Zentralisation

[895] Zentralisation (lat.), das System, die Einrichtung, wonach alle Funktionen eines größern Organismus möglichst von einem Mittelpunkt aus geleitet werden; im Gegensatze zur Dezentralisation, der möglichsten Selbständigkeit der einzelnen Glieder eines größern Ganzen. Z. bedeutet namentlich ein Regierungssystem, bei dem die gesamte Staatstätigkeit von einem Oberhaupt ausgeht, das von einer Stelle aus das Ganze wie das Einzelne leitet, während die Dezentralisation den einzelnen Teilen des Staatsganzen möglichste Selbständigkeit einräumt. S. auch Zentralismus. Die Z. ist insbes. das System der absoluten Monarchie; sie gipfelt in dem bekannten Ausspruch, den man Ludwig XIV. von Frankreich in den Mund legt: »Der Staat bin ich«. Aber auch in der Folge ist das Zentralisationssystem dem französischen Staat eigentümlich geblieben. Die konstitutionelle Monarchie ist dem Dezentralisationssystem günstiger; doch besteht bei einer zu weit gehenden Dezentralisation die Gefahr, daß die Staatseinheit zerbröckelt und die Macht des Staates geschwächt wird. Die Frage, welchem von beiden Systemen der Vorzug zu geben sei, läßt sich schon mit Rücksicht auf die Verschiedenartigkeit der Funktionen der Staatsgewalt nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten. Ein gesundes Staatsleben wird vielmehr gerade durch die Wechselwirkung zwischen beiden Grundsätzen und durch eine Verbindung beider Systeme bedingt sein. So wird gewiß auf dem Gebiete der Gesetzgebung das Verlangen nach Z. (»Gleichheit der Gesetze und vor dem Gesetz«) nicht mit Unrecht ausgesprochen. Gleichwohl darf dieselbe auch hier nicht auf die Spitze getrieben werden. Denn es gibt Stammeseigentümlichkeiten, geographische Eigenartigkeiten, örtliche Verhältnisse und Bedürfnisse einzelner Bevölkerungsklassen, die besondere Berücksichtigung erheischen. Darum ist neben der Einheitlichkeit der Gesetzgebung im großen doch die Autonomie (s. d.) im einzelnen nicht zu entbehren. Dagegen ist in der auswärtigen Politik möglichste Z. erforderlich. Die Leitung des Verkehrs mit fremden Staaten muß einheitlich sein. Dasselbe gilt von der Militärverwaltung. Vorzugsweise ist es die innere Verwaltung (s. d.), die der Dezentralisation ein geeignetes Feld darbietet. Es ist jedoch nicht richtig, die Selbstverwaltung (s. d.) als gleichbedeutend mit Dezentralisation der Verwaltung anzusehen, denn auch in der Staatsverwaltung kann dezentralisiert werden. Richtig ist es aber, daß in der Selbstverwaltung die Dezentralisation, in der Staatsverwaltung die Z. vorwiegt. Vgl. Kreisverfassung u. Provinzialverfassung.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 895.
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