Blattern

[259] Blattern oder Pocken, bestimmter Kinder- und Menschenblattern oder Pocken, eine mehr oder weniger fieberhafte, ansteckende Ausschlagskrankheit, welche vor der allgemeinern Verbreitung der Schutz- oder Kuhpockenimpfung in Europa allein durchschnittlich eine halbe Million Menschen des Jahrs weggerafft, sowie außerdem noch viele zeitlebens elend und zu Krüppeln gemacht hat. Die Blattern stammen wahrscheinlich aus dem östl. Asien, wo sie in China, Japan, Hindostan schon lange vor Christi Geburt gekannt und gefürchtet waren und wurden von da später nach Persien und Arabien verschleppt. Nach Andern kamen sie im 6. Jahrh. n. Chr. aus Äthiopien nach Arabien, wurden durch die Kriege der Sarazenen im 7. und 8. Jahrh. zunächst über den nördl. Theil von Afrika, dann auch nach Spanien verbreitet. Später verpflanzten sie sich von hier aus, sowie durch die aus dem Morgenlande heimkehrenden Kreuzfahrer in alle Länder Europas und nach Amerika. Die Krankheit beginnt mit Fieberbewegungen, zu denen sich Kopfweh, Schmerzen im Rückgrathe, in den Gliedern und ein eigenthümlicher, dem des schimmlichen Brotes ähnlicher Geruch des Athems und der Ausdünstung gesellen. Diese Zufälle dauern mit zunehmender Heftigkeit etwa drei Tage, worauf am vierten unter Hinzutritt von Augenschmerzen, Thränen der Augen, Harnbeschwerden und Anschwellung der ganzen Haut mit Gefühl von Brennen in derselben, der Ausschlag in Gestalt kleiner rother, den Flohstichen ähnlicher Flecken zum Ausbruche kommt. Diese Flecken erscheinen zuerst im Gesicht und am Kopfe, dann an Brust, Armen und Händen, endlich am Unterleibe und an den untern Gliedmaßen und lassen schon nach wenigen Stunden ein tiefes, in der Haut verborgenes, hirsekornartiges Knötchen durchfühlen. Schon nach 24 Stunden bilden sie kleine Pusteln, welche an der Spitze blaß werden, sich mit einer hellen Feuchtigkeit, der Lymphe, darauf meist am sechsten Tage der Krankheit mit Eiter füllen und nun die eigentlichen Pockenpusteln darstellen. Diese Pusteln färben sich drei bis vier Tage nach ihrer Ausbildung und gewöhnlich in der Reihenfolge ihrer Entstehung dunkler, platzen auf, ergießen ihren Inhalt oder trocknen ein und verwandeln sich in beiden Fällen in braune Schorfe. Diese fallen nach und nach ab, hinterlassen zunächst braunröthliche Flecke, zuletzt aber Narben, welche zwar von der Farbe und Beschaffenheit der übrigen Haut sind, allein dennoch oft sehr entstellen. – Die Blattern befallen ohne Unterschied des Geschlechts, vorzüglich junge, doch auch alte Leute, allein selten die nämliche Person zweimal. In unsern Tagen werden sie vorzüglich durch Ansteckung erzeugt, die am gewissesten durch den Eiter und den Schorf der Blattern, doch auch durch bloßes Einathmen der mit Ausdünstung eines Blatternkranken erfüllten Luft erfolgt. Je nachdem die Krankheit mehr oder minder bösartig ist, kann sie tödtlich werden, hinterläßt aber wenigstens gern Nachkrankheiten, wie allerhand Augenübel, selbst Blindheit, Ohrenausfluß, Schwerhörigkeit, Brustbeschwerden, Lähmungen, Knochenkrankheiten u.s.w. Dies gilt indeß nur von den echten Menschenblattern, welche von den in neuerer Zeit oft beobachteten unechten wohl unterschieden werden müssen. Letztere verlaufen weit gelinder und schneller, aber auch unregelmäßiger und bieten hinsichtlich des Ausschlags eine Menge von Abweichungen von den echten dar. So kommt es zuweilen gar nicht zu wahrer Pockenbildung, sondern es entwickeln sich nur mit Lymphe oder mit Luft gefüllte Bläschen, die dann Wasserpocken und Windpocken heißen, oder es bleibt bei den bloßen Knötchen und Höckerchen, den sogenannten Steinpocken und Warzenpocken, oder endlich, es zeigt sich nur an der Spitze derselben Eiterbildung und dann führen sie den allbekannten Namen Spitzpocken. In früherer Zeit suchte man durch strenge Absonderung der Blatternkranken und Errichtung besonderer Blatternhäuser der oft um sich greifenden Ausbreitung dieses Übels vorzubeugen, allein diese Maßregeln zeigten sich bald entweder als unausführbar oder unzureichend. Nun strebte man danach, die Krankheit wenigstens zu mildern und hoffte, diesen Zweck durch künstliche Einimpfung des Blatterngiftes zu erreichen. Die Türken hatten dies, besonders beim weiblichen Geschlechte, als ein Mittel zur Erhaltung der Schönheit desselben schon lange mit. Erfolg gethan, allein erst zu Anfange des vorigen Jahrhunderts wurde [259] dies Verfahren durch eine Engländerin, die Lady Montague, bekannt, welche es an ihren eignen Kindern erprobte. Es ward nun später in andern Ländern Europas ausgeübt; da indeß die künstlich dadurch erzeugte Krankheit nicht immer gefahrlos verlief, ja für Kinder manchmal tödtlich wurde, so gab man dasselbe auf, seit Eduard Jenner (s.d.), die segensreiche Entdeckung machte, daß die Impfung der Kuhpocken meist zuverlässig und völlig ohne Gefahr gegen die Ansteckung der Menschenblattern schütze.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1837., S. 259-260.
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