Schriftgelehrte

[432] Schriftgelehrte (hebr. Sopherim, gr. Grammateis), bei den späteren Juden eigentlich diejenigen, welche eine vollständige Kenntniß der heil, Schriften hatten, daß sie dieselben erklären konnten; im N. T. gewöhnlich im schlimmen Sinne der vom Wege der wahren Erkenntniß des Gesetzes u. der Propheten abgekommene Stand der Gesetzeslehrer (Nomodidaskaloi), überhaupt der Gesetzesgelehrten (Nomikoi); sie gehörten meist zu der Partei der Pharisäer (s.d.) u. waren als gelehrte Kenner u. Interpreten des Gesetzes nach dessen theologischer u. juristischer Seite neben den Hohenpriestern u. Ältesten integrirende Mitglieder des Sanhedrin (s.d.) zu Jerusalem u. ebenso in den Localsynedrien u. Synagogen in den übrigen Landestheilen, sowie in der Diaspora. Als erster S. gilt Esra, welcher das Gesetz erklärte u. durch entsprechende Institute für Einführung desselben ins Leben u. für die Sammlung des Canon sorgte. Die in den verschiedenen Städten des Landes an den Synagogen als Gesetzerklärer wirkenden ausgezeichneten S-n bildeten nach u. nach eine Art gelehrte Körperschaft, die sogenannte Große Synagoge, deren Stimme in Gesetzesfragen gehört wurde, u. um sie sammelten sich Schulen, von denen bes. die zu Jerusalem u. Babylon berühmt waren. Die bestimmtere Constitution des Textes der Thorah u. die Aufstellung her Tradition neben dem geschriebenen Gesetz machte die Schriftgelehrsamkeit immer gelehrter, u. das Eindringen der Ausländerei seit der syrischen Zeit brachte schlimme Spaltungen über die S-n, woraus namentlich die gesetzesstrenge Partei der Pharisäer u. die liberale der Sadducäer (s. b.) hervorgingen. Als Träger der orthodoxen Tradition zeichneten sich bes. seit dem 2. Jahrh. v. Chr. fünf Paare von schriftgelehrten Schulhäuptern aus: die beiden Jose, Josua u. Nithai, Simon u. Juda, Schemaja u. Abtalion, der mildere Hillel u. der rigorose Schammai. Zur Zeit Jesu u. der Apostel waren berühmte S. die milderen Nikodemos, Simon, Gamaliel, Jochanan, Jonathan; aus der Schule Schammais aber Baba, Dosithai u. Zadok. Mit den S-n kam Jesus bes. über die damals überhaupt angeregten Streitfragen wegen Ehescheidung, Eid, Sabbathfeier, des vornehmsten Gebots im Gesetz, Lehrberechtigung in Conflict, denn es gehörte in letzter Beziehung nach damaliger Praxis dazu, daß Einer, welcher als öffentlicher Lehrer auftreten wollte, in einer Schule der S-n gelernt haben mußte. Die Wahl der S-n lag dem Hohen Rathe ob, dessen Mitglieder prüften sie, u. wenn sie als Lehrer tüchtig befunden waren, wurden sie auf den Lehrerstuhl gestellt, ihnen als Symbol ihres Standes ein Schlüssel übergeben u. dann zur Weihe die Hände aufgelegt (Semicha); von nun an hießen sie Rabbi (s.d.). Ihre Kleidung bestand in einem weiten, bis an die Füße reichenden Kleide. Nach der Zerstörung Jerusalems u. dem Aufhören des König- u. Priesterthums bei den Juden concentrirte sich alle geistige Kraft in dem Schriftgelehrtenthum, u. dasselbe wurde die einflußreichste Macht, welche das Volk mit seinen Satzungen wie mit einem festen Bande zusammenhielt.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 15. Altenburg 1862, S. 432.
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