Trunkenheit

[877] Trunkenheit, die durch allzu reichlichen Genuß geistiger Getränke hervorgebrachte, durch eine Veränderung der Gehirnthätigkeit bedingte, die Harmonie des Lebens überscheitende geistige u. körperliche Aufregung. Der T. geht bei mäßigem Genusse geistiger Getränke eine wohlthätige Steigerung des Lebensprozesses voraus, welche sich bes. als eine höhere gemüthliche Anregung im Gemeingefühl durch Heiterkeit u. Wohlbehagen ausspricht. Bei fortgesetztem Trinken tritt der als Rausch (Crapula) bezeichnete leichtere Grad der T. ein, welcher den Menschen meist offenherzig u. munter, seltner mürrisch u. zanksüchtig macht, auf welchen dann bei fortgesetztem Trinken T. folgt, wobei die höhern Geistesfunctionen ihren Einfluß auf die Denk- u. Handelsweise allmälig verlieren. Der Mensch vermag dann nicht mehr einen klaren Gedanken zu fassen, der Kopf wird schwer, düster, schwindelnd, die Zunge stammelnd, die Füße unstet, die Sinnesorgane stumpf od. unzuverlässig u. endlich tritt, mit gänzlicher Bewußtlosigkeit, ein tiefer, schnarchender, betäubter Schlaf ein, welcher, als eine Krise, die künstliche Krankheit wieder ausgleicht, wobei die Natur zuvor auch oft durch Erbrechen u. andere Ausleerung die ihr aufgedrungenen Schädlichkeiten zu entfernen sucht. Da während des Zustandes der T. der Mensch in rechtlicher Hinsicht einer freien Selbstbestimmung für unfähig, je nach dem Grade derselben, erachtet wird, so fällt auch die Zurechnungsfähigkeit für die zu dieser Zeit begangenen, gesetzwidrigen Handlungen, also auch die Strafe, zum Theil od. ganz weg, hingegen kann er von dem etwa zu leistenden Schadenersatz, auch von einer mehr od. minder strengen Ahndung seiner Völlerei, durch welche er in jenen Zustand gerathen, nicht entbunden werden. Auch wenn sich Einer absichtlich betrank, um in diesem Zustande ungestraft Etwas begehen zu können, ist er für das Vergehen verantwortlich. Beim Militär wird T. schon an u. für sich hart bestraft; bei Dienstvergehen (Schlafen auf dem Posten u. dgl.) verschärft sich aber die Strafe, wenn das Vergehen in T. geschah. Vgl. Zurechnung u. Strafmilderung. Ursachen der T. sind zunächst der in den geistigen Getränken enthaltene Alkohol; mancherlei das Nervensystem afficirende Stoffe, so z.B. das in manchen mussirenden Getränken enthaltene kohlensaure Gas, manche narkotische Stoffe, welche, wie z.B. Kockelskörner, Koriander, Lolch, Trespe, Porst, Scharlachkraut, Wiesensalbei, bisweilen den Getränken beigemischt werden, um denselben eine künstliche Stärke zu geben; od. auch selbst manche Narkotika, ohne Beimischung von Alkohol, so Hanf, Fliegenschwamm, Opium wirken dazu mit od. allein. Die T. ist als ein den Menschen bürgerlich, moralisch, psychisch u. körperlich destruirender Mißbrauch der moralischen Freiheit zu betrachten. Schon jeder einzelne Fall von Überschreitung des Maßes rächt sich durch ein mehr od. minder bedeutendes Unwohlsein, welches sich aber bei ruhigem Verhalten u. Mäßigkeit bald wieder ausgleicht. Sucht man aber das von Überreizung entstandene Übelbefinden durch Erneuerung des Reizes zu vertreiben, so wird letzter allmälig zur Gewohnheit u. zum Lebensbedürfniß (Trunksucht), so daß ohne Anwendung desselben das Individuum, zitternd u. stumpfsinnig, zu allen Geschäften untauglich ist, zugleich aber auch immer stärkerer Gaben zur Restauration bedürftig wird Dabei leidet in der Regel der ganze Organismus, die Verdauung u. Ernährung wird zerstört, die Geisteskräfte, das Gefühl für Edles u. Schönes, die Fähigkeit das Leben nach vernünftigen Motiven zu regeln schwinden u. Skirrhositäten, Wassersucht, Säuferwahnsinn beschließen die Scene. Zur Beseitigung des Rausches ist Kunsthülfe entbehrlich; höhere Grade von T. werden durch Eintauchen in kaltes Wasser, heftige Schmerzen, Schreck gebändigt; man sucht dieselben durch Umschläge von Wasser u. Essig über den Kopf zu mindern u. die gewöhnlichen Folgen durch schwarzen Kaffee zu beseitigen; die gefährlichen Zufälle erfordern ihrer Beschaffenheit nach angemessene Berücksichtigung, auch werden homöopathisch gehörig verdünnte Goldauflösungen angerathen. Die Trunksucht muß durch psychische Mittel, Ermahnungen, Erregung von angemessenen Gemüthsbewegungen, am besten so bekämpft werden, daß der Mensch die Menge der Getränke vermindert. Die Erregung des Ekels an dem gewohnten Getränke, dadurch daß man ekelerregende Stoffe in dasselbe thut, entspricht zwar oft ihrem nächsten Zwecke, gibt aber Veranlassung zu andern nervösen Krankheiten; Manche empfehlen gegen die Trunksucht verdünnte Schwefelsäure in steigenden Gaben in den Getränken zu reichen, Andere eine Zeit lang immer dem Trunksüchtigen unter alle Speisen u. Getränke Branntwein zu mischen, um dadurch Ekel u. Heilung zu bewirken.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 17. Altenburg 1863, S. 877.
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