Irvingĭaner

[37] Irvingĭaner (Irvingiten), nach ihrem Begründer, dem schottischen Geistlichen Irving (s. d. 2), benannte religiöse Sekte, welche die baldige Wiederkunft Christi erwartet und durch Erneuerung der apostolischen Einrichtungen darauf vorbereiten will. Bei Irvings 1834 erfolgtem Tode ward seine Lehre in London schon in sieben Kapelle a (den »7 apokalyptischen Gemeinden«) verkündigt. Der Muttersitz der I. ward Albury, eine Besitzung Henry Drummonds. Die zwölf Apostel konstituierten sich als »apostolisch-katholische Kirche« (so die offizielle Bezeichnung, der Name I. ist verpönt) 1835, teilten die Erde in zwölf Missionsbezirke für sich ein und überreichten 1836 dem König eine Denkschrift über ihre Tendenzen; ihnen untergeordnet sind die Propheten, Evangelisten und Hirten als allgemeine Kirchenämter, die Engel, Ältesten, Priester und Diakonen als Gemeindeämter. Zu dieser streng gegliederten und unter Entfaltung von großem Pomp fungierenden Hierarchie gesellt sich die Übertragung der alttestamentlichen Typen auf die christlichen Gemeindeverhältnisse. Das Abendmahl wird als Dankopfer der verwandelten Elemente zur Erinnerung an Christi Tod aufgefaßt. Im übrigen ruht das ganze Lehrgebäude auf apokalyptischer Basis. Die protestantischen Kirchen nicht weniger als die römisch-katholischen sind in dem Zustande Babylons; wer sich von diesem trennt und »versiegelt« (Offenb. Joh. 7,3 ff.) wird, hat die Aussicht, vor dem bevorstehenden Gericht in die Luft entrückt und gerettet zu werden. Sobald sich die Kirche so weit gereinigt hat, um ihren Bräutigam würdig empfangen zu können, erfolgt Christi sichtbare Wiederkunft. Von England gingen 1838 die Glaubensboten nach allen Ländern Europas aus, kamen nach 1260 Tagen (vgl. Offenb. Joh. 11,2 ff.) wieder in London zusammen, glichen einige Differenzen aus und begannen sodann ihre Wirksamkeit nach außen von neuem. In der Schweiz haben sich die I. nur in Basel, wo namentlich Caird und Woringer tätig waren, auf die Dauer behauptet. In Deutschland gewann der Irvingianismus besonders seit 1848 Anhänger. In Berlin war es der Evangelist Charles Böhm, der Proselyten machte. Im Mai 1848 war die neue Gemeinde in Berlin schon so gewachsen, daß der Apostel Gavin Carlyle (derselbe, der auch den protestantischen Theologen Thiersch für den Irvingianismus eroberte) dieselbe in pomphafter Weise weihen konnte. Hohe Militärpersonen und Zivilbeamte ließen sich für den Irvingianismus gewinnen, außerdem Geistliche, wie Köppen, Schriftsteller, wie Wagener, der Redakteur der »Neuen Preußischen Zeitung«. Schon 1850 zählte die Sekte in Berlin über 500 Mitglieder und rekrutierte sich fortwährend stark aus den höhern Ständen. Von Berlin gingen Sendboten namentlich nach Schlesien, wo Liegnitz ein Hauptherd der Sekte wurde. Auch in Königsberg, Posen, Frankfurt a. M., Magdeburg, Rostock und andern Städten entstanden Irvingianergemeinden; 1871 wurden in Preußen 1710 I. gezählt. Selbst unter der katholischen Bevölkerung in der Umgegend von Augsburg fand der Irvingianismus Eingang, bis 1857 das bischöfliche Ordinariat sämtliche Bekenner desselben, namentlich deren Haupt, den Priester Lutz in Oberroth, exkommunizierte. Auch in Württemberg und in Kurhessen (Marburg), hier durch H. W. Thiersch (s. d.), fand die Sekte Sympathien. Jetzt ist ihre Sache im Niedergang begriffen, zumal im Februar 1901 der letzte der zwölf Apostel gestorben und die Konkurrenz der Neu-Irvingianer (s. d.) fühlbar ist. Die Gesamtzahl der I. (sie kennen keine Statistik) wird ca. 50,000 betragen; Preußen zählte 1900 einschließlich Neu-Irvingianer 32,215. Vgl. außer den Schriften von Thiersch: Jacobi, Die Lehre der Irvingiten (2. Aufl., Berl. 1868); Böhm, Schatten und Licht in dem gegenwärtigen Zustande der Kirche (Frankf. 1855); Köhler, Het Irvingisme (Haag 1876); Miller, History and doctrines of Irvingism (Lond. 1878, 2 Bde.); v. Richthofen, Die apostolischen Gemeinden, ihre Entstehung, Verfassung und Gottesdienste (Augsb. 1884); Roßteuscher, Der Aufbau der Kirche Christi auf den ursprünglichen Grundlagen (2. Aufl., Basel 1886); Kolde in der »Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche«, Bd. 9 (3. Aufl., Leipz. 1901) und die bei Irving 2) angeführten Schriften.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 10. Leipzig 1907, S. 37.
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