Fahrkunst [1]

[270] Fahrkunst. Die an ein Fuhrwerk gespannten Zugtiere zu leiten, bedingt besondere Geschicklichkeit, zu der außer genauer Kenntnis von den Gangarten, dem Charakter und dem Temperament der Zugtiere sowie dem Bau der Fuhrwerke und Geschirre, um diese im Notfall selbst ausbessern zu können, Ruhe, Besonnenheit und Entschlossenheit notwendig sind. Im Altertum, wo man sich in Schlachten der Streitwagen bediente, von denen aus selbst Fürsten kämpften, war das Geschäft des Wagenlenkens besonders unter Assyrern, Babyloniern, Ägyptern und Griechen ein hochwichtiges, von dem nicht selten Freiheit und Leben des Fürsten abhingen, und dem sich in der Regel die Vornehmsten unterzogen. Im alten Griechenland genoß das Wagenrennen bei den Festspielen hohes Ansehen. Als aber später die Streitwagen abkamen, hörte auch das Fahren auf, eine Beschäftigung der Vornehmen zu sein, und bei den Römern führte nur bei besondern Veranlassungen, wie bei Triumphzügen u. dgl., der Triumphator die Zügel selbst. Dennoch[270] gaben die Wettfahrten in den Zirkussen zu Rom und Konstantinopel der F. bedeutenden Aufschwung. Weniger Bedeutung hatte das Fahren im Mittelalter, wo das Reiten vor allem geschätzt und das Fuhrwerk hauptsächlich infolge der sehr schlechten Straßen in der Regel außerordentlich mangelhaft war, und noch mehr sank das Ansehen dieser Kunst seit dem 17. Jahrh., als es, namentlich unter Ludwig XIV., Mode wurde, sich von bepuderten Kutschern mit hohen Perücken und gewaltigen Haarbeuteln fahren zu lassen, während selbst zu fahren für höchst gemein galt. In England hat sich die Sitte, selbst zu fahren, vorzüglich unter dem Landadel erhalten und von da aus seit Ende des 18. Jahrh. auf dem Kontinent verbreitet, so daß es jetzt für fashionabel gilt, seinen Zug selbst zu leiten, und namentlich unter der Aristokratie in Ungarn, Österreich und Deutschland sind ausgezeichnete Rosselenker zu finden. Trotzdem ist die F. im Niedergang begriffen, denn der bei weitem größere Teil des Personals, dem in erster Linie die Leitung der Zugtiere obliegt, steht auf einer sehr niedrigen Stufe der Ausbildung dafür, und man hat daher die Errichtung von Fachschulen in Aussicht genommen. Das Wagenpferd ist ähnlich wie das Reitpferd für seinen Gebrauch vorzubereiten, d. h. alle seine Muskeln, die zur Opposition geneigt sind, müssen willig gemacht werden. Es ist daher nur günstig, wenn jedes Wagenpferd vor Ingebrauchnahme für diesen Dienst einen Reitkursus durchgemacht hat. Die Anleitung zum Ziehen selbst vollzieht sich verhältnismäßig am leichtesten. Zugpferde dürfen weder nervös, noch furchtsam, noch mit besondern Untugenden behaftet sein, ein ruhiges Temperament mit genügender Gehlust ist am geeignetsten. Das Anlernen eines jungen Pferdes zum Zuge geschieht neben einem ältern vollständig sichern, dem sogen. Schulmeister. Zu Führung des erstern ist neben der Kreuzleine noch eine besondere Hilfsleine erforderlich, auch bedient man sich zum Einfahren eines besondern Wagens mit hohem Sitz, dessen Vorderteil, Zugwage etc. mit Leder gepolstert ist. Von besonderer Wichtigkeit ist die Art der Anspannung und die Beschirrung. Vgl. Geschirr. Der Leiter hat sich die Pferde so in die Hand zu fahren, daß sie leicht am Zügel stehen und jede Hilfe zur Wendung oder zum plötzlichen Halten sofort ausführen. In dieser korrekten, schwer zu erlernenden richtigen Führung der Pferde vermittelst der Kreuzleine beruht die Kunst des Kutschers und in ihr die Sicherheit der Insassen des Wagens. Man fährt einspännig, zweispännig neben- und voreinander (Tandem), dreispännig nebeneinander (russisch Troika, französisch die sehr praktische Anspannung der Pariser Omnibusse) oder zwei nebeneinander und eins vorn, vierspännig seltener nebeneinander, meist ein Paar vor dem andern. Was darüber hinausgeht, ist Liebhaberei oder für Luxus und Auszüge bestimmt. Die Pferde können vom Bock durch den Kutscher oder durch Jockeys vom Pferde (Sattelpferd) aus geleitet werden (à la Daumont). Über Fahrgeschwindigkeit s. Geschwindigkeit, über Zugleistungen s.d. Zur Förderung der F. und der stilgerechten Anspannung wurden zuerst in Paris sogen. Concours hippiques (s.d.) abgehalten, d. h. Preisbewerbungen für Fuhrwerke jeder Art, eine Einrichtung, die in neuerer Zeit auch in andern Großstädten Eingang gefunden hat, in Berlin seit Begründung des Deutschen Sportvereins (s.d.) 1897. Vgl. Heinze, Pferd und Fahrer (2. Aufl., Leipz. 1886); B. Schönbeck, Fahrhandbuch (2. Aufl., das. 1895); Eberhardt, Das Wagenpferd und die Fahrkunst (2. Aufl., Leipz. 1890); R. Schönbeck, Fahr-ABC (Berl. 1893); Derselbe, Deutsche Fahrkunde (Leipz. 1900); v. Heydebrand und der Lasa, Fahrsport (Wien 1883); Ahlers, Der Fahrsport (Leipz. 1902).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 6. Leipzig 1906, S. 270-271.
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