Pflicht

[430] Pflicht (officium), eigtl. Sorge, Pflege, Dienst (vom ahd. phlegan), heißt allgemein soviel als Obliegenheit. Eine Pflicht setzt ein Subjekt, welches eine Aufgabe vorschreibt, und ein[430] anderes, welchem die Aufgabe erteilt wird und das sowohl des Gehorsams wie des Ungehorsams fähig ist, voraus. In engerer Bedeutung ist Pflicht soviel als sittliches Gebot. Die Notwendigkeit, welche die Pflicht dem Menschen auferlegt, ist hiernach keine nur äußerliche oder physische, sondern eine innerliche, moralische ; der Mensch muß nicht die Pflicht erfüllen, sondern er soll sie erfüllen. Dasjenige, was ihn verpflichtet, ist im allgemeinen die Vernunft, das Gewissen, der Charakter und im einzelnen das psychologische Motiv seines Willens, die alle natürlich in Wechselwirkung mit den äußeren Umständen des Lebens stehn. So erwächst die Pflicht aus Vernunft und Erfahrung, Anlage und Erziehung, Notwendigkeit und eigenem Willen, Zwang und praktischer Freiheit.

Wir lernen gewisse Dinge als sittlich gut, andere als schlecht ansehen, und wir begreifen, daß die Nichtbefolgung der Pflicht, sittlich zu handeln zum physischen und seelischen Verderben führe. Das Sittliche wurzelt mithin in der menschlichen Natur. Während aber die Ethik des Naturalismus keine Pflichtenlehre kennt und die pantheistische Ethik der Philosophie des Absoluten Natur- und Sittengesetz für im Grunde identisch annimmt, baut sich die Ethik des Idealismus ganz und gar auf dem Pflichtbegrift auf. Die Pflicht wird von ihr vornehmlich als der Gegensatz zu den natürlichen Trieben und Neigungen gefaßt und teils formalistisch, aber unzulänglich, von der Art, wie die Bestimmung des Willens erfolgt, abgeleitet, teils, richtiger, inhaltlich bestimmt, indem Ziel und Zweck der Handlung mit ins Auge gefaßt wird. Die Pflichtenlehre ist zuerst von den Stoikern geschaffen, dann namentlich durch das Christentum ausgebildet und als der Kern der Ethik von Kant stark betont, der folgenden Hymnus auf die Pflicht anstimmt (Kr. d.pr. Vernunft, S. 154): »Pflicht! du erhabener großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nichts drohest, was natürliche Abneigung im Gemüte erregte und schreckte, um den Willen zu bewegen, sondern bloß ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemüte Eingang findet, und doch sich selbst wider Willen Verehrung (wenngleich nicht immer Befolgung) erwirbt, vor dem alle Neigungen verstummen, wenn sie gleich ins geheim ihm entgegenwirken, welches ist der deiner würdige Ursprung und wo findet man die Wurzel deiner edelen Abkunft, welche alle Verwandtschaft mit Neigungen[431] stolz ausschlägt, und von welcher Wurzel abzustammen, die unnachlaßliche Bedingung desjenigen Werts ist, den sich Menschen allein selbst geben können?« Nüchterner definiert Kant den Begriff der Pflicht (Metaphysik der Sitten 1, S. XXI): »Pflicht ist diejenige Handlung, zu welcher jemand verbunden ist (Verbindlichkeit ist die Notwendigkeit einer freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft).« Eine nicht rein formalistische Ethik des Idealismus kann allerdings den schroffen Widerspruch zwischen Pflicht und Neigung nicht mit Kant aufrechterhalten und muß in dem durch Erziehung hergestellten Einklang von Trieb und Vernunftgebot, wie schon Schiller hervorhob, den höheren sittlichen Standpunkt anerkennen.

Man unterscheidet die Pflichten nach ihrer Tragweite in absolute und relative, assertorische und hypothetische, allgemeine und besondere, notwendige und bedingte. Formal lassen sie sich in positive und negative, präzeptive und prohibitive sondern. Inhaltlich unterscheidet man Pflichten der Gerechtigkeit (Tugendpflichten) und der Güte oder Liebe. Das Christentum macht den Unterschied von Pflichten gegen uns selbst, gegen andere und gegen Gott, Selbst-, Ander- und Gottespflichten.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 430-432.
Lizenz:
Faksimiles:
430 | 431 | 432
Kategorien: