Niedergang der Etrusker. Vordringen der Sabeller. Der italiotische Bund

[115] Das wenige, was wir von der Geschichte Italiens im fünften Jahrhundert wissen, ist früher bereits größtenteils zusammengestellt worden (Bd. IV 1, 625.). Die Offensivkraft der Etrusker war auf den Schlachtfeldern von Aricia (Bd. III2, S. 752f.) und Kyme (Bd. IV 1, 591) gebrochen und damit auch die Allianz mit Karthago, die im sechsten Jahrhundert dem weiteren Vordringen der Griechen ein Ziel gesetzt hatte, praktisch gegenstandslos geworden. Seitdem hören wir wohl noch von ihrem Luxus, ihrer Industrie und ihren Handelsbeziehungen, aber von ihrer Geschichte haben wir, abgesehen etwa von dem Raubzug der Syrakusaner gegen Elba und Korsika um 453 (Bd. IV 1, 612), auf viele Jahrzehnte hinaus keine Kunde mehr. Die Herrschaft über Latium und das Volskerland haben sie verloren, die Kolonien in Kapua und Nola sind isoliert. Im Poland mögen sie ihre Macht; noch weiter ausgedehnt haben, wie denn die Festsetzung in Marzabotto oberhalb Felsina (Bononia) und die Blüte ihres Handels in Adria und Spina erst ins fünfte Jahrhundert fällt. Aber im wesentlichen beschränkt sich der etruskische Adel darauf, zu behaupten und zu genießen, was er besitzt. An Fehden zwischen den einzelnen Gemeinden wird es niemals gefehlt haben; dadurch verlor der sakrale Stammbund der zwölf Städte Toskanas (Bd. III2, S. 482) alle politische Bedeutung. In den Kämpfen mit Rom erscheint Veji immer völlig isoliert, während sein westlicher Nachbar Caere mit Rom zusammengeht; fester scheinen im allgemeinen die Städte des Zentrums der Landschaft zusammengehalten zu haben.

[115] Hätten die Griechen des Westens eine geschlossene Macht gebildet, hätte das Reich Gelons und Hierons Bestand gehabt und sich ständig nach Norden erweitert oder wäre ein Mann wie Dionys alsbald an ihre Stelle getreten, um mit rücksichtsloser Energie die etwa zwanzig hellenischen Kleinstaaten zusammenzuschmieden, vielleicht hätten die Hellenen die Erbschaft der Etrusker antreten und systematisch vordringend die Vorherrschaft über die langgestreckte Halbinsel gewinnen können; und wäre es gar Alkibiades gelungen, den Traum eines hellenischen Einheitsstaats mit Athen als Zentrum unter seinem Königtum zu verwirklichen, so mochte an Stelle Italiens Griechenland die Weltherrschaft erringen. Aber wie die hellenische Politik sich gestaltet hatte, ist die Verwirklichung der höchsten Aufgabe der Nation an der Übermacht der zentrifugalen Tendenzen, an dem Wahngebilde der äußeren und inneren Autonomie, dem man unablässig nachjagte, im Westen wie im Osten gescheitert. Inzwischen benutzte ein einheimischer italischer Volksstamm die Gelegenheit, sich auszubreiten und nach der vakanten Führerstellung die Hände auszustrecken. Es waren die Sabeller199, die kriegerischen Bauernschaften des Zentralapennins, die jetzt verheerend über das alte Kulturland der Küstengebiete sich ergossen. Rohe Barbaren waren sie keineswegs; wie die Bearbeitung des Metalls und die Anfertigung tüchtiger Waffen hatten sie, durch etruskische Vermittlung, die Kunst des [116] Schreibens gelernt und wohl auch schon manche griechische Götter übernommen (vgl. Bd. III2, S. 490); aber die verfeinerte griechische Zivilisation, welche in Kampanien, Latium, Apulien, am Po Boden gefaßt hatte, deren entnervendem Luxus der etruskische Adel sich ganz in die Arme warf, war in diese Berggaue noch nicht eingedrungen. Die freie Bauernschaft lebte in den Dorfschaften nach alter Zucht und Sitte der Väterzeit, ebenso gewohnt, die Waffe zu handhaben wie Acker und Vieh zu bestellen; der nationale Gott Mavors, dessen Schutz ein jeder dieser Stämme sein Gedeihen dankte, war ein Gott des Krieges und der Schlacht. Die Familien waren, wie die Namen zeigen, durchweg zu Geschlechtern verbunden (Bd. III2, S. 474f.), und die reichsten Häuser mochten in den Gemeinden den entscheidenden Einfluß haben; aber von einer ausgebildeten Adelsherrschaft, wie sie sich in Rom und Etrurien und sonst überall in den Kulturländern entwickelt hatte, findet sich bei den sabellischen Völkern keine Spur. Die Landgemeinde (tuta), zu der die Dorfschaften des Stammgebietes zusammentraten, hat die Entscheidung; sie bestellt die Beamten für Rechtssprechung und Kriegsführung. In dem Aufgebot bilden die Reiter ein starkes Korps; das Fußvolk kämpft in lockeren Haufen, bewaffnet mit Wurfspeeren, Schwertern und großen lederüberzogenen Holzschilden. Die Nachbarstämme bilden mehrfach eine Föderation; ebenso häufig sind aber erbitterte Fehden von Stamm zu Stamm. Wenn die Volkszahl sich mehrt und der Gau zu eng wird, ist die überschüssige Mannschaft, der Nachwuchs der jungen Leute, jederzeit bereit, in die Fremde zu ziehen und unter Führung des Mars eine neue bessere Heimat zu erobern; die Sage führt den Ursprung aller sabellischen Völker auf das Gelöbnis des ver sacrum zurück (Bd. III2, S. 485). Nicht minder lockend erweist sich alsbald der Werberuf; binnen kurzem, sowie sie mit den Kulturvölkern in Berührung getreten sind, werden sie die begehrtesten Landsknechte. So tapfer sie sind, so grausam und unzuverlässig sind sie; beliebig wechseln sie den Soldherrn, aber stets erspähen sie eine Gelegenheit, den eigenen Vorteil zu verfolgen und womöglich durch Überfall irgendeines günstig gelegenen Ortes sich eine neue Heimat zu gewinnen. So sind sie das Gegenbild der Schweizer des 14. und [117] 15. Jahrhunderts; und auch ihre Geschichte ist in denselben Bahnen verlaufen, nur daß bei den Sabellern die Einheit des Handelns nach fester politischer Direktive vollkommen fehlt, welche den Schweizer Alpenkantonen die mit ihnen verbündeten Städte gaben. Bei den Sabellern handelt jeder Stamm auf eigene Hand; wenn es ihnen gelungen ist, ganz Unteritalien sabellisch (oskisch) zu machen, so haben sie den politischen Gewinn auf die Dauer nicht zu behaupten vermocht, sondern durch den dauernden Hader untereinander am meisten dazu beigetragen, daß ihnen in einem ursprünglich weit schwächeren, aber politisch viel höher organisierten Staat der Herr erwuchs.

Das Vordringen der Sabeller beginnt um die Mitte des fünften Jahrhunderts. Von dem Verlauf der Bewegung ist keinerlei zusammenhängende Kunde auf uns gekommen; nur die Ergebnisse liegen zutage und sind gelegentlich schon in anderem Zusammenhange erwähnt worden. Im J. 438 nach der älteren römischen Überlieferung – die jüngere nennt statt dessen das J. 415 – fiel die Etruskerstadt Kapua in die Hände der aus dem Apennin hervorbrechenden Sabeller (vgl. Bd. IV 1, 626. 732). Nola wird ihr Schicksal geteilt haben, und bald war die ganze Ebene am unteren Volturnus und um den Vesuv in ihrer Gewalt. So entstand das neue Volk der Kampaner200. Von den Etruskern, die vor ihnen weichen mußten, übernahmen sie mit den städtischen Wohnsitzen auch die Kultur und den Luxus von Kapua; mit der älteren Bevölkerung der ausonischen Opiker (Bd. III2, S. 458f.)201, die ohne Zweifel noch immer den Grundstock der Bewohner bildete, verschmolzen sie zu einer Einheit, so daß deren Name (lateinisch [118] Osker) zum Gesamtnamen für sie und die gleichsprachigen Stämme des Hinterlandes wurde. Im J. 421 (nach der jüngeren Überlieferung 412) fiel nach hartem Kampf auch Kyme in ihre Hände; die Stadt wurde erstürmt und ausgemordet, an die Stelle der ehrwürdigen Metropole griechischer Kultur in Italien trat jetzt die Kampanerstadt Kumä202. Auch die übrigen griechischen Ansiedlungen, vor allem Dikäarchia (Puteoli), scheinen sie erobert zu haben; nur Neapel behauptete noch lange seine Unabhängigkeit203. – Wir haben gesehen, wie die Kampaner alsbald begannen, als Reisläufer über See zu gehen. Schon die Athener warben im J. 414 kampanische Söldner (Bd, IV 2, S. 229); die karthagische Invasion und die Kämpfe des Dionys gaben ihnen dann Gelegenheit, dauernd auf der Insel festen Fuß zu fassen (o. S. 81. 86. 89. 104).

Gleichzeitig mit den Kampanern beginnen in Unteritalien, in dem Lande südlich von Silarus und Bradanus, die Lukaner sich auszubreiten. Sie erscheinen in unserer Überlieferung zuerst in der Nachbarschaft von Thurii bald nach Gründung der Stadt, wo Kleandridas ihnen mehrere Niederlagen beibringt (Bd. IV 1, 678). In den nächsten Jahrzehnten haben sie sich weithin in der langgestreckten Halbinsel ausgedehnt. Die alte freie Stammverfassung blieb erhalten; nur für die Kriegsführung wählte man aus den Beamten ein Oberhaupt mit monarchischer Gewalt. Die ältere önotrische und chonische Bevölkerung wird von den Lukanern aufgesogen und verschwindet seitdem aus der Ethnographie. An der Westküste fielen etwa um 400 v. Chr. Posidonia (fortan Pästum), Pyxus und Laos in ihre Hände; nur Elea behauptete sich noch in fortwährenden Kämpfen. In Pästum lebte ein Jahrhundert später die Erinnerung an den griechischen Ursprung, außer in den Tempeln, die noch heute von der alten Herrlichkeit zeugen, [119] nur noch in einem einzigen Feste fort: »da kamen«, so erzählt Aristoxenos, »die Bewohner zusammen und gedachten unter Jammer und Tränen der alten Bräuche und Worte«, während die griechische Sprache längst geschwunden war204. Volkreicher und wehrkräftiger waren die Städte an der Ostküste und zugleich im Besitze eines größeren Gebiets; aber der Gefahr, die ihrer Existenz drohte, konnten auch sie die Augen nicht mehr verschließen. Der erbitterte Parteikampf, in dem die Pythagoreer zugrunde gegangen waren, hatte sich endlich beruhigt, namentlich durch die Vermittlung der Achäer des Mutterlandes (Bd. IV 1, 628); jetzt verbanden sich nach ihrem Vorbild Sybaris am Traeis (Bd. IV 1, 677), Kroton und Kaulonia zu einer Föderation mit einem Bundesrat am Heiligtum des Bundesgottes Zeus Homarios. Bald traten auch Thurii, Elea und vielleicht Metapont dem Bunde bei. Bei einem Angriff der Lukaner waren alle Bundesglieder zu sofortiger Hilfeleistung verpflichtet; blieb eine Stadt fern, so sollten ihre Feldherrn mit dem Tode büßen. Nur die Städte des äußersten Südens fürchteten noch keine Gefahr; vielmehr hoffte Lokri, der alte Gegner Krotons, jetzt erst recht, in engem Bunde mit Dionys seine Macht behaupten und erweitern zu können. Eben durch diesen Gegensatz wurde dann Rhegion zum Anschluß an die Italioten gedrängt. Auch im Norden hielt sich Tarent zunächst abseits. Es war durch seine Seemacht und die Gunst seiner Lage unbesiegbar und hatte von dem Vordringen der Sabeller zunächst nur Vorteil, da jetzt sowohl die Lukaner wie namentlich die samnitischen Stämme des Hinterlandes auf seine alten Feinde, die Japyger, drückten; zu den engen Beziehungen der Folgezeit zwischen Tarent [120] und den Samniten wird bereits zu Anfang des vierten Jahrhunderts der Grund gelegt worden sein205.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 5, S. 115-121.
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