Judendeutsch

[159] Judendeutsch (Jüdischdeutsch), nennt man das Jargon, welches von den deutschen Juden nicht nur in Deutschland, sondern auch im östlichen Frankreich, den Niederlanden, den deutschen Gemeinden Londons, in Dänemark u. Schweden, im ganzen russischen Polen u. in Neurußland, Galizien. Ungarn u. Siebenbürgen, der Moldau u. Walachei, Serbien, Bosnien, dem nördlichen Italien u. der Schweiz bis in das 19. Jahrh. herein allgemein gesprochen wurde u. noch gegenwärtig, obgleich überall die Landessprachen die Herrschaft zu gewinnen anfangen hat, namentlich von dem minder gebildeten Theile der Juden gesprochen wird. Die Grundlage des Jargons ist deutsch, doch sind sehr viele hebräische, in der Form germanisirte Stämme beigemischt, so wie Manches aus dem Slawischen u. anderen Sprachen, jedoch nur verderbt aufgenommen. Das deutsche Element ist das Hochdeutsche, nicht das Plattdeutsche; es ist durch Aussprache, Betonung, Construction, Wortbedeutung, vielfältige Abkürzungen u. Änderungen entstellt. Man unterscheidet im Jüdischdeutschen wiederum verschiedene Dialekte, wie den elsasser, den süddeutschen, den norddeutschen, den polnischen u. den der östlicheren Juden im christlichen Europa. Vieles aus dem Jüdischdeutschen ist in die Gaunersprache (s.d.) übergegangen. Das Jüdischdeutsch hat sich von den allemannischen Provinzen Frankreichs u. dem südlichen Deutschland aus verbreitet; von Frankreich aus ist es durch die Auswanderungen der Juden zwischen 1280 u. 1306, dann wiederholt im 14. Jahrh., sowie aus Deutschland durch die vielfachen Zerstreuungen seit dem 15. Jahrh. nach dem östlichen Europa gekommen. Eine Grammatik des Jüdischdeutschen kann es nicht geben; es sind alle Formen der Grammatik auf das Nachlässigste durcheinander geworfen. In dem deutschen Elemente hat sich manches Alterthümliche in der Form (z.B. die Vorsylben ar u. ant statt er u. ent), wie im Sprachgebrauch u. der Redeweise erhalten. Andererseits erklären sich viele Ausdrücke u. Redensarten, welche in der Sprache des Volkes gäng u. gäbe sind, aus dem Judendeutschen, z.B. Schachern (Handeltreiben), Schlemihl (Unglücksmensch), Schote (Narr), uzen (foppen), pleite gehen (mit fremden Gute flüchtig werden), kauscher, schächten, meschikker (betrunken), maschugge (verrückt) etc. Es gibt mehrere Hülfsbücher zum Erlernen des Jüdischdeutschen, z.B. Wagenseil, Belehrung der jüdischdeutschen Red- u. Schreibart, Königsb. 1699, Frankf. 1715; Selig, Lehrbuch zur Erlernung der jüdischdeutschen Sprache, mit Wörterbuche, Lpz. 1792; Levy, Unterricht in der jüdisch deutschen Sprache, Prag 1799, etc. Nicht unbedeutend ist die jüdisch-deutsche Literatur, die sich seit der Mitte des 16. Jahrh. immer mehr ausbildete, in der zweiten Hälfte des 17. Jahrh., insbesondere durch die in Folge der polnischen Verfolgung (von 1648–1654) nach allen Richtungen hin zersprengten Juden ihre höchste Blüthe erreichte, bis auf Mendelssohn herab aber wieder völlig gesunken ist. Sie begann mit Übersetzungen od. Erläuterungen einzelner Theile der Heiligen Schrift. Das erste jüdischdeutsche Buch, das wie alle folgenden mit hebräischen Lettern gedruckt ist, scheint Elias Levite's Übersetzung der fünf Megilloth (Vened. 1544) gewesen zu sein, doch erschien schon vorher Desselben Übersetzung des Sittenbuchs (Isna 1542). Eine vollständige jüdischdeutsche Bibel erschien zuerst Amst. 1677, eine bessere daselbst 1679. Weiter erklärte u. übersetzte man die Gebetbücher, od. verfaßte neue Werke dieser Art, die für das Volk bestimmt waren, weshalb man sich in ihnen auch der verschiedenen jüdischdeutschen Dialekte bediente, während viele Übersetzungen nach größerer Reinheit strebten. Auch die berühmtesten moralischen Schriften der Rabbinen (wie z.B. Bechai's Herzenspflichten etc.) erschienen in jüdischdeutscher Sprache; zur Unterhaltung für jüdische Frauen u. Mädchen waren die Übertragungen beliebter profaner Bücher, wie des Josippon, der 1001 Nacht, deutscher Ritter- u. Heldensagen, ferner theils übersetzter, theils gleich jüdischdeutsch verfaßter Lieder u. Balladen etc. bestimmt. Selbst Fastnachtsspiele, die in bisweilen selbst frivoler Weise biblische Stoffe behandelten, wurden in dem Jargon verfaßt. Auch mehrere Verfolgungsgeschichten, wie bes. der Fettmilchschen (1614–16) in Frankfurt, der Oppenheimerschen (1708) in Wien, des großen Blutbades in Polen (1648), des Aufstandes in Hamburg (1730) sind in demselben vorhanden. Seit Mendelssohn haben sich die Juden in den Städten Deutschlands bemüht, das Jargon gänzlich abzulegen u. mehrere Gebildete haben sie sogar zum Gegenstande der Satyre gemacht, wie z.B. Isaak Euchel (st. 1804 in Berlin) in dem Lustspiele Rabba Henoch (öfter gedruckt, zuletzt mit deutschen Lettern, Berl. 1846).

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 9. Altenburg 1860, S. 159.
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