Kindersterblichkeit

[16] Kindersterblichkeit. Die Sterblichkeit der Kinder ist im ersten Lebensjahr weitaus höher als in jedem der spätern Lebensjahre; das größte Interesse im volkswirtschaftlichen Sinne hat daher die Säuglingssterblichkeit, und oft versteht man unter K. nur diese. Man drückt sie in dem Falle gewöhnlich durch das Verhältnis der in einem bestimmten Zeitraum gestorbenen Säuglinge zur Zahl der im gleichen Zeitraum lebend gebornen Kinder aus, z. B. eine Säuglingssterblichkeit = 20:100 bedeutet, daß im Zeitraum eines Jahres auf je 100 Lebendgeborne 20 Kinder vor Ablauf des ersten Lebensjahres gestorben sind. Nach den statistischen Ergebnissen des Jahres 1901 starben auf je 100 Lebendgeborne vor Ablauf des ersten Lebensjahres in

Tabelle

In einer etwas abweichenden Weise sind für mehrere Großstädte die Ziffern der Säuglingssterblichkeit von 1902 auf je 100 Lebendgeborne des Vorjahres errechnet. Nach der betreffenden internationalen Übersicht starben auf je 100 Lebendgeborne in:

Tabelle

Für die großen Städte geben diese Ziffern allerdings kein reines Bild von der wirklichen K., da hier die Sitte, die Kinder auswärts aufziehen zu lassen, vielfach sehr verbreitet ist, und in solchen Städten, wie z. B. in Paris, dann die Geburten alle in der Stadt, die Sterbefälle der daselbst gebornen Kinder aber zum Teil auf dem Lande gezählt werden.

Die Höhe der K. wird wesentlich beeinflußt durch die Geburtenhäufigkeit; je höher im Jahresmittel die Zahl der lebend gebornen Kinder ist, um so höher ist in der Regel die Sterblichkeit unter den Säuglingen, und welchen Schwankungen die Geburtsziffer unterliegt, ergibt sich z. B. daraus, daß auf je 1000 Einw. während des Jahres 1902 im Deutschen Reich 35,1, in Irland 23, in Frankreich 21,6 Kinder lebend geboren sind. Mitunter zeigen sich sogar innerhalb ein und desselben Staates beträchtliche Unterschiede in der Höhe der K.; sie betrug z. B. während des Jahres 1901 auf je 100 Lebendgeborne: in den sieben östlichen Provinzen des preußischen Staates 23, dagegen in den fünf westlichen Provinzen Preußens nur 16 und im rechtsrheinischen Bayern gar 25,2, dagegen in der bayrischen Pfalz 16. Die K. ist am bedeutendsten im ersten Monat nach der Geburt und nimmt vom zweiten Lebensmonat an stetig ab, so waren z. B. von 23,088[16] in den Jahren 1900 und 1901 in Berlin gestorbenen Kindern des ersten Lebensjahres nicht weniger als 6847, d. h. fast 30 Proz. der Gesamtzahl, vor Ablauf des ersten Lebensmonats gestorben. Sehr großen Einfluß auf die Höhe der K. übt unter anderm die Zahl der unehelichen Geburten aus, denn von je 1000 außerehelich gebornen Kindern sterben aus naheliegenden Gründen durchweg mehr im ersten Lebensjahr als von je 1000 in der Ehe gebornen Kindern. Im zweiten und dritten Lebensjahr läßt diese höhere Sterblichkeit der außerehelichen Kinder sich nicht mehr nachweisen, weil viele durch nachträgliche Heirat der Eltern legitimiert sind und dann als eheliche beim Tode gezählt werden. Hohe K. wird ferner durch die Frauenarbeit in der Industrie bedingt; nach dem Erlaß des schweizerischen Gesetzes, gemäß welchem Frauen sechs Wochen nach der Entbindung in Fabriken nicht arbeiten dürfen, sank alsbald die hohe K. in den industriereichen Kantonen beträchtlich, während sie in den ackerbautreibenden Kantonen unverändert blieb.

Kärtchen der Kindersterblichkeit im Deutschen Reich.
Kärtchen der Kindersterblichkeit im Deutschen Reich.

Unter den Todesursachen der Kinder des ersten Lebensjahres nehmen die Krankheiten der Verdauungsorgane, namentlich Brechdurchfall, die erste Stelle ein, demnächst angeborne Lebensschwäche und Krankheiten des Nervensystems, von letztern namentlich Krämpfe, doch ist hinsichtlich dieser zu beachten, daß die dem Standesbeamten als Todesursache angegebenen »Krämpfe« gewöhnlich nicht das Leiden erkennen lassen, das den Tod herbeigeführt hat, sondern nur ein gewisses auffallendes Krankheitssymptom bezeichnen, unter dem der Tod erfolgt ist. Während der Jahre 1900 und 1901 starben in Berlin 23,088 Kinder des ersten Lebensjahres, davon angeblich an Durchfall, Brechdurchfall, Magenkatarrh oder Magendarmkatarrh 9519, ferner aus angeborner Lebensschwäche 4757, an Starrkrampf oder sonstigen Krämpfen 1475, an Lungenentzündung 1731 etc.

Da das Hauptnahrungsmittel der Kinder, die Milch, unter dem Einfluß der Sommertemperatur leicht sich zersetzt und dann Magen- und Darmkrankheiten der Kinder erzeugt, sind die Todesfälle aus dieser Ursache in den Sommermonaten meist häufiger als in der übrigen Zeit des Jahres, namentlich gilt dies im Deutschen Reich. In den 287 größten Orten des Deutschen Reiches (mit mehr als 15,000 Einw.) starben während eines der letzten Berichtsjahre 22,957 Kinder des ersten Lebensjahres an Brechdurchfall, davon 14,632 während der beiden Monate Juli und August und nur 8325 während der andern zehn Monate des Jahres. Für die durch Lebensschwäche bedingten Todesfälle stellen die zu früh Gebornen das Hauptkontingent. Übrigens ist auch nachgewiesen, daß die Kinder, die bei günstigen Nahrungsmittelpreisen gezeugt sind, weniger sterben als diejenigen, die unter ungünstigen Verhältnissen gezeugt sind. Das allgemeine Wohlbefinden der Eltern beeinflußt mithin auch die Lebensfähigkeit der Kinder. Trunksucht, Prostitution, Syphilis, Bleichsucht, Tuberkulose wirken besonders ungünstig, daneben auch, wie es scheint, zu jugendliches Lebensalter der Mutter, da in Ländern, wo die Mädchen sehr früh heiraten, die Zahl der bald nach der Geburt sterbenden Kinder auffallend hoch ist. Die Annahme, daß auf dem Lande durchweg eine geringere Säuglingssterblichkeit herrsche als in den[17] Städten, ist in dieser Allgemeinheit nicht zutreffend. Wie die Gesamtsterblichkeit in den größern Städten des Deutschen Reiches niedriger als im gesamten Reich ist, so ist auch die Säuglingssterblichkeit in einzelnen Teilen des Reiches in den Städten niedriger als auf dem Lande. Das Geschlecht der Kinder spielt eine gewisse Rolle bei der Sterblichkeit, denn es sterben meist mehr Knaben als Mädchen; die Ursache dieser größern Knabensterblichkeit ist nicht bekannt. Nach Ablauf des ersten Lebensjahres überwiegen unter den Todesursachen der Kinder einerseits die Infektionskrankheiten Masern, Scharlach, Diphtherie, Keuchhusten, anderseits die Krankheiten der Atmungsorgane, während die der Verdauungsorgane mehr in den Hintergrund treten. Welchen Einfluß der Stand der Eltern auf die K. besitzt, zeigt folgende Tabelle, die sich auf 22jährige Beobachtungen in Erfurt bezieht. Von 100 Kindern starben:

Tabelle

Die K. in den einzelnen Teilen Deutschlands zeigt das Kärtchen (S. 17). Vgl. Pfeiffer, Die K. (in Gerhardts »Handbuch der Kinderkrankheiten«, Bd. 1, Tübing. 1897–99); Wolff, Untersuchungen über die K. (Erfurt 1874); Seutemann, K. sozialer Bevölkerungsgruppen, insbesondere im preußischen Staat (Tübing. 1894); Petruschky und Kriebel, Experimentaluntersuchungen über die Ursachen der Sommersterblichkeit der Säuglinge (Leipz. 1904).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 11. Leipzig 1907, S. 16-18.
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