Mäßigkeitsvereine

[951] Mäßigkeitsvereine, Vereine, welche sich verpflichten, das Trinken geistiger Getränke im Übermaß od. ganz zu lassen. Von jeher haben Staat, Erziehung u. Kirche dahin gestrebt, der Trunksucht entgegenzuwirken, so wurde schon im 14. Jahrh. untereinem Landgrafen von Hessen u. 1517 durch den Christophorden (s.d.) in Österreich dagegen gearbeitet, wie auch im 17. Jahrh. der von Balde (s.d. 1) gestiftete Orden der Magern ein M. war. Allein die Idee, auf dem Wege der Association der Trunksucht entgegen zu wirken, wurde zuerst in den Nordamerikanischen Freistaaten laut, u. der erste M. trat 1803 in Boston hervor unter dem Namen: Gesellschaft von Massachusetts zur Unterdrückung der Unmäßigkeit; nach ihm mehrere andere u. endlich 1826 der Allgemeine amerikanische M., welcher den Branntwein ganz abgeschafft wissen wollte. Nach dem Muster dieses M-s bildeten sich solche Vereine auch in Europa u. fanden hier sehr bald Verbreitung, indem theils manche Regierungen durch Verordnungen, z.B. über das Branntweinschenken, theils die Leiter der Inneren Mission (s.d.) dieselbe in den Kreis ihrer Thätigkeit zogen u. bes. eine große Menge von Schriften darüber in Umlauf setzten. Einige suchten alle geistigen Getränke zu verdrängen (engl. Teatofallers), Andere nur den Branntwein, Andere wollten nur den Genuß beschränken, so bes. die deutschen M. Als Mittel zu diesen Zwecken dienten abgeforderte Gelübde, Belehrungen etc. In Deutschland fand seit 1843 jedes zweite Jahr eine Generalversammlung der Deputirten aller deutschen M. statt, die erste wurde 1843 in Hamburg, die zweite 1845 in Berlin, die dritte 1847 in Braunschweig abgehalten; die vierte sollte 1848 in Görlitz stattfinden, die Revolution verhinderte aber nicht nur diese Generalversammlung, sondern äußerte einen sehr störenden Einfluß auf die M. 1846 gab es in Deutschland 1232 M. mit 1 Million Mitgliedern u. 140 Hoffnungsschaaren (Kinder- M.). Preußen, wo bes. v. Seld für die Mäßigkeitssache wirkte, zählte 1845 550 M. mit 600,000 Mitgliedern, u. zwar Schlesien 1844 35 M., hier erhob 1851 der Papst Pius IX. die seit mehreren Jahren unter dem Clerus u. dessen Pfarrkindern in Schlesien bestehenden M. zu einer kirchlichen Brüderschaft unter dem Schutz der Heiligen Jungfrau u. gründete 1859 v. Richthofen ein Enthaltsamkeitsgasthaus. Am verbreitetsten waren die M in der Lausitz u. in Oberschlesien. Auch unter dem Mtlitär verbreitete sich die Enthaltsamkeit vom Branntwein, u. 1855–57 wurde die Zahl der Schenkwirthschaften u. kleinen Spirituosenbandlungen im ganzen Königreich um 5332 vermindert. Auch in den übrigen Ländern, in Oldenburg bes. durch Caplan Seling, in Kurhessen durch den Bischof von Fulda, in Hannover durch Böttcher etc., fand die Mäßigkeitssache viel Anklang, ebenso auch in außerdeutschen Ländern, z.B. in Krakau durch den Einfluß der Magnaten, in Ungarn, Galizien u. anderwärts. In England u. Irland wirkte seit 1838 Pater Mathew (s.d.), welcher jedoch von seinen Mitgliedern gänzliche Enthaltsamkeit von Wein, Bier etc. verlangte. Ende 1846 fand in London eine große Zusammenkunft von Abgeordneten der Mäßigkeitssache, für die man durch Tractätchen u. selbst durch Theaterstücke Theilnahme zu erwecken suchte, statt. Unter die Beschlüsse derselben gehört eine Aufforderung an die Branntweinbrenner, ihr Gewerbe einzustellen u. einen Weltmäßigkeitsverein zu bilden. In Schweden begannen die M. seit 1842 eingeführt zu werden, der König Oskar war Mitglied u. hatte auf seinen Domainen das Branntweinbrennen gänzlich untersagt, u. 1845 waren viele tausende von Brennereien eingegangen. Der Hauptvorkämpfer der Enthaltsamkeitssache war der Probst Wieselgren zu Westerstad. In Rußland entstand 1848 in mehreren Gouvernements, namentlich in Kowno, unter den Bauern eine große Bewegung gegen das Branntweintrinken, welche zur Bildung von M-n führte. In Nordamerika war Beecher Vater der Mäßigkeitssache, u. dieselbe fand hier später durch Robert Baird weite Verbreitung; bes. die Kinder in den Schulen wurden zum Gelöbniß der Enthaltsamkeit angehalten (Kaltwasservereine); in allen Städten jährlich mehrere Mäßigkeitsvorlesungen gehalten u. alljährlich ein großes Mäßigkeitsfest gefeiert. Philadelphia zählte 1847 in 195 Abtheilungen 24,889 Mäßigkeitssöhne. Ja die Mäßigkeitssache war sogar bis nach Afrika vorgedrungen, wo 1842 700 Hottentotten, Kaffern u. andere Volksangehörige das Fest der Gründung der M. feierten. Es hat indeß auch nicht an Reactionen gegen die M. gefehlt, bes. da, wo man die Sache auf die Spitze trieb u. selbst beim Abendmahl den Wein verbieten wollte. Ein großer Tumult gegen die M. entstand 1841 in Hamburg, wo das Vereinslocal von den Matrosen demolirt wurde. Ebenso bedeutend war in Nordamerika der Widerstand gegen das Mainegesetz 1852, welches den Verkauf aller alkoholhaltigen Getränke von Obrigkeitswegen verbietet; doch wurde es trotz des Widerstandes der Branntweinbrenner in mehreren Staaten angenommen.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 10. Altenburg 1860, S. 951.
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