Transcendent

[512] Transcendent (transscendent, transcendens) heißt »übersteigend« und hat jetzt zweierlei Bedeutung: 1) die Erfahrung übersteigend, über alle Erfahrung hinaus, jenseits aller Erfahrung, unerfahrbar, aus dem Rahmen jeder objectiv-empirischen Erkenntnis herausfallend. transcendent ist also ein Begriff, der auf ein über die Erfahrung hinaus Liegendes geht, z.B. der Begriff des Universalgeistes, Weltwillens. Ob es eine transcendente Erkenntnis (indirect) gibt, ist Problem der Erkenntnistheorie. Das Transcendente läßt sich jedenfalls nicht, wie der Begriff ja sagt, empirisch erfassen, erleben, aber es läßt sich vielleicht mit Berechtigung hinter dem Immanenten (durch einen Grenzbegriff) ein Transcendentes setzen, voraussetzen, »meinen« (s. d.), als »transcendenter Factor« des empirisch – immanent Gegebenen (s. Object, Ding, Kategorien). 2) Transcendent bedeutet auch: bewußtseinstranscendent, d.h. alles, was nicht in das Bewußtsein des Erkennenden fällt, so das fremde Bewußtsein oder frühere Bewußtseinserlebnisse, aber auch die nicht eben erfahrenen, wahrgenommenen Objecte, die in diesem Sinne bewußtseinstranscendent, aber erfahrungsimmanent sind. – Im metaphysischen Sinne bedeutet »transcendent« das Verhältnis Gottes als eines Überweltlichen, Außerweltlichen zur Welt (s. Gott).

»Transcendere« im erkenntnistheoretisch-metaphysischen Sinne schon bei HERENNIUS (haper physeôs hyperêtai, vgl. Eucken, Termin. B. 183), BOËTHIUS: »Ratio autem hanc (den Gegenstand der Imagination) quoque transcendit, quae speciem quae singularibus inest, universali consideratione pependit« (De consol. philos. V), AUGUSTINUS (»transcende et te ipsum«, De vera relig. 72), SCOTUS ERIUGENA (im Sinne des Überragens über die Natur): »Solus namque Deus in ipsis apparebit, quando terminos suae naturae transcendent non ut in eis natura, sed ut in eis solus appareat, qui solus vere est. Et hoc est naturam transcendere, naturam non apparere« (De div. nat. I, 42). Bei den Scholastikern bedeutet »transcendere« das Die-Vernunft-übersteigen theologischer Begriffe. So ist nach THOMAS die »sacra doctrina« »de his, quae sua altitudine rationem transcendunt« (Sum. th. I, 1, 5. vgl. Contr. gent. I, 3. III, 61). »Incorporalium non sunt aliqua phantasmata, quia imaginatio tempus et continuum non transcendit« (Sum. th. I, 84, 7). »Transcendens« wird bei den Scholastikern auch im Sinne von »transcendentalis« (s. d.) gebraucht.

NICOLAUS CUSANUS bemerkt: »Hoc autem nostrum intellectum transcendit, qui nequit contradictoria in suo principio combinare via rationis« (De doct. ignor. I, 4). »Ad hoc ductus sum, ut incomprehensibilia... amplecterer in docta ignorantia per transcensum veritatum incorruptibilium humaniter scibilium« (l. c. III, 12). REUCHLIN sagt von Gott, daß er »omnem nostrum[512] intellectum transcendit« (De arte cabbal. I, f. 21 b). BERKELEY erklärt: »God is a being of transcendent and unlimited perfections« (Hyl. u. Philon. III).

Bei KANT erhält der Transcendenz-Begriff die Bedeutung des Überschreitens aller (möglichen) Erfahrung. »Wir wollen die Grundsätze, deren Anwendung sich ganz und gar in den Schranken möglicher Erfahrung hält, immanente, diejenigen aber, welche diese Grenzen überfliegen sollen, transcendente Grundsätze nennen« (Krit. d. rein. Vern. S. 262). Indem die Vernunftbegriffe (s. d.) »auf die Vollständigkeit, d i. die collective Einheit der ganzen möglichen Erfahrung hinausgehen, überschreiten sie jede gegebene Erfahrung und werden transcendent« (Prolegom. § 40). Transcendent sind alle metaphysischen Begriffe von Gott, Seele, Unsterblichkeit u.s.w. Transcendente Erkenntnis ist nicht möglich (s. Erfahrung, Erkenntnis, Object, Ding an sich, Erscheinung, Phänomen).

J. G. FICHTE versteht unter dem Transcendenten alles, was außerhalb des Ich (s. d.) liegen soll. So auch SCHELLING (in der ersten Periode): Transcendent ist die Behauptung, die »das Ich überfliegen will« (Vom Ich, S. 113). – HERBART erklärt: »Mit welchem Rechte überschreiten wir den Kreis der Erfahrung?« »Die Antwort ist: mit dem Rechte, welches die Erfahrung selbst uns gibt, indem sie uns dazu zwingt« (Lehrb. zur Einl.5, § 157, S. 192). – Nach HERMES bildet unser Denken nicht die vorausgesetzten Objecte ab, diese werden nicht Inhalt des Begriffes, sondern wir denken sie als seiend (Einl. I, 430 ff.. vgl. ÜBERWEG unter »Object«). Nach G. SPICKER ist Transcendenzfähigkeit die »Anlage der Vernunft, in Gestalt von Schlußfolgerungen die sinnlichen Wahrnehmungen überschreiten zu können« (Vers. ein. neuen Gottesbegr. S. 105). VOLKELT nennt »transsubjectiv« »alles, was es außerhalb meiner eigenen Bewußtseinsvorgänge geben mag« (Erfahr. u. Denk. S. 42). Dieses wird durch das Gedachtwerden nicht »immanent«. »Indem das Denken transsubjectiv gültige Bestimmungen ausspricht, zieht es ja nicht das Transsubjective in seinen Bereich herein. es fordert nur, daß seine subjectiven Verknüpfungen für das Transsubjective gelten... Das Denken bleibt also beim Erkennen des Transsubjectiven durchaus in und bei sich selbst, und ebenso bleibt das Transsubjective dort, wo es ist« (Erfahr. u. Denk. S. 188). Nach B. ERDMANN ist der Gegenstand, von dem die Wirklichkeit ausgesagt wird, das Transcendente, das als die Seinsgrundlage des Vorgestellten vorausgesetzt wird, sich in diesem darstellt (Log. I, 83). Ähnlich lehrt UPHUES. Er unterscheidet ein Transcendentes an sich (Natur, Körperwelt) und ein Transcendentes für uns, die Bewußtseinsvorgänge fremder Bewußtseine (Psychol. d. Erk. I, 7. vgl. S. 151). Das Transcendente ist das »Jenseits des Bewußtseins«, der Gegensatz zum Bewußtsein, was in diesem zum »Ausdruck« gelangt (l. c. S. 66). »Bewußtsein der Transcendenz« ist ein »Bewußtseinsvorgang, in dem wir uns das, was für ihn transcendent ist, vergegenwärtigen« (Das Bewußts. d. Transcend., Vierteljahrsschr. f. wissensch. Philos. 21. Bd., S. 455). Die Vorstellungen vertreten das Transcendente (l. c. S. 470 ff.. s. Object). Nach H. SCHWARZ ist das Gerichtetsein der Wahrnehmung auf das Transcendente eine psychologische Tatsache (Was will d. krit. Realism.2, 1894, S. 5 ff.). – Nach E. KOENIG ist das »relativ Transcendente« das »Transsubjective«, das vom psychophysischen Subject Unabhängige, in die objective Sphäre des Bewußtseins Fallende, den Inhalt des allgemeinen Bewußtseins Bildende (Üb. d. letzt. Frag. d. Erk., Zeitschr. f. Philos. 103. Bd. S. 41 ff.). Die Transcendenz ist schließlich nur ein inadäquater Ausdruck für die Incongruenz zwischen dem tatsächlichen Inhalt und dem Ideal der Erkenntnis[513] (l. c. S. 59). Nach H. RICKERT ist transcendent ein Sein, »von dem die Bestimmung, Bewußtseinsinhalt zu sein, verneint wird« (Der Gegenst. d. Erk. S. 19). Es ist eigentlich ein Wert, ein Sollen, auf das, als Norm des Erkennens, erst das urteilende Bewußtsein hinweist, nicht die Vorstellung (l. c. S. 86 ff.). – M. KEIBEL definiert: »Transcendent ist das, was existiert, ohne als Wahrnehmung, Vorstellung oder Begriff gegeben zu sein« (Wert u. Urspr. d. philos. Transcend. S. 2). »Wir gelangen zur Transcendenz, indem wir die stets gegebenen Beziehungen des Objects zum Subject übersehen« (l. c. S. 52). Nach SCHUBERT-SOLDERN ist transcendent »alles, was über das Bewußtsein oder das Bewußtwerden hinausgeht«. Es gibt eine zweifache »Transcendenz«, »je nachdem man behauptet, daß eine nicht vorhandene Seinsart gegeben sei, oder daß etwas in keiner Beziehung zum Ich gegeben sei« (Gr. ein. Erk. S. 5, 11, 29). – Nach WUNDT ist die Vernunft (s. d.) die Quelle der Transcendenz. Der Trieb nach Einheit und unbegrenzter Verbindung des Gegebenen mit seinen Voraussetzungen führt über die Erfahrung (aber in deren eigener Richtung) hinaus. Die unbedingte Forderung der Anwendung des Satzes vom Grunde (s. d.) nötigt, »jedesmal für gewisse Anfangs- und Endpunkte der Erfahrungsreihen die zugehörigen Glieder außerhalb der wirklichen Erfahrung zu suchen«. So erzeugt die Vernunft Ideen (s. d.), die »alle Erfahrungen umspannen und doch keiner Erfahrung angehören«. Da die Beziehungen nach Grund und Folge die Gliederung eines Ganzen in seine Teile voraussetzen, so verbindet sich »die Idee eines unbegrenzten Fortschrittes, die den Zusammenhang des Wirklichen über alle gegebenen Grenzen hinaus fortzusetzen gebietet mit der weiteren Idee einer Totalität alles Seins, in der dieser Fortschritt vollendet gedacht wird, obgleich er in seinen einzelnen Bestimmungen doch niemals vollendbar ist« (Syst. d. Philos.2, S. 180 ff.). Die Vernunft führt so zu zwei Arten der Transcendenz, zu denen schon die Mathematik das Vorbild gibt: zum Real- und zum Imaginär-Transcendenten. »Das erstere beruht bloß auf der Unendlichkeit des Fortschritts im Denken, wobei aber die von diesem ausgeführten Verknüpfungen immer dieselbe Form beibehalten, die ihnen innerhalb des Fortschritts der Erfahrung bereits zukam. Bei der zweiten, der imaginären Transcendenz dagegen führt jener Fortschritt zu neuen Begriffsbildungen, die sich von Anfang an durch ihre qualitativen Eigenschaften von den verwandten realen Begriffen, aus deren Weiterentwicklung sie hervorgegangen sind, unterscheiden. Bleibt hiernach der unendliche Fortschritt im ersten Fall ein rein quantitativer, so wird er im zweiten zum qualitativen. Auf diese Weise erschöpfen beide Arten der Transcendenz die denkbaren Formen der Unendlichkeit, die quantitative und die qualitative. Aber die erste beschränkt sich zugleich auf die Construction einer nicht gegebenen Wirklichkeit, die zweite führt zu einer bloßen Denkmöglichkeit« (l. c. S. 182 ff.. vgl. Idee). Vgl. A. MEINONG, Üb. Annahm. S. 93 ff. Vgl. Ding, Object, Immanent, Kategorien, Realismus, Transcendente Factoren, Gott, Transcendental.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 2. Berlin 1904, S. 512-514.
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