Trunkenheit

[487] Trunkenheit wird im ausgedehntesten Sinne des Wortes jede Art vorübergehender Steigerung der geistigen Vermögen genannt, bei welcher der Wille mehr oder weniger vollständig seiner Freiheit beraubt ist, in der weit engern, gewöhnlichen Bedeutung aber der Zustand, welcher durch den verhältnißmäßig zu starken Genuß weingeisthaltiger, gegohrener Getränke hervorgebracht wird. Auch bei ihm, der stets als die Wirkung der durch den Kreislauf mit dem gesammten Nervensysteme in Berührung gebrachten berauschenden Stoffe betrachtet werden muß, ist Unfreiheit der Willenskraft eine wesentliche Erscheinung. Ganz besonders vermögen denselben der Wein und Branntwein, aber auch schwere Biere und narkotische Dinge, wie namentlich das Opium, zu erzeugen. In mäßiger Menge genossen, pflegen die weingeistigen Getränke zunächst den Umlauf des Bluts zu beschleunigen und dadurch die Wärmeentwickelung im Körper zu vermehren, überhaupt aber eine allgemeine Aufregung hervorzubringen, bei welcher nicht nur fast alle körperliche Verrichtungen freier und leichter von statten gehen, sondern auch einige Seelenvermögen, wie namentlich die Phantasie, das Vermögen der Bildersprache, das Bedürfniß sich mitzutheilen, das Gefühl der eignen Kraft, der Muth u.s.w. erhöht erscheinen, ohne daß bis dahin das Bewußtsein beeinträchtigt wird. Werden sie nun aber in größerer Menge und bis zum Übermaße getrunken, so verursachen sie eine Körper, Geist und Gemüth gleich sehr gefangen nehmende Aufregung, die sich je nach Verschiedenheit des Temperaments auf verschiedene Weise durch große, rücksichtslose Geschwätzigkeit, Singen, Schreien und sonstige Ausbrüche einer zügellosen Freude, zuweilen auch durch eine auffallende Geneigtheit zu Zänkereien und Händeln, zu erkennen gibt, wobei der Mensch wenig überlegt, was er spricht und thut, leicht in Gefahr geräth, Geheimnisse auszuplaudern, die Foderungen des Wohlstandes und der Schicklichkeit außer Acht läßt und überhaupt durch sein ganzes Benehmen beweist, daß die Vernunft wenig Gewalt mehr über ihn habe. Erreicht die Trunkenheit einen noch höhern Grad, so verliert der Mensch alles Bewußtsein, vermag nur noch auf eine unverständliche Weise zu lallen und sich kaum aufrecht zu halten, wird im Gesichte glühend roth, trieft von Schweiß und verfällt in ein vollständiges Delirium, das endlich in einen tiefen, dem unmittelbar auf einen Schlagfluß folgenden Zustande ähnlichen, betäubenden Schlaf übergeht, in welchem er sterben kann, wenn ihm nicht Natur oder Kunst zu Hülfe kommen. Doch hat selten der Wein solche traurige Wirkungen, sondern meist blos der unmäßige Genuß des Branntweins, Rums oder Araks. Je nach der besondern Beschaffenheit der genossenen weingeisthaltigen Getränke dauert ein Rausch kürzere oder längere Zeit und ist überhaupt leichter oder schwerer. Der flüchtigste, leichteste und angenehmste Rausch entsteht nach Champagner, der schwerste und schlechteste nach schweren Bieren, schlechtem Branntweine u.s.w. Im Allgemeinen kann man jedoch annehmen, daß derselbe so lange anhält, bis die berauschenden Getränke verdauet und durch die verschiedenen Ausscheidungswege aus dem Körper geschafft sind, worüber in der Regel 8, 12, 16–24 Stunden vergehen. Meist wird er ausgeschlafen. Sehr gewöhnlich hinterläßt jedoch ein starker Rausch mehr oder weniger lebhaften Kopfschmerz mit Widerwillen gegen Speisen, Gefühl von Druck, Schwere und Spannung in der Magengegend, bitterlichem Geschmacke im Munde, übelriechendem Aufstoßen und einer Art Muskelzittern, das sich indessen ebenso wie die vorgenannten Erscheinungen unter Beobachtung einer mehrtägigen Enthaltsamkeit und bei häufigem Genusse wässeriger, verdünnender Getränke wieder verliert, ohne daß es arzneilicher Nachhülfe bedarf. Droht inzwischen ein gar zu bedeutender Andrang von Blut nach Kopf oder. Brust Gefahr, so dürfen freilich die nöthigen Blutentziehungen u.s.w. nicht verabsäumt werden. Hinsichtlich der größern oder geringern Leichtigkeit, mit welcher man von einem Rausche überrascht werden kann, ist es durchaus nicht gleichgültig, ob man mit leerem oder vollem Magen trinkt, dabei ißt oder nicht, viel spricht, lärmt oder ruht, auch sind hierauf Körperconstitution und Temperament, Gewohnheit u.s.w. von Einfluß. Manche vertragen sehr wenig, Andere außerordentliche Massen. Zuweilen geschieht es auch, daß Personen schon von dem Einathmen des bloßen Weindunstes, wie z.B. beim Abziehen weingeistiger Flüssigkeiten, zumal in eingeschlossenen Räumen, Kellern, in einen der Trunkenheit ähnlichen Zustand gerathen. Über Trunksucht siehe Delirium.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 487.
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