Gaunersprache

[16] Gaunersprache, die Gauner haben in allen civilisirten Ländern Europas eine Geheimsprache, deren sie sich im Verkehr unter einander bedienen. So besitzen die Gauner u. Spitzbuben Frankreichs ihr Argot, die Spanier die Germania, die Italiener das Gergo (Zergo), die Engländer ihr Cant, die Portugiesen das Calao, die Böhmen die Hantyrka, die Skandinavier das Fantesprog; die deutschen Gauner reden unter sich das Rothwälsch od. Rottwälsch (von roter, welches in dem Jargon selbst Bettler bedeutet, u. wälsch, fremdartige Sprache), od. wie sie es selbst nennen, die Jenische Sprache (von Jenisch, kluger Mann) od. Kochemer Loschen (d.i. kluger. Leute Sprache, von kochem [hebr. chakham], klug, u. loschen [aus hebr. Laschon], Sprache). Wie[16] alle Gaunersprachen ist auch die deutsche eine fictive u. künstliche Sprachform, welche in grammatischer Hinsicht zu Einhaltung der jedesmal landesüblichen Sprache genöthigt hat. Nur ein Theil des Sprachschatzes, namentlich insoweit er sich auf das Gaunergewerbe selbst bezieht, erhält ein für den Nichteingeweihten (von den Gaunern ein Wittscher genannt) fremdartiges Aussehen, indem es einestheils Worte von fremdher, wie namentlich aus dem Jüdisch-deutschen (od. vermittelst dessen aus dem Neuhebräischen) u. dem Zigeunerischen entlehnt, od. anderntheils neue Wörter, oft nicht ohne gewissen Witz, ersinnt u. bildet, od. endlich bestehende Worte lautlich u. begrifflich verdreht. Auch mancherlei Provinzialismen (namentlich niederdeutsche) sowie einzelne andere ausländische Wörter sind darin enthalten. Man kann die Sprache der jüdischen u. der christlichen Gauner unterscheiden; während die letzteren fast in jeder Provinz in vielen Fällen für verschiedene Gegenstände auch eine verschiedene Benennung haben, wird das jüdische Jargon durch ganz Deutschland, von der Ostsee bis zum Rhein, gesprochen u. von den Zunftgenossen verstanden. Nicht wenige Gaunerausdrücke (z. B. wittsch, pleite etc.) sind in die gewöhnliche Verkehrssprache zunächst größerer Städte (z. B. Berlin) übergegangen.

Das Rothwälsch reicht bis in das frühere Mittelalter hinauf, als sich nach Einführung des Christenthums das Gaunerthum zunächst aus dem Bettelwesen, später unter Einwirkung der gedrückten jüdischen Bevölkerung u. der Zigeuner entwickelte. Der Grundstock der Gaunersprache hat sich seitdem ziemlich unverändert erhalten, wenn auch einzelne Ausdrücke außer Gebrauch gekommen od. durch andere Bildungen ersetzt worden sind, od. auch eine veränderte Bedeutung angenommen haben. Durchaus nicht zu verwechseln ist das Rothwälsch der deutschen Gannerschaft mit der Sprache der Zigeuner (s.d.), welche eine aus Indien stammende natürliche Volkssprache ist. Die ältesten nachweislichen Spuren einer ausgebildeten deutschen Gaunersprache finden sich im Notatenbuche des Dithmar von Meckebach unter Kaiser Karl IV. (1347–78). Die eigentliche Literatur des Gaunerthums beginnt mit einem Mandat des Rathes von Basel aus dem ersten Viertel des 15 Jahrh.; demnächst wird das Gaunerthum u. sein Jargon von Sebast. Brant im Narrenschiff behandelt. Bereits zwischen 1494–99 erschien zu Basel die erste Ausgabe des Liber vagatorum der Bettelorden, welches den Stoff systematischer verarbeitet u. auch ein Vocabulär des Rothwälschen gibt. Für den Beifall, den das Buch zu seiner Zeit fand u. wegen des damals in höchster Blüthe stehenden Vaganten- u. Räuberwesens finden konnte, spricht der Umstand, daß es 1510–29 nicht weniger als acht verschiedene Auflagen erlebte, in das Niederdeutsche übersetzt wurde u. daß Luther zu den letzten Ausgaben (Wittenb. 1523, 1528, 1529; neuer Abdruck besorgt von Spangenberg, Eisl. 1560; Derselbe niederdeutsch, Lübeck 1560) eine treffliche Vorrede schrieb. Auch später wurde es noch öfter gedruckt, z.B. Leipzig 1580; o. O. 1596; zuletzt o. O. 1688. Ein bloßes Plagiat des Liber vagatorum ist die Rotwelsch Grammatic (zuerst o. O. u. I.; dann Frkf. 1583, 1601) deren letzte Ausgabe (Frkf. 1755) bereits 878 Gaunervocabeln aufzählt. Zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges stand das Rothwälsch in voller Blüthe, wie der Abschnitt über dasselbe in Philander von Sittewalds (Moscheroschs) Wunderlichen u. wahrhaften Gesichten bezeugt; auch Schottelius in seinem Werke: Ausführliche Arbeit über die deutsche Haubtsprache (Braunschw. 1665) gibt ein Rothwälsches Vocabulär. Später machten Mittheilungen über die deutsche Gaunersprache: Scheffer, Abriß des Gauner- u. Bettelwesens in Schwaben, Stuttg. 1793, 2 Bde., u. ein Ungenannter in Wahrhafter Entdeckung der Jauner- od. Jenischen Sprache vom Constanzer Hans, Sulz. 1791. Als nach Beginn der Französischen Revolutionskriege das Räuber- u. Gaunerwesen in Deutschland wieder zu neuer Blüthe gedieh, zeigte sich bald, wie wichtig für den Polizei- u. Criminalbeamten die Kenntniß der Gaunersprache sein müsse. Außer den Notizen, welche Rebmann (in Damian Hessel u. seine Raubgenossen, Mainz 1811), von Grolmann (Actenmäßige Geschichte der Vogelsberger u. Wetterauer Räuberbanden, Gieß. 1813), Herrmann (Kurze Geschichte des Criminalprocesses wider den Brandstifter Horst, Berl. 1819), Stuhlmüller (Vollständige Nachrichten über eine polizeiliche Untersuchung gegen jüdische, durch ganz Deutschland u. dessen Nachbarstaaten verbreitete Gaunerbande, 1823) u.a. ihren Werken einverleibt haben, erschienen verschiedene Wörterbücher des Rothwälschen, wie namentlich von Pfister (in Actenmäßige Geschichten der Räuberbanden an den beiden Ufern des Mains im Spessart u. im Odenwalde, 3 Bde., Heidelb. 1812), Christensen (in Alphabetisches Verzeichniß einer Anzahl von Räubern, Dieben u. Vagabonden, Hamb. 1814), Falkenberg (in Versuch einer Darstellung der verschiedenen Klassen von Räubern, Dieben u. Diebshehlern, Berl. 1816–18, 2 Bde.), Bischoff (Die Kochemer Waldiwerei in der reußischen Märtine, od. die Gauner u. Gaunerarten im Reußischen Voigtland u. der Umgegend, Neust. 1822), Grolmann (Wörterbuch der in Deutschland üblichen Spitzbubensprachen, Bd. 1, Gießen 1822), von Train (Kochemer Loschen, Wörterbuch der Gauner- u. Diebes-, vulgo Jenischen Sprache, Meißen 1833), Rochlitz (Polizeilicher Schutz u. Trutz, Erf. 1830), Heckel (Handbuch des Gensdarmerie- u. niederen Polizeidienstes, Weim. 1841), Schlemmer (Der praktische Criminalpolizeibeamte, Erf. 1840), Thiele (Die jüdischen Gauner in Deutschland, ihre Taktik, ihre Eigenthümlichkeit u. ihre Sprache, Berl. 1840, 2. Aufl., Berl. 1842 f., 2 Bde.), Anton (Wörterbuch der Gauner- u. Diebessprache, 2. Aufl. Magdeb. 1843); zahlreiche Aufsätze im Allgemeinen Anzeiger der Deutschen (1804–15) u. in Eberhards Allgemeinem Polizeianzeiger. Alle diese Wörtersammlungen sind von Juristen u. Polizeimännern zum Gebrauche für ihre Fachgenossen zusammengestellt; in linguistischer Hinsicht wurde das Rothwälsch bis jetzt nur von Pott in dessen Werke über die Zigeuner in Europa u. Asien (2 Bde., Halle 1844 f.) charakterisirt. Eine eingehendere linguistische Arbeit über die Gaunersprache hat Avé-Lallemant in Aussicht gestellt, der auch in: Das deutsche Gaunerthum in social-politischer, literarischer u. linguistischer Ausbildung (2 Bde., Lpz. 1858), zum ersten Mal den ganzen Gegenstand behandelt hat. Von Gaunern verfaßte Poesien in ihrem Jargon, die sich über bloße Reimereien erheben, gibt es nicht; doch haben einige deutsche Dichter, wie Moscherosch, Scherffer u. in[17] neuester Zeit Hoffmann von Fallersleben, in Rothwälsch zu dichten versucht.

Außer dieser eigentlichen Kochemer od. Jenischen Sprache, sind unter den Gaunern noch einige andere Spracharten verbreitet, die in einer bloßen systematischen Verstümmelung des Deutschen bestehen u. bisweilen auch mit dem Namen Rothwälsch bezeichnet werden. Dahin gehört a) die sogenannte Pe-Sprache, welche darin besteht, daß allen Sylben doppelt, mit Zwischenfügung des Buchstaben p (b) ausgesprochen werden; b) eine andere Art, in welcher bei Sylben, die mit einem Consonanten anfangen, der Consonant vorn weggenommen u. hinten nebst einem folgenden e angesetzt wird (mich = ichme), wenn aber die Sylbe mit einem Vocal anfängt, dieselbe durch Anfügung der Sylbe we verlängert wird (ich = ichwe); c) bei einer dritten Sprachweise wird jeder Consonant doppelt, mit Zwischenfügung eines o, ausgesprochen; endlich d) setzt man hinter den ersten Vocal einer jeden Sylbe die Buchstaben mser. Früher hatte man wohl auch die Zigeunersprache als eine Art des Rothwälschen aufgezählt.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 7. Altenburg 1859, S. 16-18.
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