Anschauung, intellectuale

[43] Anschauung, intellectuale (oder intellectuelle), bedeutet eine übersinnliche, geistige, aber doch anschaulich-unmittelbare Erfassung des Wesens eines Objects, ein schauendes Denken, denkende Selbstbesinnung auf das, was in uns eigentlich vorgeht, wenn wir allgemeine Urteile fällen, Grundbegriffe[43] (Kategorien) gebrauchen. Die intellectuale Anschauung, weit entfernt eine mystische Kraft zu sein, beruht auf einer logischen Betätigung der Phantasie, welche das Typische, die Idee einer Sache intuitiv, in einem Acte heraushebt und klar macht.

Schon PLATO und ARISTOTELES schreiben der Vernunft die Fähigkeit zu, die letzten Seinsgründe unmittelbar (durch theôria) zu erfassen. Auch BOËTHIUS kennt eine »Anschauung der Vernunft«, welche die Idee des Menschen an sich unmittelbar erkennt (Consol. phil. V). Nach AUGUSTUS gibt es einen »adspectus animi, quo per se ipsum non per corpus verum intuetur« (De trin. XII, 2, 2). THOMAS schreibt Gott eine unmittelbare Anschauung seines Wesensinhaltes zu. »Deus omnia simul videt per unum, quod est essentia sua« (Sum. th. I, 85, 4). Die Mystiker glauben an ein ekstatisches (s. d.) inneres Anschauen des Göttlichen im Geiste. NICOLAUS CUSANUS spricht von einer »visio intellectualis« (so schon JOH. SCOTUS, der sie auch »intuitus gnosticus« nennt) (De div. nat. II, 20). Vgl. Contemplation, Speeulation.

PLOTIN schon bezeichnet das »Sein« als Product eines »Schauens« (sc. des »Geistes«, (s. d.)) (Enn. III, 8; vgl. VI, 9, 3). In der Lehre von der intellectualen Anschauung seit KANT kommt dieser Gedanke zu neuer Verwendung. KANT versteht unter intellectualer Anschauung eine schöpferische, Objecte setzende (nicht bloß nachbildende) Intuition. »Divinus autem intuitus, qui obiectorum est principium, non principatum, cum sit independens, est archetypus et propterea perfecte intellectualis« (De mund. sens. sct. II, § 10; dies führt auf die Lehre von den Ideen, (s. d.)) als Urbilder der Dinge im göttlichen Geiste zurück). »Intellectuell« ist eine nicht auf Receptivität (s. d.), sondern »Selbsttätigkeit« beruhende Anschauung (Kr. d. r. V. S. 72), »durch die selbst das Dasein des Objects der Anschauung gegeben wird (und die... nur dem Urwesen zukommen kann)« (l.c. S. 75), die aber »nicht die unsrige ist« (l.c. S. 685), denn diese bedarf des Denkens, der Kategorien (s. d.) und kann daher nur auf Erscheinungen sich beziehen (Üb. e. Entdeck. 1. Abschn., S. 37; gegen EBERHARD, der im Philos. Mag. Bd. I, S. 280 f. nicht-sinnliche Anschauungen der Dinge an sich annimmt). J. G. FICHTE nimmt eine intellectuale Anschauung auch für das Ich an; sie ist »das unmittelbare Bewußtsein, daß ich handle und was ich handle; sie ist das, wodurch ich etwas weiß, weil ich es tue« (WW. I 463). Sie ist die Quelle philosophischer Erkenntnis. So auch bei SCHELLING. »Uns allen wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser innerstes, von allem, was von außen her hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige anzuschauen; diese Anschauung ist die innerste, eigenste Erfahrung, von welcher allein alles abhängt, was wir von einer übersinnlichen Welt wissen und glauben« (Phil. Br. üb. Dogm. u. Krit.). Diese intellectuale Anschauung ist das Vermögen, »gewisse Handlungen des Geistes zugleich zu producieren und anzuschauen, so daß das Producieren des Objects und das Anschauen selbst absolut eins ist« (Syst. d. tr. Id. S. 51). Diese Anschauung ist »der Punkt, wo das Wissen und das Absolute und das Absolute selbst eins sind« (Darst. m. Syst. § 2). CHR. KRAUSE nimmt eine »intellectuale Intuition« oder »Wesensschauung« an (Abr. d. Rechtsph. S. 19 f.; Vorles. üb. d. Syst. d. Ph. I, 273). HEGEL spricht von einem »übersinnlichen Anschauen,« und einem »anschauenden Verstand« (WW. III, 328 ff.). STAHL schreibt der intellectualen Anschauung Weissagungskraft zu (Rechtsph. II, 499), J. H. FICHTE ein Hellsehen (Anthr. S. 354). Eine[44] intellectuale Anschauung der Wirklichkeit gibt es auch nach GLOGAU. Gegen die intellectuale Anschauung als Quelle philosophischer Erkenntnis polemisiert SCHOPENHAUER, wiewohl er eigentlich selbst etwas Ähnliches voraussetzt. Vgl. Intuition.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 43-45.
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