Estienne, Familie

[227] Estienne [Stephanus]. Die Druckerfamilie der Estienne latinisiert Stephani gehört zu den bedeutendsten Druckergeschlechtern.[227] Der erste bekannte Drucker dieses Namens ist Henricus Stephanus I (geb. 1460, gest. um 1520), der um 1495 in Paris gegenüber der école de droit seine Druckerei errichtet hatte.

Die den Geschäften so ungünstige derzeitige politische Lage des Vaterlandes führte für Henricus mannigfache Kämpfe herbei; mit Mühe und Not vermochte er in den ersten Jahren seines Etablissements sich an der Oberfläche zu erhalten, so daß nur wenig Werke und meist nur von geringem Umfange und Gemeinwerte bis zum Jahre 1509 aus seiner Offizin hervorgingen. Erst mit diesem Jahre beginnt er eine umfassendere Thätigkeit, die jährlich mindestens ein bis zwei größere Druckwerke zu Tage förderte. 1509 edierte er eine Historia Asiae et Europae, a Pio Papa conscriqta in Quart, wie auch ein Psalterium quintuplex: gall., rom., hebr. vetus, conciliatum a Jac. Fabro, in Folio. Beide Werke waren in Bezug auf Druck, Ausstattung und Korrektheit des künftigen Ruhmes der Stephaniden würdig. Von den anderen zahlreichen aus seiner Offizin hervorgegangenen Drucken heben wir nur den 1512 in Quart erschienenen Ricoldus, contra sectam Mahumeticam et Anonymi libellus de moribus Turcorum item Iudaeorum als interessanten Beitrag zur Beurteilung des Orients jener Zeit, und das wahrscheinlich als Schlußstein seiner Thätigkeit 1519 edierte Opusculum de vita et moribus sacerdotum hervor.

Von des Henricus drei Söhnen ist der 1503 geborene, am 6. 9. 1559 gestorbene Robertus Stephanus, der Typographus regius des Königs Franz I. derjenige, der den eigentlichen Ruhm der Familie begründet hat. Er errichtete in dem Hause seines Vaters eine eigene Druckerei und gab namentlich gute, korrekte, schön gedruckte Ausgaben klassischer Schriftsteller heraus, daneben billige Schulbücher und Reformationsschriften. Von höchster Wichtigkeit sind seine hebräischen Bibelausgaben nebst dem groß angelegten Thesaurus linguae Latinae (1532). Von der großen Anzahl Klassikerausgaben, die aus Roberts Offizin hervorgegangen sind, führen wir nur an: den Aesop (4. Paris 1646), Plinius Secundus, Terenz, Virgil, Justin, Horaz, Juvenal, Lucan, Jul. Caesar, Herodian, Sueton, Dio Cassius, Valer. Maximus, Eutrop, Quintilian u.a.m.

Wie gelehrt es selbst in seinem Hause zuging, davon giebt ein ergötzlicher Brief, den Fromann mitteilt, Kunde, und der Henricus Stephanus zum Verfasser hat:

... »Es gibt heute noch Leute, welche von der Familie Deines Großvaters Robert Stephanus erzählen können, wie es da hergegangen[228] ist; man hatte dergleichen in der gelehrten Welt noch nicht gesehen. Selbst die Dienstmädchen verstanden lateinisch und konnten es zum Teil sprechen, wenn es auch nicht immer ganz rein klang. Deiner Großmutter war es beinah einerlei, ob lateinisch oder französisch gesprochen wurde, sie verstand es ebenso gut, wenn nicht gerade ein ungebräuchliches Wort vorkam. Und Deine Tante Katharina, meine Schwester? Die braucht auch jetzt noch keinen Dolmetscher, wenn lateinisch gesprochen wird, und drückt sich selbst so geläufig darin aus, daß sie von Allen verstanden wird. Woher hatte sie aber diese Kenntnis der lateinischen Sprache? Grammatik hatte sie nicht gelernt, nur die Praxis ist ihre Lehrmeisterin gewesen, denn sie lernte das Lateinische nicht anders, als wie man in Frankreich Französische, in Italien Italienisch und wo anders eine andere Sprache lernt. Und weil ich einmal darauf gekommen bin, so laß mich noch bei diesen Familienerinnerungen verweilen und Dir erzählen, wie es kam, daß man in der Familie Deines Großvaters und meines Vaters das Lateinische so leicht lernen konnte. Es gab eine Zeit, da hatte Dein Großvater Robert Stephanus eine Art litterarisches Zehnmänner-Kollegium in seinem Hause versammelt, und wie diese Männer aus allen Nationen zusammengeblasen waren, so sprachen sie auch allerhand Sprachen. Es waren zum Teil gelehrte, zum Teil auch sehr gelehrte Leute, und einige von ihnen hatten das Amt, Korrekturen zu lesen. Weil sie nun verschiedene Muttersprachen hatten, so bedienten sie sich des Lateinischen als Umgangssprache. Die Dienstboten hörten bald den Einen, bald den Andern von Sachen reden, die sie entweder kannten, oder leicht errathen konnten, sie merkten, wenn bei Tische unter anderem auch vom Essen und dergleichen gesprochen wurde; so gewöhnte sich das Ohr an die fremden Worte und nach und nach lernten sie nicht nur das Gehörte verstehen, sondern auch selbst Einiges sagen. Auch das machte die ganze Familie mit dem Lateinischen vertraut, daß wir beide, ich und mein Bruder, beim Vater kein anderes Wort von den zehn Gelehrten hörten, als Lateinisch, worauf wir denn selber anfingen, darin zu radebrechen.«

Robertus war mit der Tochter des gelehrten Pariser Buchdruckers Jodocus Badius verheiratet. Sein Sohn war der 1528 geborene Henricus Stephanus II, der, mit hervorragenden Geistesgaben ausgestattet, ein besonderes Sprachtalent besaß. Das Griechische und Lateinische sprach er ebenso fließend wie seine französische Muttersprache; kaum 20 Jahre alt, gab er einen kommentierten Horaz heraus.[229]

Um sich für seinen Druckerberuf vorzubilden, begann er als 19jähriger Jüngling seine ersten Reisen; 1547 wandte er sich nach Italien, wo er etwa 2 Jahre blieb und dauernde gelehrte Verbindungen anknüpfte. 1549 kehrte er nach Paris zurück, beteiligte sich an den von seinem Vater besorgten Ausgaben des Horaz und des Neuen Testaments und begab sich dann nach England, hier sich hauptsächlich der Durchforschung von Bibliotheken widmend. Auf der Rückreise berührte er die spanischen Niederlande, wo er sich namentlich in Löwen, wo er bei einem Engländer eines der beiden Manuskripte des Anakreon entdeckte, längere Zeit aufhielt.

Inzwischen war der Vater, der der Reformation bleibend zugethan blieb, nach dem Tode des Königs Franz seines Glaubens wegen, namentlich durch die Pariser Sorbonne (vergl. hierüber Frommann, s. u.), immer schwereren Angriffen ausgesetzt, was ihn bewog, Paris im Jahre 1551 den Rücken zu kehren und seine Offizin in Genf fortzusetzen.

Henricus Stephanus nahm seinen Wohnsitz ebenfalls in Genf und begann seit 1554 unter seinem eigenen Namen zu verlegen.

1556 unternahm Henricus eine zweite italienische Reise, besuchte anscheinend auch Deutschland, wo er seine langjährigen Verbindungen mit Huldrich Fugger anknüpfte; ihm zu Ehren nannte er sich auf vielen seiner bedeutendsten von 1558-68 erschienenen Verlagswerke »illustris viri Huldrichi Fuggeri typographus«, denn Fugger hat ihn nicht nur durch bereitwilliges zur Verfügungstellen seiner großen Bibliothek, sondern auch durch namhafte Geldsummen unterstützt.

1557 gründete Henricus eine eigene Offizin in Genf, aus der im ersten Jahre fünf editiones principes hervorgingen. Sein Buchdruckersignet war das gleiche wie das seines Vaters: ein Mann in antiker Kleidung, der rechts unter einem Olivenbaum steht, von dem einige Zweige herabfallen; mit der erhobenen rechten Hand weist er nach einem sich um einen Zweig windenden Band hin, auf welchem die Worte aus Römer 11, Vers 19 stehen: »noli altum sapare, sed time«.

Robertus Stephanus starb am 7. 9. 1559, dem Sohne ein blühendes Geschäft und bedeutendes Vermögen hinterlassend. Dessen Sorge war neben Fortführung, die stetige Vergrößerung der Firma, weswegen er fortgesetzt mit den bedeutendsten Zeitgenossen Verbindung suchte, so namentlich mit Th. Beza, J. J. Scaliger u. a. Die Frankfurter Messe besuchte Henricus regelmäßig, ebenso war er häufig in Paris. Deutschland vernachlässigte er bei seinen Reisen[230] niemals, was durch die Freundschaft mit Thom. und Nic. von Rehdiger in Breslau, Philipp Melanchthon, Camerarius in Leipzig u. v. a. belegt wird. Ein lebhafter Briefwechsel hielt überall die alten Verbindungen aufrecht und knüpfte neue zu wissenschaftlichen und geschäftlichen Zwecken an.

Henricus hat als Kritiker und Gelehrter, als Buchhändler und Buchdrucker in einer Person viel für die Wiederherstellung und Verbesserung namentlich der griechischen Schriftsteller gethan und musterhafte, noch Jahrhunderte wirkende Ausgaben geschaffen, so seinen Plato (1578), Xenophon (1571 und 1581), Homer, Herodian u. v. a. Von lateinischen Autoren hat er nur wenige ediert: Horaz, Virgil, Cicero, Plinius, weiter hat er Livius und Plautus angefangen. Daneben verwandte er seine Hauptmühe auf die Vollendung des schon von seinem Vater angefangenen Thesaurus linguae Graecae, welches Lexikon 1572 in 5 Foliobänden zu Genf erschien (neu herausgegeben von Hase & Dindorf in 9 Bänden, Paris 1829 bis 63).

In seinen letzten Lebensjahren, nachdem sogar seine Druckerei wieder nach Paris, später aber infolge der unhaltbaren Zustände nach Genf zurückgekehrt war – ist sein ansehnliches Geschäft bedeutend zurückgegangen, wozu auch schlechte Erfahrungen mit seinem Korrektor Johann Scapula kamen. Zwar hatte ihm König Heinrich III. von Frankreich, damit des Stephanus Werk »De la précellence du langage françois« prämiierend, ein Jahrgehalt von 300 Livres ausgesetzt, noch außerdem begleitet von sofortiger Auszahlung von 3000 Livres. Dieser königliche Gnadenakt sollte Henricus in den Stand setzen, seine Studien und wissenschaftlichen Arbeiten wiederum aufzunehmen. Mit den 3000 Livres vermochte er jedoch kaum die dringendsten Gläubiger zu befriedigen, das Jahrgehalt wurde im voraus mit Arrest belegt; so sah sich Stephanus denn auf dem alten Standpunkt gänzlicher Mittellosigkeit und demgemäßer Unfähigkeit zur Arbeit angelangt. Ohne feste Heimat, die Glaubensgegner hatten ihm den heimatlichen Boden unter den Füßen untergraben, begann er eine Art von Vagabundenleben, bei welchem sich in kurzer Zeit seine Körper- und Geisteskräfte aufreiben mußten. Bald zu Paris, bald zu Orleans, Genf, Frankfurt, Lyon sich zeitweise aufhaltend, sah er sich genötigt, Paris gänzlich zu meiden, wenn es ihm nicht den Kopf kosten sollte. Die Sorbonne hatte mit ihm oder vielmehr mit seinem Bilde eine gleiche Komödie wie mit dem seines Vaters veranstaltet, nämlich ein Porträt Heinrichs[231] auf dem Markte zu Paris verbrannt. Auf der Flucht von Paris nach Lyon starb er daselbst 1598.

Die Genfer Druckerei erbte sein Sohn Paulus Estienne, geb. 1566, der sie wieder in größeren Flor brachte. Er studierte zu Genf Humaniora und genoß den Unterricht der ausgezeichnetsten Gelehrten dieser Stadt. Nach vollendetem Studium durchreiste er die Niederlande, England und Deutschland und machte dabei vielfach Bekanntschaft mit berühmten Personen, die den Träger eines so berühmten Namens günstig aufnahmen. Nach Genf zurückgekehrt eröffnete Paulus 1593 eine Offizin, aus der sehr viele Werke des Isaac Casaubonus, namentlich dessen Klassikerausgaben, ferner unter Paulus Redaktion die Dichter und Redner der Griechen und Römer, wie auch eigene Schriften desselben hervorgingen, als: Epigrammata graeca antholog. lat. versibus reddita 8. Genf 1593, u. a. m. Auch neue Ausgaben von Druckwerken seines Vaters veranstaltete er, z. B. Novum Testamentum Henrici Stephani. Ed. III. 12. 1604. Im Jahre 1627 starb er zu Genf im 61. Jahre, nachdem er noch eine Ausgabe der Carmina Pindari im Druck vollendet hatte.

Sein ältester Sohn Antoine Estienne, geb. 1592 zu Genf, gest. 1674, besaß seit 1618 in Paris eine Druckerei; er hat u. a. die Septuaginta, den Chrysostomus u. a. gedruckt, wurde sogar 1623 Hofbuchdrucker, starb aber arm und erblindet im Krankenhaus.

Quellen: Dr. Grautoff, H. St. Glogau 1862; Ed. Frommann, Aufsätze zur Geschichte des Buchhandels im 16. Jahrhundert I, Frankreich, Jena 1876; Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 1869 (H. Jacobson); vergl. Litteratur über die Familie Estienne (17 berühmte Namen) im Bibliotheks-Katalog des Börsenvereins der deutschen Buchhändler.

Quelle:
Rudolf Schmidt: Deutsche Buchhändler. Deutsche Buchdrucker. Band 2. Berlin/Eberswalde 1903, S. 227-232.
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