ, stand theilweise auf den unteren Systemen des verloren gegangenen vorhergehenden Bogens und setzt sich auch so auf dem ersten der erhaltenen Bogen fort. Es ist ein Wechselgespräch zwischen Alt und Tenor, jedenfalls zwei allegorischen Figuren. Das dritte Stück ist ein Duett zwischen Alt und Tenor, Es dur Anhang A:


Es streiten es siegen die künftigen Zeiten

Es streiten prangen die vorigen Zeiten

Im Seegen für dieses durchlauchtigste Haus u.s.w.


Von dem Text des folgenden Recitativs muß ich mehr mittheilen:


Bedencke nur, beglücktes Land,

Wie viel ich dir in dieser Zeit gegeben.

An Leopold hast du ein Gnaden-Pfand.

Schau an der Fürstin Klugheit, Licht,

Schau an des Printzen edles Leben

Und der Princessin Tugend Krantz,

Daß diesem Hause nichts an Glantz

Und dir kein zeitlich Wohl gebricht.

Soll ich dein künfftig Heil bereiten,

So hohle von dem Sternen Pol

Durch dein Gebet ihr hohes Fürsten Wohl.

Komm Anhalt fleh üm mehre Jahr und Zeiten.


Das nächste Stück besteht aus einer Altarie G moll Anhang A; dann kommt ein Tenor- und Alt-Recitativ und endlich der Schlußgesang. Letzterer zählt 418 3/8-Takte und ist in italiänischer Arienform gehalten. Im zweiten Theile treten verschiedenfach aus dem vierstimmigen Ganzen Alt und Tenor duettirend hervor, um sich dann wieder in den vierstimmigen Satz zu verlieren. Daß dies die beiden Solostimmen der Cantate sind, sieht man besonders auch daraus, daß sie nicht ganz dieselben Worte haben: der Tenor singt »Segen« wo der Alt »Gnade«. Waren aber Alt und Tenor für zwei Solostimmen bestimmt, so folgt nothwendigerweise, daß das ganze Stück nur für einfache Besetzung gedacht war. Dem Textanfang desselben, sowie demjenigen des vorhergehenden Recitativs sind die entsprechenden Anfangsworte der Parodie untergeschrieben.

[823] Aus den hier und im Zusammenhange der Darstellung mitgetheilten Textproben geht zur Genüge hervor, daß die Angabe der Umschlagsaufschrift, das Werk sei eine Geburtstagscantate für den Fürsten Leopold, auf einem Irrthum beruht. Die Textstelle »Bedencke nur, beglücktes Land« ist außerdem aber chronologisch wichtig. Hier werden, wie man sieht, sämmtliche damals existirende Mitglieder des fürstlichen Hauses aufgezählt: der regierende Fürst Leopold selbst; dessen Bruder, der Prinz August Ludwig; dessen jüngste Schwester, die Prinzessin Christiane Charlotte (die ältere Schwester, Eleonore Wilhelmine, war seit 1716 an den Herzog Ernst August von Sachsen-Weimar verheirathet); endlich die »Fürstin«. Es frägt sich, wen man unter der Fürstin zu verstehen hat. Ist die regierende Fürstin gemeint, so kann die Cantate nur zwischen dem 11. December 1721 und dem 13. Januar 1722 entstanden sein, weil an ersterem Tage sich der Fürst, an letzterem aber der Prinz August Ludwig verheirathete, dessen Gemahlin in dem Recitativ-Texte noch nicht erwähnt wird. Es kann dann auch nur die erste Gemahlin des Fürsten Leopold gemeint sein, weil von dieser am 21. Sept. 1722 eine Tochter geboren wurde, deren Erwähnung nicht unterlassen worden wäre. Danach müßte man denn wohl die Cantate auf Neujahr 1722 ansetzen. Aber die vorzüglichen Eigenschaften, welche der Begräbnißprediger an der jung verstorbenen ersten Gattin Leopolds so ausführlich preist, sind nicht Klugheit und Verstandeshelle, sondern Frömmigkeit, Sanftmuth und Geduld. Dagegen passen die Worte »Klugheit, Licht« durchaus auf die Fürstin Mutter, Gisela Agnes, welche von 1704–1715 mit Energie und Geschick die Regierung geführt, darauf einen Erbschaftsstreit zwischen ihren beiden Söhnen als einsichtige Vermittlerin beigelegt hatte, und ihre Klugheit auch ferner dadurch bewies, daß sie sich nach Leopolds Regierungsantritt gänzlich aus dem öffentlichen Leben zurückzog und auf ihrem Schlosse Nienburg a.d. Saale nur den stillen Werken der Wohlthätigkeit lebte (s. Krause, Fortsetzung der Bertramischen Geschichte des Hauses und Fürstenthumes Anhalt. Zweiter Theil. Halle, 1782. S. 672 ff.). Wenn also Gisela Agnes unter der »Fürstin« verstanden wird, und ich bin überzeugt, daß dieses geschehen muß, so kann die Cantate nur zwischen dem Herbste 1717 und dem Ausgange des Jahres 1721 componirt sein.

52. (S. 462.) Die Zeitbestimmung der ersten und der wiederholten Aufführung der Cantate »Schleicht spielende Wellen« gründet sich 1) auf die in den Recitativen derselben enthaltenen Anspielungen, 2) auf die späteren Umänderungen der betreffenden Stellen des Recitativ-Textes und der Partitur-Ueberschrift, 3) auf das Verhältniß zwischen Partitur und Stimmen, 4) auf die diplomatischen Merkzeichen des Papiers der Originalhandschriften.

Im Bass-Recitativ (S. 27 der Partitur der B.-G.) heißt es:


[824] Mein Fluß, der neulich dem Cocytus gliche,

Weil er von todten Leichen

Und ganz zerstückten Körpern langsam schliche, u.s.w.


Dann:


Des Rostes mürber Zahn

Frißt die verworfnen Waffen an,

Die jüngst des Himmels harter Schluß

Auf meiner Völker Nacken wetzte, u.s.w.


Im Tenor-Recitativ (S. 33 f.):


So recht! beglückter Weichselstrom!

Dein Schluß ist lobenswerth,

Wenn deine Treue nur mit meinen Wünschen stimmt,

An meine Liebe denkt,

Und nicht etwa mir gar den König nimmt.


Im Tenor-Recitativ (S. 55):


Mir [der Elbe] geht die Trennung bitter ein,

Doch deines [der Weichsel] Ufers Wohl gebietet meinem Willen.


Im Sopran-Recitativ (S. 56):


Ach, irr ich nicht, so sieht man heut

Das längst gewünschte Licht in frohem Glanze glühen,

Das unsre Lust,

Den gütigsten August,

Der Welt und uns geliehen.


Im Sopran-Recitativ (S. 47):


Mir ist ja voll Lust4

Annoch bewußt

Und meiner Nymphen frohes Scherzen,

So wir bei unsers Siegeshelden Ankunft spürten, u.s.w.


Aus diesen Stellen geht hervor: 1) daß die Cantate, wie auch, die ursprüngliche Partitur-Ueberschrift angiebt, zum Geburtstage des Königs bestimmt war (S. 56). Derselbe fiel auf den 7. October. 2) daß kurz vorher in Polen, oder am Weichselstrande überhaupt, Metzeleien vorgefallen waren (S. 27) und der König August in den Kämpfen endgültiger Sieger geblieben war. Dies paßt nur für das Jahr 1734, da im April die blutigen Kämpfe um Krakau stattfanden und von April bis Juli die Belagerung Danzigs. 1733 hatte August seine Gegner noch nicht bezwungen, 1735 und später aber ereigneten sich an der Weichsel keine kriegerischen Unruhen mehr. 3) Der König war, als die Cantate gemacht wurde, in Sachsen anwesend (S. 33), aber seine Abreise nach Polen stand bevor (S. 55). Wirklich reiste der König am 3. November 1734 aus Sachsen nach Polen ab, um erst am 7. August 1736 zurückzukehren (s. Mittag, a.a.O. S. 490 und 612). 4) Die Cantate sollte nach der unlängst erfolgten Ankunft des Königs in Leipzig aufgeführt werden (S. 47). Wir wissen, daß diese Ankunft im Jahre 1734 am 2. October stattgefunden hatte.

[825] Die späteren Umänderungen des Recitativtextes betreffen die oben durch gesperrten Druck hervorgehobenen Stellen. In ihnen offenbart sich das Bestreben, die speciellen Anspielungen der theilweise veränderten Sachlage anzupassen. Die Cantate sollte jetzt nicht dem Geburts-, sondern dem Namens-Feste dienen (3. August); hiernach mußte das Recitativ S. 56 eingerichtet werden. Die Aufführung fand aber statt, da der König in Polen war; daher hieß es nunmehr im Text S. 33 (letzte der mitgetheilten Zeilen): »da mir es jetzt den König wieder nimmt«. Im Jahre 1736 war wie gesagt am 3. August der König aus Polen noch nicht wieder zurückgekehrt; später hat er während Bachs Leben nur noch 1748 seinen Namenstag in Polen begangen (s. Fürstenau, Zur Geschichte der Musik und des Theaters am Hofe zu Dresden. II, S. 260), ein Jahr, das aus unten anzuführenden Gründen garnicht mehr in Betracht kommen kann. Die Ueberschrift der autographen Partitur theile ich zur Ergänzung und Berichtigung des Vorworts von B.-G. XX2 mit: »Drama auf Hohem Geburths- [übergeschrieben »Nahmens«] Fest Augusti Anhang A Regis Poloniarum5 unterthänigst aufgeführet von J.S. Bach«.

Schon Rust hat in dem genannten Vorwort darauf hingewiesen, daß die Partitur Reinschrift sei und den Stimmen gegenüber die bessern Lesarten liefre. Ich stimme dieser Ansicht bei und glaube sogar, daß die Continuo-Führung auf S. 18 in der Partitur die bessere ist und deshalb hätte in den Text der B.-G. aufgenommen werden sollen. Die Annahme indessen, das Werk sei Ueberarbeitung älterer Tonstücke mit anderm Text, scheint mir bei dem sehr charakteristischen Wesen des ersten Chors nicht unbedenklich. Prüft man das Papier der autographen Partitur auf sein Wasserzeichen, so zeigt sich als solches ein Reiter, welcher auf einem Horn bläst. Dieses in Bachs musikalischen Manuscripten nur noch einmal vorkommende Zeichen findet sich außerdem aber in drei Eingaben Bachs an den Leipziger Rath vom 13., 15. und 19. August 1736 (vgl. Nr. 33 dieses Anhanges). Wenn man nun bedenkt, daß der Namenstag des Königs, welchem die wiederholte Aufführung der Cantate bestimmt war, der 3. August war, so ist es wohl nahezu als sicher zu bezeichnen, daß, da auch das Jahr 1736 außer dem Jahre 1748 das einzigste ist, auf welches die Umänderungen des Recitativ-Textes S. 33 und 56 passen, die Partitur im Sommer des Jahres 1736 geschrieben ist. Da die erste Aufführung zum 7. October 1734 erfolgt sein muß, so halte ich es für viel wahrscheinlicher, daß Bach die Partitur aus der älteren, 1734 angefertigten, Partitur nochmals abgeschrieben und bei dieser Gelegenheit die ihm wünschenswerth erscheinenden einzelnen Verbesserungen vorgenommen hat, während die Vorlage der Stimmen noch die ältere Partitur war. Daß er der Cantate die anfängliche Ueberschrift, die sie dem Geburtstage des Königs bestimmte, auch jetzt noch ließ (s. oben), stößt diese Vermuthung noch nicht um; es mochte ihm daran liegen, den ursprünglichen Zweck [826] der Cantate sich oder andern ins Gedächtniß zu prägen, vielleicht war es auch nur eine Flüchtigkeit. Auch manche hier und da vorkommende einzelne Verbesserungen oder die Streichung ganzer Partien der H moll-Arie in der Partitur, denen gegenüber die Stimmen von Anfang an das endlich auch in der Partitur als endgültige Lesart Festgestellte haben, lassen sich aus dem nachher wieder aufgegebenen Versuch erklären, an Stelle der älteren Lesarten bei der Herstellung der neuen Partitur andere zu setzen. Ein sonderbares Resultat aber ergeben noch die Stimmen. Allem Anscheine nach sind sie, obgleich unzweifelhaft die älteren Lesarten enthaltend, dennoch später geschrieben, als die vorliegende Partitur. Ihre Wasserzeichen sind nämlich dieselben, wie in der autographen Partitur der Cantate »Angenehmes Wiederau«, welche am 28. September 1737 aufgeführt wurde, und wie in einer auf dem Leipziger Rathsarchiv befindlichen Eingabe Bachs an den König vom 18. October 1737. Darnach müßte also Bach 1737 die Stimmen nochmals haben ausschreiben lassen, und zwar, aus irgend einem nicht erkennbaren Grunde, aus der älteren Partitur. Man ist nun vor die Frage gestellt, ob Bach etwa 1736 und 1737 die Cantate wiederaufgeführt hat, und ob beide Male zum Namenstage, oder vielleicht einmal zum Namenstage und das andre Mal wieder zum Geburtstage, oder auch umgekehrt, wobei zu bemerken wäre, daß der König vom 29. September 1736 ab einige Tage in Leipzig weilte. Eine gewisse Unentschiedenheit in der Verwendung des Werkes hat Bach selber dadurch offenbart, daß er die Textumänderungen in den Recitativen nicht nach Streichung der älteren Fassung in den Stimmen angebracht hat, sondern daß beide Versionen neben einander stehen geblieben sind, so daß nun je nach den Umständen bald diese, bald jene, ganz oder theilweise, benutzt werden konnte. Auch die Aenderung in der Ueberschrift der Partitur ist so eingerichtet, daß unter ihr die ältere Fassung unberührt stehen blieb.

Das Ergebniß der Untersuchung ist also, daß die Cantate »Schleicht spielende Wellen« zum 7. October 1734 componirt worden ist, daß Bach eine Wiederaufführung zum 3. August 1736 beabsichtigte, daß eine solche Wiederaufführung spätestens 1737 – ob zum 3. August oder 7. October, bleibt fraglich – wirklich, vielleicht aber auch schon 1736 stattfand.

53. (S. 473.) Die autographe Partitur der Caffee-Cantate ist auf der königlichen Bibliothek zu Berlin, die autographen Stimmen angeblich auf der k.k. Hofbibliothek zu Wien. Das Wasserzeichen der Partitur ist M A; s. Nr. 33 dieses Anhangs. Den Text findet man zuerst im dritten Theil von Picanders Gedichten S. 564 als letztes Stück des Bandes. Er muß also, da die Vorrede vom 18. Febr. 1732 datirt ist, spätestens am Anfange dieses Jahres gemacht sein, und da die »schertzhafften Gedichte« des Bandes chronologisch geordnet sind (s. Nr. 36 dieses Anhangs), so dürfen wir seine Entstehung auch kaum früher ansetzen. Daraus folgt freilich noch nicht, daß auch die Composition in dieses Jahr falle, das Wasserzeichen belehrt uns nur, daß sie nicht wohl später als [827] 1736 geschrieben sein wird. Wenn Bach sie aber seinem häuslichen Kreise bestimmte, so ist die Entstehung bald nach Verfertigung des Gedichtes doch sehr wahrscheinlich, denn grade in dieser Zeit, da auch Wilhelm Friedemann und Philipp Emanuel Bach noch bei den Eltern weilten, blühte Bachs Hauscapelle. Daß das letzte Recitativ und der Schlußgesang nicht von Picander herrühren, steht fest; denn hätte er sie, etwa auf Bachs Wunsch, später nachgedichtet, so würden sie doch in der Gesammtausgabe seiner Werke (1748) zu finden sein. Allein auch hier (S. 1244) schließt der Text mit Lieschens zweiter Arie ab.

54. (S. 520.) Originalhandschriften zur H moll-Messe sind drei vorhanden: die vollständige autographe Partitur (auf der königlichen Bibliothek zu Berlin), die Originalstimmen zum Kyrie und Gloria (in der Musikalienbibliothek des Königs von Sachsen zu Dresden), die autographe Partitur des Sanctus in seiner älteren Gestalt (auf der königlichen Bibliothek zu Berlin). Verloren gegangen sind die Stimmen zur Gesammtpartitur und zum Sanctus, sowie die Einzelpartitur zum Kyrie und Gloria; in der Gesammtpartitur zeigen die beiden letztgenannten Sätze einige Abweichungen von den Dresdener Stimmen, welche ergeben, daß die im Ganzen der Messe befindliche Partitur später, als die Dresdener Stimmen geschrieben ist. Doch wird es des Wasserzeichens M A wegen bis zum Jahre 1736 geschehen sein (s. Nr. 33 dieses Anhangs). Was die Entstehungszeit des Credo betrifft, so überrascht die Entdeckung, daß es auf demselben Papier geschrieben ist wie die Rathswahlcantate »Wir danken dir Gott« und Theile der Cantaten »Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben« und »Wer weiß, wie nahe mir mein Ende« (s. Nr. 38 dieses Anhangs). Darauf würde sich die Vermuthung gründen lassen, das Credo sei um 1732 componirt, also früher als Kyrie und Gloria. Ihr steht indessen der Umstand entgegen, daß auch im Agnus hier und da dieselben Wasserzeichen bemerkbar zu sein scheinen, wenn sie sich gleich einer ganz sichern Cognition entziehen. Die Folge wäre dann, auch das Agnus in die Zeit vor dem Kyrie zu setzen, was wegen des durch das Osanna gebildeten Zusammenhangs desselben mit demSanctus äußerst unwahrscheinlich ist. Ich möchte daher aus innern Gründen hier den diplomatischen Merkzeichen keine entscheidende Kraft beilegen. DasSanctus in der ersten Niederschrift kennzeichnet sich schon durch das anfängliche J.J. und das abschließende Fine SDG. als ein selbständiges Stück. Das Fugenthema des Pleni sunt coeli hatte sich Bach ursprünglich so gedacht:


Anhang A

und in dieser Gestalt flüchtig auf der ersten Seite hingeworfen, wie er mit Gedanken, die ihm während der Ausarbeitung eines Werkes kamen, häufiger zu thun pflegte. Als Weihnachtsmusik aber verräth sich dieses [828] Sanctus dadurch, daß auf derselben Seite, mit derselben Tinte wie obiger Entwurf geschrieben, sich folgendes findet:


Anhang A

Dieses ist ein Weihnachtslied Caspar Zieglers mit einer wenig bekannten Melodie, welche beide Bach zu einer Cantate auf den dritten Christtag verwendet hat. Offenbar notirte er sich hier die Melodie, um sie für die Cantate festzuhalten, welche er mit dem Sanctus zusammen an demselben Weihnachtsfeste zur ersten Aufführung bringen wollte. Das Wasserzeichen der Sanctus-Partitur ist ebenso wie das der Cantaten-Partitur der Halbmond in der einen Bogenhälfte bei unsignirter anderer Bogenhälfte. Ein mit diesen Merkmalen versehenes Papier begann Bach um 1735 zu gebrauchen. Nun steht aber auf derselben Seite der Partitur unter den angeführten musikalischen Notizen noch, von Bach eigenhändig geschrieben: »NB. DieParteyen sind in Böhmen bey Graff Sporck«. Parteyen sind hier Stimmen. Daß »Graff Sporck« derselbe ist, von welchem weiter unten im Context gehandelt wird, darf als unzweifelhaft gelten, schon wegen dessen Beziehungen zu Picander. Der Graf starb schon am 30. März 1738; mit seinem Tode löste sich sein Hausstand auf, da er Söhne nicht hinterließ. Wenn Bach ihm die Stimmen des Sanctus schickte, so kann dasselbe spätestens zu Weihnachten 1737 componirt sein. Man frägt sich aber, ob er ihm nicht auch die Partitur geschickt haben wird, und der Graf nur diese zurücksendete, die Stimmen aber noch dort behielt, und ob sich aus obiger Notiz nicht schließen läßt, daß die Partitur zurückkam, als der Graf noch lebte. Ist dieses der Fall – und mir scheint, daß man sehr wohl so interpretiren kann – dann dürfte dasSanctus noch früher als 1737 componirt sein. 1736 möchte Bach es schwerlich geschrieben haben, da er, damals im heftigsten Conflicte mit Ernesti und dem Chore gegenüber discreditirt, gewiß nicht in der Stimmung war, für ein und dasselbe Fest zwei neue Compositionen zu machen, darunter eine von höchster Großartigkeit. Es bliebe also Weihnachten 1735; über dieses Jahr zurückzugehen, ist des Wasserzeichens wegen nicht wohl zulässig. Und wirklich läßt sich noch ein andres Moment geltend machen, das für dieses Jahr zeugt. Wenn man den Schlußchor des Oster-Oratoriums mit dem Sanctus vergleicht, so ergiebt sich eine eigenthümliche Verwandtschaft. [829] Beide zeigen die Form der französischen Ouverture, beide auch in ihren zwei Theilen eine ähnliche Haltung, beide lassen auf einen Vierviertel- einen Dreiachtel-Takt folgen, bei beiden erfolgt die Modulation von jenem zu diesem in derselben Weise. Niemand aber wird glauben, daß der Chor des Oster-Oratoriums das frühere sei. Vielmehr stellt sich derselbe als ein schwächerer Nachklang des mächtigen Sanctus dar, als das Ergebniß eines etwas lässigen Weiterwandelns auf dem Wege, welchen der Meister sich mit dem Sanctus gebrochen hatte. Das Oster-Oratorium nun entstand wahrscheinlich 1736 (s. Nr. 48 dieses Anhangs).

55. (S. 553, 554.) Ein neues diplomatisches Merkzeichen begegnet in den Originalmanuscripten folgender Cantaten:

1) Ihr werdet weinen und heulen (Sonntag Jubilate)

2) Es ist euch gut, daß ich hingehe (Sonntag Cantate)

3) Bisher habt ihr nichts gebeten (Sonntag Rogate)

4) Auf Christi Himmelfahrt allein (Himmelfahrtsfest)

5) Sie werden euch in den Bann thun [A moll] (Sonntag Exaudi)

6) Wer mich liebet, der wird mein Wort halten [größere Composition] (1. Pfingsttag)

7) Also hat Gott die Welt geliebt (2. Pfingsttag)

8) Er rufet seine Schafe mit Namen (3. Pfingsttag)

Das Merkzeichen ist dieses:


Anhang A

Man sieht, diese Cantaten bilden eine lückenlos vom 3. Sonntag nach Ostern bis zum letzten Pfingstfeiertage sich fortsetzende Reihe. Auf der letzten Seite der autographen Partitur von 1) steht köpflings: »Dominica Quasimodogeniti. Concerto.« und darunter ein 7 Takte langer durchstrichener Entwurf, dessen Oberstimme so anfängt:


Anhang A

Ob dieser Anfang weiter geführt ist oder nicht, ist unbekannt; wäre er es, so hätten wir den Verlust der Composition zu constatiren. Jedenfalls aber wollte Bach mit der Jubilate-Musik auch eine solche für den ersten Sonntag nach Ostern schreiben. Es fehlte demnach nur eine Cantate für Misericordias Domini, um die ganze Serie zwischen Ostern und dem Trinitatisfest vollständig zu machen, und daß diese Cantate vorhanden ist, werde ich weiter unten glaubhaft machen. Hiermit habe ich schon ausgesprochen, daß ich obige 8 Cantaten im Zusammenhang für ein und dasselbe Kirchenjahr componirt halte. Man stelle sich Bachs starken Verbrauch von Schreibmaterial vor und erwäge, daß ein Papier mit der oben nachgebildeten Signatur außer einem gleich zu erwähnenden Manuscriptbogen [830] nur in den aufgezählten Cantaten – soweit die Bachschen Manuscripte bekannt geworden sind – vorkommt, dazu den unter ihnen bestehenden kirchenjahrmäßigen Zusammenhang – die Annahme des Gegentheils: eines zerstreuten Entstehens innerhalb mehrer Jahre, wird fast unmöglich erscheinen. Hiermit nicht genug. Es läßt sich bei 6) und 7) noch durch ein andres Mittel beweisen, daß sie zu derselben Zeit componirt worden sind. 6) ist in zweien seiner Stücke nur Umarbeitung einer älteren Pfingstcantate, deren Text mit denselben Worten beginnt (s. Bd. I, S. 505 ff. und Bd. II, Nr. 21 dieses Anhangs). Auf der Rückseite der autographen Partitur der älteren Pfingstcantate findet sich das Thema des Schlußchores von 7) nebst seiner ersten Beantwortung flüchtig hingeworfen. Bach hatte also die ältere Pfingstcantate wieder hervorgesucht, um Theile von ihr für die neuere zu benutzen. Während er in der Ausarbeitung begriffen war, fiel ihm das Fugenthema für 7) ein, und er notirte es schnell auf der unbeschriebenen Rückseite.

Die acht Cantaten gehören also zusammen, hieran ist um so weniger zu zweifeln, als sie auch bestimmte Formverwandtschaften zeigen, und besonders ein seltenes Instrument, das Violoncello piccolo, in mehren von ihnen benutzt wird. Aber in welches Jahr fallen sie? Laut der Partitur von 4) wollte Bach das Duett darin von der obligaten Orgel begleitet werden lassen. Da hierzu ein selbständiges Rückpositiv nöthig war, und dieses erst im Laufe des Jahres 1730 hergestellt wurde (s. S. 112 dieses Bandes), kann 4) und somit die ganze Cantaten-Gruppe nicht vor 1731 componirt sein. Nun ist aber schon sowohl eine Misericordias-Cantate (»Der Herr ist mein getreuer Hirt«) als besonders auch eine Pfingstcantate (»Ich liebe den Höchsten von ganzem Gemüthe«) vorhanden, welche aus gewichtigen Gründen in das Jahr 1731 oder 1732 versetzt werden mußten (s. Nr. 36 dieses Anhangs). Eines der beiden Jahre wird also für den jetzt vorliegenden Fall unmöglich. Ebenso unmöglich ist 1733, da in ihm von Estomihi bis zum 4. Trinitatis-Sonntage der Landestrauer wegen überhaupt keine Musik gemacht wurde. Hier darf ich gleich die Meinung äußern, daß Bach gewiß nur ausnahmsweise in zwei aufeinander folgenden Jahren für dieselben Sonntage Cantaten componirt hat und daß schon deshalb unsre Gruppe vor 1734 nicht entstanden sein dürfte. Ich wende mich sodann zu andern Beweismitteln.

Bach schrieb zum Reformationsfeste eine Cantate »Gott der Herr ist Sonn und Schild«. Auf einer freien Seite des vierten Bogens der autographen Partitur steht köpflings: »J.J. Doicã Exaudi. Sie werden eüch in den Bann thun«, darunter ein sehr schöner, eigenthümlicher Anfang für fünf Instrumente, von denen die obersten zwei im Violin- die mittleren zwei im Alt-, das tiefste im Bassschlüssel notirt sind. Ich halte die 4 obern Instrumente für Oboen (d'amore und da caccia). Ueber dem untersten System ein unbeschriebenes für den Singbass; Tonart A moll, Taktart Anhang A. Das Fragment reicht nur bis zum siebenten Takt. Vergleicht man damit den Anfang von 5) unsrer Gruppe, so ist sofort klar, daß hier ein später vom Componisten aufgegebener erster Entwurf der Exaudi-Cantate[831] vorliegt. Könnte man nun die Entstehungszeit der Reformations-Cantate bestimmen, so wäre ein neuer, werthvoller Anhaltepunkt gewonnen. Wir wissen, daß Bach, beziehungsweise sein Textdichter, in seinen Kirchencompositionen stets den allgemeinen Charakter des Sonn- oder Festtages und im besondern auch den Inhalt des Predigttextes zu berücksichtigen pflegt. Zum Reformationstage gab es keinen für immer feststehenden Text, es wurde ein solcher für jedes Jahr höheren Orts bestimmt. Ich habe ein handschriftliches Verzeichniß der während Bachs Leipziger Zeit angeordneten Reformationstexte zu entdecken vermocht. Es findet sich auf dem Ephoralarchiv zu Leipzig, »ACTA die Feyer des Reformations-Festes betr. Superintendur Leipzig 1755«, und möge hier zunächst folgen. 1723 Sonntags-Evangelium, weil das Fest auf den 23. Trinitatis-Sonntag fiel; 1724 Psalm 15, 1–3; 1725 Ebräer 3, 7–14; 1726 Matthäus 16, 24–26; 1727 Psalm 85, 6–8; 1728 Sonntags-Evangelium (23. Trin.); 1729 Titus 2, 14; 1730 Offenbarung Johannis 14, 6–8; 1731 Lucas 13, 6–9; 1732 2. Timoth. 1, 12; 1733 Jesaias 51, 15–16; 1734 Sonntags-Evangelium (19. Trin.); 1735 Psalm 80, 15–20; 1736 Offenb. Joh. 3, 1–6; 1737 Offenb. Joh. 14, 6–8; 1738 Offenb. Joh. 3, 14–18; 1739 Psalm 33, 18; 1740 2. Thessal. 2, 10–12; 1741 Offenb. Joh. 14, 6–8; 1742 Römer 6, 17–18; 1743 Offenb. Joh. 3, 10–11; 1744 Jesaias 55, 10–11; 1745 Sonntags-Evangelium (20. Trin.); 1746 nicht verzeichnet; 1747 Offenb. Joh. 14, 6–8; 1748 Jesaias 26, 9–10; 1749 Jesaias 45, 22 und 25.

Gehen wir diese Texte durch, so ergiebt sich, daß der Inhalt der Cantate »Gott der Herr ist Sonn und Schild« nur auf 1733, 1735 und 1739 paßt. Das Reformationsfest trägt freilich in sich schon einen sehr bestimmten poetischen Gehalt, und wenn besondere Veranlassungen vorlagen ihn stark hervorzukehren, wie in den Jubeljahren 1730 und 1739, so könnte es irreleitend werden, dann nach Bezügen zwischen Predigttext und Cantate suchen zu wollen. Es kann daher die Cantate »Ein feste Burg« (s. S. 300 dieses Bandes) mit dem Text von 1730 sehr wohl bestehen, übrigens ist es ja auch möglich, daß sie erst 1739 geschrieben wurde. Aber nicht wohl möglich ist es, daß die Cantate »Gott der Herr« 1739 componirt wurde, denn 1) sind aus ihr mehre Stücke in die A dur- und G dur-Messe eingearbeitet, und innere wie äußere Gründe veranlassen, diese in die Zeit 1737–1738 zu setzen, 2) kommen die Wasserzeichen der Originalstimmen der Cantate wieder vor in den Originalhandschriften der Musik für den zweiten Ostertag »Erfreut euch ihr Herzen« und derjenigen für den dritten Ostertag »Ein Herz, das seinen Jesum lebend weiß«, so daß die zeitliche Nähe dieser Werke ohne weiteres angenommen werden muß. In den Stimmen der Oster-Musik »Ein Herz« findet sich aber auch das Zeichen M A, welches 1739 in keiner Bachschen Handschrift mehr nachweisbar ist. Es bleiben also die Jahre 1733 und 1735 übrig.

Der oben erwähnte erste Entwurf zu 5) steht wie gesagt auf dem vierten Bogen der Reformationscantate. Die Partitur derselben umfaßt im Ganzen sechs Bogen. Von ihnen sind die Bogen 1, 2, 5 und 6 nach Format, [832] Wasserzeichen und Qualität übereinstimmend. Bogen 3 und 4 sind anders beschaffen, im Format abweichend und auch wieder unter sich verschieden. Man sieht, daß Bach, als er die Reformationscantate aufschreiben wollte, einige Bogen älteren, und nicht oder doch nur wenig benutzten Papieres, die ihm grade in den Griff gekommen sein mochten, mit verwendet hat. Das Umgekehrte, daß er in die vollendete Reformations-Cantate nachträglich den Entwurf zu 5) eingezeichnet haben sollte, ist undenkbar, da er sich in der Mitte der Partitur findet; wie ein jeder erkennen kann hat Bach die betreffende Seite nur übersprungen, weil sie zum Theil (es sind auch noch andre musikalische Notizen darauf) schon beschrieben war. Das Wasserzeichen des Bogens aber, auf welchem der fragmentarische Entwurf steht, ist, wenn auch nicht sehr hervorleuchtend, so doch dem geübten und geschärften Auge wohl erkennbar, eben dasselbe welches die oben aufgeführten acht Cantaten gemeinsam haben.

Hieraus folgt, daß die Exaudi-Cantate früher als die Reformations-Cantate componirt sein muß. Ist aber dieses der Fall, so folgt mit Nothwendigkeit weiter, daß das Jahr ihrer Entstehung nicht 1733 gewesen sein kann. Denn 1733 konnte Bach eine Cantaten-Serie von Jubilate bis zum 3. Pfingsttag überhaupt nicht componiren, weil von Estomihi bis zum 4. Trinitatis-Sonntag alle concertirende Kirchenmusik ausfiel. Es muß also die Reformations-Cantate 1735 geschrieben sein. Und dieses Resultat setzt uns zugleich über die Entstehungszeit der bewußten Serie ins klare; sie war ebenfalls 1735.

Ueber 6) unsrer Gruppe ist Bd. I, S. 505 und 798 f. gesagt worden, sie sei 1731 componirt. Dies geschah in Folge einer Jahreszahl, welche sich auf einer alten Copie der älteren Pfingstcantate »Wer mich liebet« befindet. Wie ich jetzt glaube, bezeichnet diese Zahl nur das Jahr der Abschrift, oder vielleicht einer wiederholten Aufführung. Ich war, als ich die erwähnten Stellen schrieb, nicht in der Lage, jede neue Vermuthung und Combination durch erneute Besichtigung der Originalhandschriften sofort zu prüfen, und gelangte erst später auf den richtigen Weg, die wirkliche Entstehungszeit von 6) feststellen zu können. Was von 6), gilt natürlich auch von 7). Alles, was sonst Bd. I, S. 799 auseinandergesetzt ist, bleibt bestehen.

Ein Bedenken knüpft sich noch an 4). Um es klar zu legen, muß von neuem auf die Reformations-Cantate zurückgegangen werden. Bogen 1, 2, 5 und 6 der Partitur derselben haben als diplomatische Merkzeichen auf dem einen Blatte einen Hirsch, auf dem andern


Anhang A

in den meisten Originalstimmen der Cantate findet sich dagegen


Anhang A

Diese Zeichen kehren wieder in folgenden Cantaten:

[833] a) Denn du wirst meine Seele nicht in der Hölle lassen (1. Ostertag)

b) Erfreut euch ihr Herzen (2. Ostertag)

c) Ein Herz, das seinen Jesum lebend weiß (3. Ostertag)

d) Gott fähret auf mit Jauchzen (Himmelfahrtsfest).

Und zwar haben a) und d) die Zeichen der Partitur der Reformations-Cantate, b) und c) das der Stimmen, wobei bemerkt werden muß, daß auf dem correspondirenden Blatte des Bogens bei ihnen noch die Figur eines Adlers sichtbar ist.

Daß die Cantaten a) – d) in die zeitliche Nähe der Reformationsmusik gehören, ist ersichtlich. Auch daß sie vor derselben geschrieben sind, drängt sich sofort als wahrscheinlich auf. Allzusehr macht doch das zu der Reformationsmusik gebrauchte Schreibmaterial, welches nicht weniger als vier verschiedene Papiersorten erkennen läßt, den Eindruck, als habe der sparsame Componist überallher zusammengesuchte Reste aufgebaucht. Es muß bemerkt werden, daß sich die hier in Frage kommenden diplomatischen Zeichen in andern feststellbaren Compositionen späterer Zeit nicht wieder finden, ausgenommen ein paar zu Einlagen in die Stimmen der Johannes-Passion verwendete Stückchen, deren dritte Aufführung wir auf das Jahr 1736 zu verlegen Grund hatten. Fallen nun aber die Cantaten a) – d) auch in das Jahr 1735, dann erhalten wir freilich für das Himmelfahrtsfest 1735 zwei Bachsche Compositionen, ein Ergebniß, das man nicht ganz ohne Bedenken hinnehmen kann. Wenn ich nach reiflicher Ueberlegung es mir endlich doch gefallen lasse, so geschieht es, abgesehen von Obigem, noch aus folgenden Gründen: 1) Zwei Cantaten waren zu jedem Himmelfahrtsfeste nöthig (s. S. 101 dieses Bandes). 2) Es war nichts unerhörtes, daß die Componisten jener Zeit sowohl die Vormittags- als Nachmittags-Musiken eines und desselben Sohn- oder Festtages selbst componirten (s. S. 180 dieses Bandes), und der Productionsdrang war 1735 bei Bach offenbar ein sehr starker. 3) Wenn wir, wie doch nicht wohl anders möglich, annehmen, daß die Cantaten a) – d) ebenso zusammengehören, wie die Cantaten 1) – 8), so spricht für ihre Entstehungszeit in diesem Jahre auch der Umstand, daß zwei derselben, a) und c), Bearbeitungen früherer Werke sind. Es ist unverkennbar, daß Bach grade damals vielfach auf ältere Werke zurückgriff. Auch unter der Gruppe 1) – 8) sind zwei Cantaten, 6) und 7), welche zum Theil aus weimarischen Compositionen bestehen. Von der Lucas-Passion wissen wir, daß sie nicht lange vorher aufgefrischt, und wahrscheinlich 1734 wieder aufgeführt wurde. Die weimarische Cantate »Komm du süße Todesstunde« ist ebenfalls in den dreißiger Jahren in Leipzig wieder hervorgesucht worden, und die begründetste Vermuthung ist, daß dies zum 2. Febr. 1735 geschah. Denn das Papier der Partitur, in welcher sie uns erhalten ist, stimmt genau mit dem vom 5. October 1734 bekannten überein (kleiner Adler und gegenüber Anhang A; s. Nr. 36 dieses Anhangs); die Ueberschrift aber bemerkt zunächst die ursprüngliche Bestimmung der Cantate, den 16. Sonntag nach Trinitatis, und [834] darunter die andre (spätere) Bestimmung:Festo Purificationis Mariae6. 4) endlich spricht für die Gebrauchszeit des Papiers von a) und d) eine Orgelstimme zu der von Bach schon in Weimar benutzten, in Leipzig wiederbenutzten Keiserschen Marcus-Passion. Diese zu einer Neuaufführung angefertigte Stimme hat dieselben Wasserzeichen. Bach brachte, wie wir theils wissen, theils annehmen dürfen, seine Passion nach Matthäus 1729, nach Marcus 1731, nach Lucas 1734, nach Johannes 1736. So öffnet sich für die Keisersche Passion das Jahr 1735.

Nicht verschwiegen soll werden, daß sich unter den Stimmen von 8) einige Blätter finden, welche ihren Zusammenhang mit der Partitur des Oster-Oratoriums verrathen (s. Nr. 48 dieses Anhangs). Hieraus wäre aber nur zu schließen, daß 8) zu Pfingsten 1738 abermals aufgeführt, und was an einzelnen Stimmblättern verloren gegangen durch neue ersetzt worden ist. –

Wir besäßen also aus dem Jahre 1735 eine Canta ten-Serie vom 1. Oster- bis zum 3. Pfingsttag, und für Himmelfahrt zwei Compositionen. Es fehlt in dieser Serie die Cantate für Quasimodogeniti, die von Bach jedenfalls geplant und, wenn ausgeführt, verloren gegangen ist. Die Misericordias-Cantate hat sich, glaube ich, erhalten. Ich erkenne sie in der Composition »Ich bin ein guter Hirt«. Diplomatisch steht nichts im Wege, sie hier einzureihen, weil ihr Merkzeichen (s. Nr. 56 dieses Anhangs) auch in den Partituren von 2) und 3) vorkommt. Ihrer musikalischen Beschaffenheit nach aber hat sie mit den andern Cantaten eine auffällige Verwandtschaft. Doch die Erörterung hierüber gehört an einen andern Ort.

56. (S. 569.) Das schon mehrfach erwähnte Zeichen, welches die größeste Anzahl von Cantaten der letzten Periode zu einer Gruppe zusammenschließt: ein Halbmond auf der einen bei unbezeichneter andrer Bogenhälfte, findet sich in folgenden Cantaten:

1) Ach Gott vom Himmel sieh darein

2) Ach Gott, wie manches Herzeleid (A dur)

3) Ach lieben Christen seid getrost

4) Ach wie flüchtig, ach wie nichtig

5) Aus tiefer Noth schrei ich zu dir

6) Bisher habt ihr nichts gebeten

7) Bleib bei uns, denn es will Abend werden

8) Christ unser Herr zum Jordan kam

9) Christum wir sollen loben schon

10) Das neugeborne Kindelein

11) Du Friedefürst, Herr Jesu Christ

[835] 12) Erhalt uns Herr bei deinem Wort

13) Es ist euch gut, daß ich hingehe

14) Gelobet seist du, Jesu Christ

15) Herr Christ der einig Gottssohn

16) Herr Gott dich loben alle wir

17) Herr Jesu Christ wahr Mensch und Gott

18) Ich bin ein guter Hirt

19) Ich freue mich in dir

20) Ich hab in Gottes Herz und Sinn

21) Jesu nun sei gepreiset

22) Liebster Immanuel, Herzog der Frommen

23) Mache dich mein Geist bereit

24) Meinen Jesum laß ich nicht

25) Meine Seele erhebet den Herren

26) Mit Fried und Freud ich fahr dahin

27) Nun komm, der Heiden Heiland (H moll)

28) Schmücke dich, o liebe Seele

29) Was frag ich nach der Welt

30) Was mein Gott will, das g'scheh allzeit

31) Wo soll ich fliehen hin.

Mit Ausnahme von 6), 7), 13) und 18) sind es sämmtlich Choral-Cantaten. Das Jahr, in welchem der Gebrauch dieses Papiers beginnt, finden wir durch 6) und 13), in deren Originalmanuscripten außer dem Halbmond auch das Zeichen vorkommt, welches die in der vorigen Nummer zusammengestellte Gruppe kennzeichnet. Es ist das Jahr 1735. Weitere Versicherung gewähren 7) wegen des Zusammenhangs mit dem Oster-Oratorium (s. Nr. 48 dieses Anhangs) und 19) wegen des Zusammenhangs mit dem Sanctus der H moll-Messe (s. Nr. 54 dieses Anhangs). Ferner 11). Der Text dieser Cantate enthält unverkennbare Hindeutungen auf Kriegsereignisse, welche das Land betrafen. Zwar darf nicht übersehen werden, daß die nächste Veranlassung, dem Texte seinen besondern Inhalt zu geben, in der Beschaffenheit des Sonntags-Evangeliums lag, welches von dem Untergange des jüdischen Volkes prophezeit. Allein schon die Einführung des Chorals »Du Friedefürst, Herr Jesu Christ« deutet auf bestimmte damalige Erlebnisse genannter Art. Zweifelloser noch folgender Umstand. Der Text ist, wie immer in den späteren Choralcantaten Bachs, hinsichtlich der madrigalischen Stücke nur Paraphrasirung einzelner Strophen des betreffenden Kirchenliedes. Die Alt-Arie ruht auf der zweiten, das Tenor-Recitativ auf der dritten Strophe. Strophe 4 und 5 bleiben unbenutzt, Strophe 6 ist Quelle des Textes für das Terzett. Die siebente und letzte Strophe macht als einfacher Choral den Schluß. Das vorhergehende Alt-Recitativ aber ist ungebräuchlicher Weise ganz freie Dichtung und sie lautet:


Ach laß uns durch die scharffen Ruthen

Nicht allzu hefftig bluten.

O Gott, der du ein Gott der Ordnung bist,

[836] Du weist was bey der Feinde Grimm

Vor Grausamkeit und Unrecht ist.

Wohlan, so strecke deine Hand

Auf ein erschreckt geplagtes Land,

Die kan der Feinde Macht bezwingen

Und uns beständig Friede bringen.


Diese Worte bezeichnen eine Kriegesnoth, welche nicht etwa in fernen Ländern, wie 1735, nicht auch in Polen, wie 1733 und 1734, sondern in Sachsen selbst eingetreten war. Es kann also hier nur an die schlesischen Kriege gedacht werden. Am 23. November 1745 wurden die Sachsen bei Hennersdorf geschlagen, am 30. November rückten die Preußen in Leipzig ein, legten der Stadt eine drückende Kriegssteuer auf, und überhaupt wurde im zweiten schlesischen Kriege Sachsen empfindlichst verwüstet und ausgesogen. Das alles würde vortrefflich passen. Allein die Cantate ist auf den 25. Trinitatissonntag componirt, und der 25. Trinitatissonntag kam 1745 nicht vor. Auch 1746 nicht, da freilich in Sachsen selbst auch der Friede schon geschlossen war. Der erste schlesische Krieg kann nicht gemeint sein, denn in diesem blieb das Land vom Feinde ganz verschont, auch kamen die mit Friedrich II. verbündeten sächsischen Truppen in Böhmen kaum zum Kampfe. Es bleibt nur 1744 übrig, das erste Jahr des zweiten schlesischen Krieges, der gleich mit dem Durchzug der feindlichen Preußen durch Sachsen seinen Anfang nahm. – Wir haben mit 1744 zugleich das späteste Jahr, aus welchem das diplomatische Zeichen der Cantaten-Gruppe nachweisbar ist.

Es sind unter der Gruppe auch einige Cantaten, in deren Originalmanuscripten der Halbmond und M A neben einander vorkommen, nämlich 21), 29) und 31). Diese müssen also an den Beginn der Periode 1735 bis 1744 fallen, und des M A wegen können sie nicht wohl später als 1736 componirt sein. Nun gilt aber 29) dem 9. Trinitatis-Sonntage. Am 8. und 9. Trinitatis-Sonntage (22. und 29. Juli) 1736 war Bach von Leipzig abwesend (s. S. 486 dieses Bandes). Demnach müßte wenigstens diese Cantate auf 1735 gesetzt werden. 31) gehört dem 19. Trinitatis-Sonntage. Es ist unwahrscheinlich, daß Bach 1736, nachdem er einige Wochen zuvor den Conflict mit Ernesti zu bestehen gehabt hatte und in Folge dessen zeitweilig einen entschiedenen Widerwillen gegen die Kirchenaufführungen empfinden mußte, in der Laune gewesen sein sollte, neue Werke für solche Zwecke zu produciren. Dies dürfte auch noch für 21), eine Neujahrscantate, geltend zu machen sein. Wahrscheinlich ist es daher, daß auch 31) ins Jahr 1735, 21) aber auf Neujahr 1736 gehört.

In 29) ist außer den beiden genannten Wasserzeichen noch ein drittes, ein Adler, zu bemerken. Dieses kommt aber so in vielen Gestalten und in den verschiedensten Zeiten vor, daß es für chronologische Untersuchungen unbrauchbar ist. Ich habe es versucht und die Manuscripte zusammengestellt, in welchen es genau in derselben Form erscheint. Es kämen dann in Betracht: »Jesu der du meine Seele«, »Was Gott thut, das ist wohlgethan« (G dur, 21. Trinit.-Sonnt.), »Allein zu dir, Herr Jesu Christ«, »Nimm von uns Herr, du treuer Gott«. Diese Cantaten müßten also mit [837] 29) in das Jahr 1735 gehören. Der Versuch scheitert aber sofort, denn am 21. Trinitatis-Sonntage war 1735 das Reformationsfest, an welchem »Gott der ist Sonn und Schild« aufgeführt sein wird; jedenfalls keine gewöhnliche Sonntags-Cantate.

57. (S. 594.) Die fünf Melodien, welche durch Johann Ludwig Krebs überliefert sind, befinden sich in einer handschriftlichen Sammlung von Orgel- und Clavierstücken, die sich von ihm auf seine Amtsnachfolger in Altenburg vererbte, bis sie in den Besitz des Herrn F.A. Roitzsch in Leipzig kam; dieser hat mir mit stets gleicher Bereitwilligkeit auch zu vorliegendem Zwecke die Benutzung seines Eigenthums gestattet.

Die Melodien beziehen sich auf die Lieder »Hier lieg ich nun, mein Gott, zu deinen Füßen«, »Das walt mein Gott, Gott Vater, Sohn«, »Gott mein Herz dir Dank«, »Meine Seele, laß es gehen«, »Ich gnüge mich an meinem Stande«. Daß Krebs sich das Buch, welches Compositionen von Buxtehude, Reinken, Böhm, Leyding, Walther, Kauffmann, Bach und anderen in bunter Folge enthält, zusammenstellte, da er Bachs Jünger in Leipzig war, ist sehr wahrscheinlich, wenn es auch nicht sicher bewiesen werden kann. Die Thomasschule besuchte er bis 1735 und studirte dann an der Universität noch bis 1737. Er verkehrte also mit Bach, als dieser den musikalischen Theil des Schemellischen Gesangbuches bearbeitete. Die genannten Melodien sind, wie man deutlich wahrnimmt, keine Entwürfe, sondern Abschriften, und manchmal nur ganz flüchtige; bei dreien ist nur die Melodie, nicht zugleich auch der Bass aufgezeichnet. Da der Schreiber sie würdig hielt, in einem Buche mit Werken der hervorragendsten Meister eine Stelle zu finden, so muß er sie hochgeschätzt haben. Sie verrathen in der That die Hand eines Meisters und tragen, wie man sich durch Augenschein überzeugen kann, ein Bachsches Gepräge.

Was uns aber direct darauf führt, daß Bach sie als Parerga seiner Schemellischen Melodien geschrieben habe, ist folgendes. Das durch Freylinghausens Gesangbuch verbreitete Gedicht »Hier lieg ich nun o Herr [mein Gott] zu deinen Füßen« steht nicht bei Schemelli. Dagegen findet sich hier, nach derselben Melodie zu singen, und durch seinen Anfang an jenes erinnernd das schöne, Johann Arndt zugeschriebene Bußlied »Hier lieg ich nun, o Vater aller Gnaden«. Weiterer Verbreitung scheint sich dieses nicht erfreut zu haben; selbst J.B. König nennt es nicht. Einer eignen Melodie entbehrt es ebensowohl wie das Freylinghausensche Gegenstück; für beide ist die Melodie »Der Tag ist hin, mein Jesu bei mir bleibe« vorgeschrieben. Die Dichtung »Hier lieg ich nun, o Vater aller Gnaden« ist aber eine solche, daß sie einen Bach sehr wohl anregen konnte, sie mit einer eignen Melodie zu versehen. Und in der That: die von Krebs überlieferte Melodie paßt nicht nur im Ganzen für die lieblich spielende Freylinghausensche Dichtung viel weniger als für die Schemellische, sondern sie schmiegt sich der letzteren auch in den Einzelheiten so eng und in so ganz Bachscher Weise an, daß meines Erachtens kein Zweifel sein kann, sie sei wirklich für die Schemellische Dichtung componirt. [838] Um die Vergleichung zu erleichtern, gebe ich in der Beilage die Musik mit beiden Texten.

Ein etwas anderes Verhältniß scheint bei der Melodie »Gott mein Herz dir Dank« zu walten. Die Dichtung der Gräfin Aemilie Juliane, ein Abendlied nach dem Genuß des heiligen Abendmahls, findet sich bei Schemelli nicht, wohl aber als ziemlich genaue Nachdichtung derselben ein Morgenlied eines Communicanten »Gott sei Lob, der Tag ist kommen«. Eine eigne Melodie gab es bisher für beide nicht. Auch die Dichtungen scheinen sich nur hier und da eingebürgert zu haben; »Gott sei Lob« findet sich im 2. Theil des Arnstädtischen Gesangbuchs von 1745, »Gott mein Herz« war nach Heinrich Nikolaus Gerbers Choralbuch in Sondershausen bekannt. Wenn Bach eine Melodie für Schemellis Gesangbuch erfinden wollte, so lag es im wohl nahe, sich lieber an das Original, das ihm vermuthlich aus Thüringen bekannt war, als an die Nachdichtung zu halten; jenem schmiegt sich denn auch die Melodie noch inniger an, sie paßt gleichwohl aber auch recht gut auf die Nachdichtung.

Die Dichtungen zu den drei andern von Krebs überlieferten Melodien stehen sämmtlich in Schemellis Gesangbuch. »Das walt mein Gott« hatte längst eine eigne Melodie, »Meine Seele laß es gehen« soll hier nach »Herr ich habe mißgehandelt« gesungen werden, es gab jedoch auch Originalmelodien dazu, welche Dretzel und König mittheilen. Die Krebsschen Melodien sind von den genannten ganz abweichend und kommen auch sonst nirgends vor. Ohne eine eingebürgerte eigne Melodie war das Lied »Ich gnüge mich an meinem Stande«. Dretzel, als er sein Werk »Des Evangelischen Zions Musicalische Harmonie« vorbereitete (es erschien 1731), fand in Gesangbüchern nur den Text und entschloß sich also, selbst eine Weise dazu zu setzen. Bei Schemelli findet sie aber keine Berücksichtigung; hier soll das Lied nach der Melodie »Wer nur den lieben Gott läßt walten« gesungen werden, deren letzte beide Zeilen sich mit denen der Dichtung metrisch nicht vollständig decken, und so den Wunsch nach einer eignen Weise erwecken mußten. Man erinnere sich aber, daß Bach eine Picandersche Cantate »Ich bin vergnügt mit meinem Glücke« componirt hatte (s. S. 274 dieses Bandes). Picander hatte offenbar das geistliche Strophenlied vor Augen gehabt; nicht nur der übereinstimmende Inhalt, sondern auch viele einzelne Wendungen verrathen dies. Bach mußte also schon deshalb der Dichtung bei Schemelli ein gewisses Interesse zuwenden, und es ist wohl nicht zufällig, daß die von Krebs überlieferte Melodie ebenso wie die Cantate in E moll steht.

58. (S. 633.) Ein Autograph der englischen Suiten ist nicht bekannt. Aber im Nachlasse Heinrich Nikolaus Gerbers befanden sich Abschriften von vieren derselben, die nach dem Tode des Lexicographen Ernst Ludwig Gerber in den Besitz des Hofrath André, von diesem an den Musikdirector Rühl zu Frankfurt a.M. übergingen. Der jetzige Eigenthümer ist Herr Dr. Erich Prieger in Berlin, welcher mir die Benutzung freundlichst gestattete. Gerber nahm die Abschriften, als er von 1724–1727 [839] in Leipzig auf der Universität und bei Bach studirte. Aus der Aufschrift der ersten Suite geht dies klar hervor: er nennt sich auf derselben »L.[itterarum] L.[iberalium] S.[tudiosus]. a[c] M.[usicae] C.[ultor]«. Außerdem stimmen die Abschriften in Bezug auf Schrift, Tinte und Papier vollständig überein mit dem ausgesetzten Generalbass zu einer Albinonischen Sonate, ein Manuscript, das aus Rühls Nachlaß in meinen Besitz kam (s. S. 125 dieses Bandes). Auch noch acht andre Suiten, unter ihnen die sechs französischen, hat Gerber zu derselben Zeit in derselben Weise abgeschrieben. Er wurde hierzu unmittelbar durch den Unterricht veranlaßt, den er von Bach erhielt: sein Sohn berichtet, daß er außer den Inventionen und dem Wohltemperirten Clavier auch eine Reihe von Suiten bei Bach habe durchstudiren müssen (s. S. 607 dieses Bandes). Von den englischen Suiten hat Gerber die aus A dur, G moll, E moll und D moll copirt. Er hat aber jedenfalls wenigstens von fünfen derselben Kenntniß gehabt. Denn er bezeichnet die A dur als erste, die G moll als zweite, die E moll als vierte und die D moll als fünfte. Also lag entweder die F dur oder die A moll damals ebenfalls schon fertig vor. Wahrscheinlich aber ist es, daß alle sechs bereits vollendet waren, da Bach dieselben auf Bestellung, also in einer und derselben Zeit, schrieb, und er außerdem schon 1726 an einem andern großen Suitenwerke, den sechs Partiten der »Clavierübung«, zu arbeiten angefangen hatte.

Nächst den Gerberschen Abschriften ist eine Copie der englischen Suiten von Johann Christian Bach, dem jüngsten Sohne Sebastians, von besonderer Wichtigkeit. Das Manuscript ist im Besitze von Herrn Arnold Mendelssohn in Berlin. Daß Christian Bach der Schreiber war, ergiebt sich aus dem Titelblatte der G moll-Suite, welches von derselben Hand, und augenscheinlich zu gleicher Zeit geschrieben, die Notiz trägt: pp [d.h. proprium] J.C. Bach. Auch auf dem Titel der A dur-Suite hat der Besitzer, aber offenbar erst später, bemerkt: pp Jean Chretien Bach. Interessant ist dieser Titel noch dadurch, daß er die Notiz aufweist: fait pour les Anglois; hierdurch wird dargethan, daß an Forkels Mittheilung, Bach habe die Suiten für einen vornehmen Engländer componirt, etwas wahres sein muß. Die Abschrift ist im Ganzen eine recht sorgfältige. Wann sie genommen ist, läßt sich nicht erkennen. Die Züge sind ziemlich fließend und ausgeschrieben; hätte Christian Bach sie noch zu Lebzeiten seines Vaters in Leipzig gemacht, so könnte dies, da er 1735 geboren ist, frühestens 1749 oder 1750 geschehen sein. Uebrigens ist die Handschrift nicht mehr vollständig: die F dur-Suite fehlt.

59. (S. 635.) Nur der erste Theil der »Clavierübung« trägt, als Ganzes wie in seinen einzelnen Bestandtheilen, auf dem Titel das Jahr der Veröffentlichung. Wann die übrigen Theile herausgekommen sind, wußte man bisher nur annäherungsweise. Ueber den zweiten Theil bemerkt indessen J.G. Walther in den handschriftlichen Zusätzen zu seinem Handexemplar des Lexicons, welcher aus Gerbers Bibliothek in die Bibliothek der Gesellschaft der Musikfreunde zu Wien gekommen ist, er sei »in der [840] Ostermesse 1735 in Joh. Weigels Verlag, durch Kupferstich ans Licht getreten«. Den dritten Theil zeigt Mizler (Musikalische Bibliothek, Andrer Band, Erster Theil, S. 156 f.) unter den »Merkwürdigen musikalischen Neuigkeiten« an. Der betreffende Theil der Musikalischen Bibliothek erschien 1740, der nächstvorhergehende sechste Theil des ersten Bandes am Ende des Jahres 1738. Da es ganz unzweifelhaft ist, daß Mizler das Bachsche Werk sofort angezeigt hat, sobald ihm nur nach dessen Erscheinen dazu Gelegenheit gegeben war, so kann dasselbe nicht vor 1739 herausgekommen sein. Unmöglich ist es nicht, daß es auch erst 1740 erschien; aber doch unwahrscheinlich. Denn Mizlers Publikation erschien sicherlich zur Ostermesse; da auch Bach sein Werk nicht wohl früher ausgehen lassen konnte, wenn es überhaupt 1740 erscheinen sollte, so hätte Mizler davon Kenntniß gehabt haben müssen, ehe es in den Handel kam. Dann aber hätte er gewiß nicht so ganz einfach geschrieben: »Hier hat auch der Herr Capellmeister Bach herausgegeben: Dritter Theil« u.s.w. Was endlich den vierten Theil der »Clavierübung« anbetrifft, den übrigens Bach selbst nicht als »vierten Theil«, sondern einfach als »Clavier Ubung« bezeichnet hat, wie denn auch sein Format ein andres ist, so läßt sich mit Sicherheit über die Zeit seines Erscheinens folgendes bestimmen. Er kam bei Balthasar Schmidt in Nürnberg heraus. Bei demselben Verleger veröffentlichte Emanuel Bach im Jahre 1742 (s. dessen Selbstbiographie bei Burney III, S. 203) die Friedrich dem Großen gewidmeten bekannten sechs Claviersonaten. Sie tragen die Verlagsnummer 20. Seb. Bachs Variationen haben die Nummer 16; sie sind also früher gestochen. Aber um wie viel früher? Balthasar Schmidt verlegte grade in jener Zeit für seine Verhältnisse ziemlich viel. 1738 finden wir ihn bei Nr. 9 (M. Scheuenstuhls G moll-Concert), 1745 schon bei Nr. 27 (Em. Bachs D dur-Concert). J.G. Walther, der den bedeutenderen Novitäten des Musikalienmarktes aufmerksam zu folgen pflegte, sagt in den handschriftlichen Zusätzen zum Lexicon, Em. Bachs sechs Sonaten seien »circa 1743« erschienen. Wenn es nun der Componist selbst auch besser gewußt haben wird, so ist aus Walthers Notiz doch wohl zu schließen, daß die Sonaten nicht schon zur Ostermesse, sondern erst gegen Ende des Jahres 1742 in den Handel kamen. Seb. Bachs Variationen könnten also wohl zu Ostern 1742 ausgegeben sein. Sicher wäre dieses das Erscheinungsjahr, wenn man darauf Gewicht legen wollte, daß in dem Bericht über die Veranlassung der Variationen der hohe Besteller »Graf« Kayserling genannt wird. Denn ursprünglich war er seines Standes Freiherr, und wurde laut den Acten des sächsischen Hauptstaatsarchivs zu Dresden erst am 30. October 1741 durch August III. in den Grafenstand erhoben. Indessen ist dies eine unzuverlässige Handhabe, und wir müssen uns mit dem Resultat zufrieden geben, daß die Variationen nicht später als 1742 erschienen sein können, und wahrscheinlich in eben diesem Jahre auch erschienen sind.

60. (S. 661.) Im Nachlasse des 1877 verstorbenen Rentiers Grasnick [841] zu Berlin fand sich eine Abschrift der Chromatischen Fantasie und Fuge von unbekannter Hand mit dem Datum »Den 6. December 1730«. Das Heft ist Kleinquerquart und zählt 14 Blätter; es ist offenbar zunächst für die Bachsche Composition angelegt, welche dasselbe auch fast ganz ausfüllt. Der Rest des Raumes ist mit kleinen Stückchen beschrieben, welche Compositionsversuche eines Anfängers darstellen. Trotz mancher Fehler, welche der scheinbar noch wenig geübte Schreiber gemacht hat, ist in Ermanglung eines Autographs dieses Manuscript von allen bis jetzt bekannten das wichtigste. Gripenkerl hat zu seiner Ausgabe der chromatischen Fantasie und Fuge (P.S. I, C. 4, Nr. 1) zwei Varianten gefügt, von denen die zweite keine selbständige Bedeutung hat, die erste aber, nach einer Handschrift des Dessauer Capellmeisters F.W. Rust vom Jahre 1757, das Werk in älterer, vermuthlich ursprünglicher Fassung zeigt. Diese Fassung bietet die Handschrift von 1730 schon nicht mehr; wir sind daher berechtigt die eigentliche Composition der chromatischen Fantasie und Fuge mindestens um 10 Jahre zurückzuverlegen. Die Richtigkeit der Fassung aber, in welcher, als vermeintlich endgültiger, Griepenkerl das Werk edirt hat, erscheint nunmehr in mehr als einem Punkte äußerst bedenklich. Denn in dem, worin die ältere Rustsche und die spätere Grasnicksche Fassung übereinstimmen, wird man, da an eine dritte Überarbeitung Bachs nicht wohl zu denken ist, doch sicher Bachs feststehenden Willen erkennen müssen. Für diese Annahme gewährt eine weitere Bekräftigung eine Handschrift Kittels, eines der letzten Schüler, und Müthels, des letzten Schülers Bachs, von der chromatischen Fantasie allein. Die genaue Collation der ersteren fand sich ebenfalls im Grasnickschen Nachlasse, die letztere besitzt seit langem die königl. Bibliothek zu Berlin. Beide stimmen in den wesentlichen Dingen mit der Handschrift von 1730 überein. Die am tiefsten einschneidende Abweichung in der Fantasie ist Takt 49 beim Beginne des Recitativs, wo es entgegen der Griepenkerlschen, jetzt überall verbreiteten Lesart heißen muß:


Anhang A

– eine Lesart, welche auch innerlich berechtigter erscheint. Auch die Fuge zeigt einige bemerkenswerthe Verschiedenheiten, so z.B. T. 72, Oberstimme


Anhang A

Griepenkerl folgte der Handschrift Forkels, wie er sich denn auch [842] dessen Auffassungen anschloß. Er veranstaltete 1819, ein Jahr nach Forkels Tode, bei Peters in Leipzig eine zweite Ausgabe der chromatischen Fantasie und Fuge unter dem Titel: »Neue Ausgabe mit einer Bezeichnung ihres wahren Vortrags, wie derselbe von J.S. Bach auf W. Friedemann Bach, von diesem auf Forkel und von Forkel auf seine Schüler gekommen«. Dazu schrieb er eine lesenswerthe Vorrede über die Art der Bachschen Spielweise, wie Forkel sie aus Friedemann Bachs Vortragsart entnommen hatte, und die sich so bis heute fortgepflanzt hat. Die chromatische Fantasie und Fuge hatte Forkel handschriftlich ebenfalls zuerst von Friedemann Bach erhalten (s. seine Schrift über J.S. Bach, S. 56). Man darf also annehmen, daß dasjenige, was als Abweichung von den vertrauenswürdigsten übrigen Handschriften in Forkels Handschrift erscheint, von Friedemann Bach herstammt, der in seinen genialischen Launen es mehr als einmal an der erforderlichen Pietät gegen die Werke des großen Vaters hat fehlen lassen.

61. (S. 671.) Ein vollständiges Exemplar der Originalausgabe des Musikalischen Opfers befindet sich auf der Amalienbibliothek des Joachimsthalschen Gymnasiums zu Berlin. Es hat deshalb noch einen besondern Werth, weil es das von Bach an Friedrich den Großen gesandte Dedications-Exemplar ist, welches demnach der König seiner Schwester überlassen haben muß. Durch dasselbe werden zwei Dinge sicher festgestellt: daß Bach unter dem Titel »Musikalisches Opfer« ursprünglich nur die dreistimmige einfache Fuge, sechs Canons und die canonische Fuge überreichte, sodann, daß er beim Beginn der Arbeit über Gang und Umfang derselben noch nicht mit sich im Klaren war. Das Dedications-Exemplar enthält: 1) 3 Blätter mit Noten und zwei Blätter mit Titel und Widmung. Das Papier ist von seltener Schönheit und Stärke, das Format größtes Querfolio. Diese fünf Blätter sind in braunem Lederband mit Goldpressung. Den musikalischen Inhalt bilden die dreistimmige einfache Fuge und ein Canon, in welchem der Alt den Cantus firmus führt, während Discant und Bass canonisch contrapunktiren. Der Canon hat die gestochene Überschrift Canon perpetuus super Thema Regium, die Fuge ist Ricercar benannt. 2) Einen Hochfolio-Bogen von derselben Beschaffenheit in Bezug auf Größe und Güte des Papiers. Er ist seines abweichenden Formates wegen nur beigelegt, und enthält auf den beiden Innenseiten unter der gestochenen Überschrift Canones diversi super Thema Regium fünf Canons und eine Fuga canonica in Epidiapente.

Die Blätter in Querfolio sowohl wie in Hochfolio tragen aber geschriebene Zusätze. Außer den Glückwünschen, welche dem 4. und 5. Canon des Hochfoliobogens rechts zur Seite beigegeben und von mir im Contexte mitgetheilt sind, findet sich auf der ersten leeren Seite desselben der Titel: Thematis Regii elaborationes canonicae; auf der ersten leeren Seite der Notenblätter in Querfolio aber: Regis Jussu Cantio Et Reliqua Canonica Arte Resoluta. Hierdurch sind die späteren Herausgeber veranlaßt worden, diesen Satz an die Spitze des Gesammtwerkes zu stellen. Weder[843] dies, noch daß er auch nur der ersten Fuge nebst Canon vorausgehen sollte, war Bachs letzwillige Absicht. Die lateinischen Sinnsprüche, oder wenigstens das Regis Jussu u.s.w. war ihm offenbar erst eingefallen, als der Stich schon vollendet war. Da er es mit der Überreichung eilig hatte, ließ er den Spruch auf das Dedications-Exemplar schreiben. Der Sinn paßt aber für den Inhalt des Querfolio-Heftes nicht recht. Das bemerkte Bach selber und als er hernach einen Streifen mit diesen Worten hatte stechen lassen, ließ er ihn gleichfalls als Titel auf die erste Seite des Hochfoliobogens kleben, wo er besser am Platze ist. An dieser Stelle zeigen ihn die zur Verbreitung bestimmten Exemplare.

Ich sagte, daß es Bach mit der Herstellung des ersten Exemplars eilig gehabt habe. Am 7. und 8. Mai 1747 spielte er vor Friedrich dem Großem in Potsdam, vom 7. Juli desselben Jahres datirt bereits die gedruckte Dedication des Musikalischen Opfers. In zwei Monaten ist also Composition und Stich ausgeführt worden, und letzterer war um so zeitraubender, als der Stecher nicht in Leipzig wohnte. Nicht zwar auf den hier in Rede stehenden Blättern, wohl aber auf denen, welche das sechsstimmige Ricercar enthalten, steht S. 7 unten: J.G. Schübler sc. Sie stimmen aber mit jenen in Bezug auf Stich, Papier und zum Theil auch Format so vollkommen überein, daß der Stecher hier wie dort dieselbe Person gewesen sein muß. Schübler wohnte in Zella St. Blasii bei Suhl. Über dem Hin- und Zurücksenden des Manuscripts, der Correctur- und Aushänge-Bogen konnten bei den damaligen Communicationen leicht zwei Wochen vergehen.

Aus diesen Umständen erklärt sich nun sehr wohl die sonderbare äußere Form des Werkes; sie trägt den Charakter überstürzter Herstellung. Auch Flüchtigkeiten im Stich fallen auf Rechnung derselben. So fehlt bei dem zweiten Canon des Hochfoliobogens vor dem untern System das Th (Thema) und bei der canonischen Fuge die Angabe, welches Instrument die obere canonische Stimme spielen soll.

Alles übrige, was wir jetzt noch unter dem Namen »Musikalisches Opfer« mitbegreifen, und dem, wie gesehen, dieser Titel streng genommen nicht zukommt, ist von Bach später componirt und nachträglich ohne besondere Förmlichkeiten dem Könige zugesandt. Und auch dieser Rest noch zerfällt seiner äußern Form nach in zwei Partien. Das sechsstimmige Ricercar und zwei angehängte Canons bilden wieder ein Heft von 4 Blättern in Querfolio für sich, das auch seine eigene Paginirung hat. Es liegt dem Prachtexemplare auf der Amalienbibliothek ebenfalls bei, aber in gewöhnlicher Ausstattung; nicht gebunden, nicht einmal geheftet: der Rücken der Blätter wird durch eine Stecknadel zusammengehalten. Die Sonate dagegen und der Canon für Flöte, Violine und Bass sind wider in Hochfolio gestochen: drei Bogen, für jedes Instrument einer, ohne jeden Titel und auch ohne Umschlag. Sie werden auf der Amalienbibliothek besonders aufbewahrt, und scheinen auch benutzt worden zu sein, wenigstens sind in der Continuostimme mit [844] Tinte Correcturen eingetragen. Weshalb Bach hier nochmals das Format hat wechseln lassen, dürfte schwer zu sagen sein.

So wie das Ganze nun ist, erscheint es als ein sonderbares Conglomerat von Stücken, denen sowohl der äußere typographische, als der innere musikalische Zusammenhang fehlt. Daß Bach die Arbeit nicht nach einem bestimmten Plane begonnen und durchgeführt habe, bezeichnete ich oben als das zweite, was aus dem vollständigen Exemplar der Amalienbibliothek deutlich hervorgehe. Der Inhalt gliedert sich nach den musikalischen Formen in Fugen, Canons und Sonate. Aber sowohl die Fugen, wie die Canons sind in der Anordnung der Originalausgabe auseinander gerißen; die Canons finden sich an nicht weniger als vier verschiedenen Stellen, und sind auch hinsichtlich ihrer Form bunt durcheinander gewürfelt. Diese wüste Unordnung mag dem Autor selber fatal genug gewesen sein, war aber, nachdem er sich anfänglich mit der Herausgabe überstürzt hatte, nicht mehr abzustellen. Bach ließ zunächst 100 Exemplare abziehen, die er größtentheils an gute Freunde unentgeltlich verschenkte. Sie waren am 6. October 1748 vollständig verthan; er schrieb aber an diesem Tage an seinen Vetter Elias Bach in Schweinfurt, daß er demnächst wieder einige Exemplare abdrucken lassen wolle, und das Exemplar einen Thaler kosten solle. Ob er hierunter auch das Trio einbegriffen hat, ist nicht ersichtlich und scheint zweifelhaft, da er nur von der »Preußischen Fuge« spricht. Später kam das Werk in den Handel und wurde von Breitkopf im Jahre 1761, für 1 Thlr. 12 gr, verkauft (s. dessen Verzeichniß von Ostern 1761, S. 39). Weiter aber verbreitete es sich nach damaliger Gewohnheit durch Abschriften. Da es kein abgeschlossenes Ganzes war, so schrieb sich jeder ab, was und wie viel ihm gefiel, und in beliebiger Anordnung. Vollständige ältere Handschriften müßen äußert selten sein, mir ist keine einzige vorgekommen. Agricola schrieb die dreistimmige einfache Fuge ab und darunter drei Canons; diese Handschrift ist ebenfalls auf der Amalienbibliothek. Ueber dem ersten Canon steht: Canone perp: sopra il soggetto dato dal Rè. Dieselbe Ueberschrift hat Kirnberger, Kunst des reinen Satzes II, 3, S. 45 angewendet.

62. (S. 698.) Rust hat zuerst darauf aufmerksam gemacht, (B.-G. XXV2, S. V), daß der Titel der Originalausgabe einen Anhalt zur Bestimmung der Erscheinungszeit gewähre. Er irrt nur darin, daß er sie auf 1747–1749 beschränkt. Friedemann Bach wurde schon 1746 als Organist in Halle angestellt (s. Chrysander, Jahrbücher für musikalische Wissenschaft. II. Band, S. 244), und auch zur Ostermesse 1750 ist die Publication des Werkes noch denkbar. Bach stand bis an seinen Tod mit Schübler in Geschäftsverbindung: in den Acten über seine Hinterlassenschaft findet sich unter dem Titel »Andere nöthige Ausgaben« ein Posten »Herr Schüblern bezahlt 2 Thlr. 16 gr.« Auf die »Kunst der Fuge« läßt sich diese kleine Summe nicht beziehen, abgesehen davon, daß es auch aus einem andern Grunde unwahrscheinlich ist, Schübler habe den Stich derselben besorgt. Man könnte sie aber wohl mit den sechs Chorälen in Verbindung [845] bringen und daraus folgern, daß dieselben entweder erst gegen 1750 herausgegeben, oder daß um diese Zeit neue Exemplare derselben abgezogen worden seien.

63. (S. 699). Der Nekrolog sagt S. 173 wörtlich: »Zur Societät hat er [Bach] den Choral geliefert: Vom Himmel hoch da komm' ich her, vollständig ausgearbeitet, der nachher in Kupfer gestochen worden«. Hiernach wäre das Werk erst gestochen, nachdem Bach es der Societät vorgelegt hatte. Da er im Sommer des Jahres 1747 und wohl noch über diese Zeit hinaus mit der Herstellung des Musikalischen Opfers zu thun hatte, so könnte das Choralwerk nicht gut vor 1748 erschienen sein. Dies Ergebniß läßt sich mit einem gewissen bemerkenswerthen Umstande nicht vereinigen. Emanuel Bach veröffentlichte 1745 ebenfalls bei Balthasar Schmidt in Nürnberg ein Clavierconcert mit Begleitung in D dur (s.E. Bachs Selbstbiographie bei Burney III, S. 203). Dieses Concert trägt die Verlagsnummer 27. Seb. Bachs Bearbeitungen des Weihnachtschorals tragen aber die Nummer 28, sind also in Schmidts Verlage unmittelbar auf das Werk des Sohnes gefolgt. Schmidt war als Verleger damals sehr rührig (vergl. Nr. 59 dieses Anhangs); wären die Choralbearbeitungen erst nach Bachs Eintritt in die Societät publicirt, so hätte Schmidt während eines Zeitraumes von drei Jahren gar nichts neues verlegt, was nahezu undenkbar ist. Ich glaube, daß die Choralbearbeitungen spätestens 1746 im Stich fertig gewesen sind. Der Bericht, daß sie für die Societät componirt worden sind, kann darum doch wahr bleiben. Mizler wußte es schon im Frühling 1746, daß Bach die Absicht hahe einzutreten (s. S. 505 dieses Bandes). Vermuthlich wollte Bach mit einer auch äußerlich abgeschlossenen und dadurch der Discussion gewissermaßen entrückten Leistung vor der Societät erscheinen, wurde aber, als das Werk schon gestochen vorlag, durch irgend welche Gründe vom Beitritt einstweilen noch zurückgehalten. Daß dieses der wahre Sachverhalt gewesen sein wird, läßt sich auch aus dem Bericht des Nekrologs halb errathen, der in diesen die Societät betreffenden Dingen gewiß nicht Em. Bach oder Agricola und überhaupt wohl keinen Musiker zum Verfasser hat. Denn was sollen die Worte »vollständig ausgearbeitet« heißen? Halbvollendete Arbeiten pflegte man der Societät nicht vorzulegen, und am wenigsten hätte es ein Bach gethan. Und kann man bei einem Werke wie diesem von »dem Choral« sprechen? Mir scheint es, als habe der Schreiber des Satzes eine ihm gewordene Mittheilung nicht verstanden und daher entstellt wiedergegeben. Die Mittheilung aber dürfte gelautet haben: Bach hat eine Choralcomposition über »Vom Himmel hoch« ausgearbeitet und in Kupfer stechen lassen, und hernach das vollständig fertige Werk der Societät eingeliefert.

Fußnoten

1 Die Inscriptionsbücher der Universität Frankfurt, welche sich auf diese Zeit beziehen, sind verloren gegangen. Rochlitz, der Emanuel Bachs Jugendgeschichte nach Mittheilungen von dessen Studien- und Altersgenossen Doles erzählt, sagt (Für Freunde der Tonkunst IV, S. 184. 3. Aufl.), daß er nach Frankfurt gegangen sei, nachdem er zwei Jahre in Leipzig studirt habe. Auf der Universität Leipzig wurde Emanuel Bach am 1. October 1731 inscribirt. Rochlitzens, eines sonst nicht immer zuverlässigen Gewährsmannes, Angabe findet eine gewisse Bestätigung in den Rechnungen der Thomaskirche, nach welchen Emanuel bis Neujahr 1733 das Cembalo in derselben zu stimmen hatte. Bald darauf trat Landestrauer ein und das Cembalo wurde in diesem Jahre auch nach derselben nicht benutzt. Von Ostern 1734 an stimmt es Zacharias Hildebrand.


2 D.h. dessen Umgestaltung; die Partitur der Urform hat die Wasserzeichen, wie die Partitur des Oster-Oratoriums; s. Nr. 48 dieses Anhangs.


3 Parlaw wird ein Hamburger Musiker gewesen sein. Der Name findet sich auch auf Manuscripten der Bibliothek der Singakademie zu Berlin, die aus Pölchaus Besitz dorthin gekommen sind. – Nach Hilgenfeldt, S. 112, ist die Motette »Jauchzet dem Herrn« von J.S. Döring bei Kollmann in Leipzig herausgegeben worden; ich habe diese Ausgabe nicht gesehen.


4 Nach »ist« scheint das Wort »sie« ausgefallen, d.h. von Bach beim Componiren übersehen worden zu sein. Sowohl Sinn als Versmaß fordern eine Einschaltung derart.


5 Im Vorwort der B.-G. steht Poloniorum; wohl verdruckt, weil sinnlos.


6 Band I, S. 541, Anmerk. 24 ist nur die Uebereinstimmung mit den späteren Stimmen des Oster-Oratoriums hervorgehoben (s. Nr. 48 dieses Anhangs). Aus obigen Gründen möchte ich darauf jetzt das geringere Gewicht legen, und auch glauben, daß die Partitur in Bachs Hause geschrieben ist.

Quelle:
Spitta, Philipp: Johann Sebastian Bach. Band 2, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1880..
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