Zurechnung

[743] Zurechnung (Imputatio), 1) die Beziehung einer Handlung auf eine gewisse Person als deren Urheber, mithin die Verbindung zwischen Person u. That in der Richtung von Ursache u. Wirkung: bes. 2) im criminalrechtlichen Sinne die Gewißheit, daß Jemand der Urheber einer dem Strafgesetz widersprechenden Handlung sei. Mit Rücksicht darauf, daß zum Thatbestand (s.d.) eines Verbrechens zweierlei Merkmale, objective, welche nur die äußere That betreffen, u. subjective, d.h. eine widerrechtliche Willensbestimmung, gehören, unterscheidet man auch bei der Z. eine zweifache Bedeutung derselben, die blos äußere Z. (Imp. facti), wobei die That nur nach ihrer Äußerlichkeit betrachtet u. daher Z. schon da angenommen wird, wo die Handlung eines Menschen sich als Ursache des äußeren Erfolgs darstellt, u. die Z. im engeren Sinne (Imp. juris, Zurechenbarkeit), bei welcher festgestellt sein muß, daß der Handelnde, indem er den verbrecherischen Erfolg herbeiführte, auch subjectiv sich des damit verletzten Rechtsgesetzes bewußt gewesen sei, er also dieselbe mit widerrechtlicher Willensrichtung vorgenommen habe. Die Fähigkeit die Gesetzwidrigkeit durch Anwendung der Vernunft zu erkennen u. deshalb auch zu vermeiden (Zurechnungsfähigkeit, Imputabilität, Imputativitas) ist aber überall vorhanden, wenn der Handelnde der Möglichkeit der Selbstbestimmung nicht beraubt war. Jeder, welchem die selbständige Bestimmungsfähigkeit entweder schlechthin od. zur Zeit od. unter den Umständen, wie er die That vornahm, fehlte, ist unzurechnungsfähig, d.h. die That kann ihm nicht zur Schuld u. folgeweise auch nicht zur [743] Strafe zugerechnet werden. Das Criminatrecht geht hierbei davon aus, daß dem Menschen ein freier Wille angeboren ist. Um eine Unzurechnungsfähigkeit anzunehmen, muß folgeweise ein Zustand nachgewiesen werden, aus welchem ausnahmsweise ein Mangel dieser geistigen Freiheit mit Nothwendigkeit folgt. Derartige Zustände u. Gründe der Unfähigkeit zur Z. liegen a) in allen denjenigen Zuständen, in welchen für den Handelnden das Bewußtsein der Strafbarkeit der Handlung ausgeschlossen war. Unter diese Zustände gehört: aa) das jugendliche Alter, wenn die Geisteskräfte des Betreffenden noch so unentwickelt sind, daß ihm das erforderliche Unterscheidungsvermögen abgeht. Gemeinrechtlich wird dies bis zum siebenten Jahr angenommen; bei Unmündigen vom 7._– 14. Jahr kann eine Zurechnungsfähigkeit eintreten, namentlich wenn die That selbst durch ihre Bosheit den verbrecherischen Willen deutlich zu erkennen gibt. Auf der gleichen Stufe steht bisweilen die entgegengesetzte Periode des Greisenalters, wenn die Verstandeskräfte des Greises wieder so weit herabgesunken sind, daß er kindisch geworden ist. bb) Die Taubstummheit, wenn nicht der Taubstumme durch Unterricht geistig so entwickelt ist, daß er eine hinreichende Erkenntniß von Recht u. Unrecht besitzt. Personen, denen nur ein Sinn fehlt, wie Blinde, Taube, Stumme, sind dagegen im Allgemeinen zurechnungsfähig, wenn nicht im einzelnen Falle die mangelnde Einsicht in die Folgen ihres Handelns ausschließlich durch ihren Sinnenmangel bedingt ist. cc) Vorübergehende Sinnenverwirrung, wie der Zustand unverschuldeten Affects, welcher das Bewußtsein vollständig lähmt, z.B. heftiger Schrecken, der Schlaf, namentlich in seiner Äußerung als sogen. Schlaftrunkenheit od. als Nachtwandeln, die Berauschung, wenn sie so vollständig eingetreten ist, daß dadurch das Bewußtsein ganz geschwunden ist, Seelenstörungen jeder Art, mögen sie nun in geistiger Verkümmerung, wie bei Blödsinn u. großer Dummheit, od. in krankhaften psychischen Zuständen, wie Manie, unwiderstehlichen Gelüsten (z.B. Pyromanie, krankhaftem Heimweh), Hallucinationen (s.d.) od. Fieberwahn bestehen. Endlich gehört auch entschuldbarer Irrthum hierher, wenn er sich auf Thatsachen u. thatsächliche Verhältnisse bezieht, welche eine Handlung zur strafbaren machen od. deren Strafbarkeit erhöhen. Eine Unwissenheit über die Gesetze wird jedoch der Regel nach nicht berücksichtigt, weil das Recht davon ausgeht, daß Jedermann die Gesetze kennen müsse, u. nur etwa die Unkenntniß localer Polizeigesetze kann für einen Fremden die Z. aufheben b) In allen solchen Zuständen, welche die Willkür des Handelnden, bei an sich vorhandenem Bewußtsein, aufheben. Nur insofern eine That das Werk eines freien Entschlusses ist, kann er für dieselbe verantwortlich gemacht werden. Wo ihm also die Willkür genommen ist, erscheint er nur als das Werkzeug einer andern Macht, u. es ist nicht er, sondern letztere für die That verantwortlich zu machen. Aufhebungsgründe dieser Gattung sind: aa) der physische Zwang, wenn der Handelnde durch Überwältigung seiner körperlichen Kraft od. durch gefährliche Drohungen wider seinen Willen zur Vornahme einer Handlung genöthigt wurde. Selbst der Befehl kann die Wirkung haben, wenn derselbe unter Umständen erging, unter welchen derjenige, an den er erging, bei einer Weigerung körperliche Überwindung zu gewärtigen hatte; bb) der Nothstand u. cc) die Nothwehr (s. b.). Vielfach ist die Frage behandelt worden, ob man auch Grade der Zurechnungsfähigkeit anzunehmen habe. Die Wissenschaft hat diese Frage insofern mit Recht verneint, als die geistige Freiheit nur entweder vorhanden od. nicht vorhanden sein kann, u. im erstern Fall, wenn die geistige Freiheit anzunehmen ist, dann auch die Zurechnungsfähigkeit nicht geläugnet werden kann. Dagegen gibt es wohl Zustände, welche, ohne die Willkür des Handelnden ganz aufzuheben, doch dieselbe mehr od. weniger so beengen u. einschränken, die Kraft zu freiem Entschlusse so herabsinken lassen, daß der in solchen Zuständen Befangene einem völlig mit Bewußtsein Handelnden nicht gleichgestellt werden kann, Zu solchen Fällen sind z.B. krankhafte Affecte, das Übergangsstudium aus der Kindheit zum erwachsenen Alter etc. zu rechnen. Die meisten neueren Gesetzgebungen betrachten eine solche geminderte Z. als einen Milderungsgrund der Strafe, welcher dem Richter erlaubt unter das gesetzliche Minimum der Strafe herabzugehen. Liegt der Grund für Aufhebung der Zurechnungsfähigkeit nur in äußeren, vom körperlichen u. geistigen Zustand des Angeschuldigten unabhängigen Ursachen, z.B. Zwang, Irrthum, so hat darüber, ob die Aufhebung anzunehmen sei, als ein mit gewöhnlichen Sinnen u. gewöhnlicher Urtheilskraft zu erkennendes Factum der Richter allein zu entscheiden; handelt es sich dagegen um einen abnormen körperlichen od. geistigen Zustand des Thäters, so kann diese Frage nur durch den Arzt entschieden werden u. die Function des Richters besteht nur darin, daß er den Arzt über die dabei festzuhaltenden Gesichtspunkte aufzuklären hat u. alsdann nach dem Urtheil des Arztes den Ausspruch zu thun, ob das Strafgesetz bei dem vom Arzt als vorhanden erklärten Zustande anzuwenden ist od. nicht. Vgl. v. Almendingen, Darstellung der rechtlichen Imputation, Gießen 1803; v. Globig, Entwurf eines Maßstabes der gesetzlichen Z., Dresden 1808; Hepp, Die Theorie von der Z. u. den Milderungsgründen, Heidelb. 1836; Laube, Die gesetzlichen Bestimmungen über Z., Tübingen 1836; Berner, Grundlinien der criminalistischen Imputationslehre, Berlin 1843. 3) In der Dogmatik kommt die Z. in doppelter Beziehung vor: a) Z. fremder Schuld, d.h. daß, weil Adam gesündigt habe u. dafür mit der Sterblichkeit gestraft worden sei, auch alle Menschen, weil sie alle von Adam abstammten, sündigen u. mit dem Tode gestraft werden müßten. Das Dogma von der Z. verdankt sein Entstehen der Kirchenlehre von der Erbsünde, bes. dem Augustinus. Es fand aber viel Gegner, bes. an den Pelagianern u. Semipelagianern. Die Dogmatiker der älteren Kirche unterschieden eine unmittelbare Z. (Imputatio immediata), wonach Gott alle Menschen wegen Adams Sünde auch als Sünder behandelt, u. eine mittelbare Z. (Imp. mediata), wonach Gott den Abkömmlingen Adams (d.i. allen Menschen) dieselbe Strafe, wie dem Adam, deshalb aufgelegt habe, weil er gewußt, daß sie die sündhafte Natur Adams theilend, auch sündigen würden. Ein anderer Unterschied ist zwischen sittlicher Z. (Imp. facti od. Imp. moralis), so daß Einer als freier Urheber einer Handlung angesehen wird u. die Folgen derselben tragen muß (in welchem Sinne von Z.[744] des Adamitischen Falles nicht die Rede sein kann), u. rechtlicher Z. (Imp. juris), wonach Gott den Menschen, als Nachkommen Adams, wegen des Zusammenhanges, in welchem sie mit dem sündigen Stammvater ständen, dessen Vergehen angerechnet habe. Die Symbolischen Bücher der Lutherischen Kirche sprechen sich darüber nicht bestimmt aus. b) Die Z. des Verdienstes Christi besteht nach der Lehre der Protestantischen Kirche darin, daß Gott durch einen reinen göttlichen Gnadenact den Menschen den Glauben an Christi Gehorsam, Verdienst u. Gerechtigkeit überhaupt statt der eigenen menschlichen Gerechtigkeit anrechnet, woraus die Vergebung der Sünde u. die Seligkeit für den Menschen erwächst. Hiermit stimmt auch die Reformirte Kirche überein. Nach dem katholischen Lehrbegriff wird zwar dem Menschen das Verdienst Christi auch angerechnet, aber doch nur so, daß durch das Verdienst Christi der Mensch innerlich zu Gott geführt u. dadurch aus der Sünde zur Kindschaft mit Gott gebracht wird. Unter den kleineren christlichen Parteien verwarfen die Socinianer die Z. des Verdienstes Christi u. lehrten statt derselben eine aus freier göttlicher Gnade erfolgende Sündenvergebung, bei welcher jedoch der Mensch einen durch Gehorsam thätigen Glauben haben soll.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 19. Altenburg 1865, S. 743-745.
Lizenz:
Faksimiles:
743 | 744 | 745
Kategorien:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Nachtstücke

Nachtstücke

E.T.A. Hoffmanns zweiter Erzählzyklus versucht 1817 durch den Hinweis auf den »Verfasser der Fantasiestücke in Callots Manier« an den großen Erfolg des ersten anzuknüpfen. Die Nachtstücke thematisieren vor allem die dunkle Seite der Seele, das Unheimliche und das Grauenvolle. Diese acht Erzählungen sind enthalten: Der Sandmann, Ignaz Denner, Die Jesuiterkirche in G., Das Sanctus, Das öde Haus, Das Majorat, Das Gelübde, Das steinerne Herz

244 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon