Krampf

[565] Krampf (Spasmus), Zuckung, eine unfreiwillige, mehr oder weniger gewaltsame, plötzliche Muskelzusammenziehung. Jeder Muskel wird in bezug auf seine Tätigkeit, die sich als Zusammenziehung äußert, von einem Bewegungsnerv beherrscht. Somit kann also auch der K. nur dann zustande kommen, wenn die die befallenen Muskeln versorgenden Nerven in irgend einer Weise abnorm erregt werden; es beruht also der K. auf einer Innervationsstörung, die in der Regel als Symptom einer Affektion der großen Nervenzentren auftritt, oder aber von einer vom Zentralorgan entfernten, oft recht weit von diesem ab belegenen Stelle hervorgerufen wird. In letzterm Falle kommt also der K. auf dem Wege des Reflexes zustande (Reflexkrämpfe).

In welcher Weise Konvulsionen, d. h. rasch hintereinander folgende Krämpfe im Einzelfall hervorgerufen werden, ist nicht immer leicht zu sagen, da eine Entzündung der Nervenzellen an der Stelle des Zentralorgans, wo der Reiz für die Muskelzusammenziehung entsteht, ebensogut Konvulsionen hervorruft wie ein allmählich bis zur Quetschung sich steigernder Druck derselben Stelle, den eine in der Nähe wachsende Neubildung auf letztere ausübt. In der äußern Form zeigen die Krämpfe erhebliche Verschiedenheiten, je nachdem die erregende Ursache direkt im Rückenmark oder im Hirn oder in peripheren Körperteilen ihren Sitz hat, obwohl es häufig nicht gelingt, den Ursprung der Krämpfe genau zu bestimmen. Man hat die Krämpfe eingeteilt in Gehirn- (Hirn-), Rückenmarks- und Reflexkrämpfe. Zu den Gehirnkonvulsionen gehören diejenigen, die im Großhirn, namentlich in der Großhirnrinde, ihren Ausgangspunkt haben. Es können aber auch von unterhalb der Rinde gelegenen Hirnteilen (Sehhügel, Schwanzkern, Brücke, verlängertes Mark) Krämpfe ausgelöst werden; ebenso vom Rückenmark aus (s. unten). Nicht selten handelt es sich um Reflexkrämpfe, d. h. solche Krämpfe, wo der Reiz, von irgend einer peripheren Stelle aus auf das Rückenmark und das Gehirn übertragen, nunmehr krampfhafte Zusammenziehungen und Zuckungen erregt; dahin gehören die infolge von Kotstauung und von Wurmreiz entstehenden Reflexkrämpfe der Kinder. Indes kann auch das Rückenmark selbst in einer eigentümlichen Weise krankhaft beschaffen sein, so daß Krämpfe durch ganz geringe, ganz normale Bewegungsreize hervorgerufen werden können, z. B. bei den durch bestimmte Bakterien hervorgerufenen krankhaften Erregbarkeitssteigerungen beim Tetanus (Wundstarrkrampf) und bei der Hundswut (Lyssa). Die zwischen leichtester Muskelzuckung und stärkster Kontraktion schwankende Intensität der Krämpfe ist abhängig teils von dem veranlassenden Reiz, teils vom Zustande des betreffenden Zentralorgans (Gehirn oder Rückenmark), teils endlich auch von der Zusammenziehungskraft der Muskeln selbst. Der Dauer nach unterscheidet man die vorübergehenden, mit [565] Erschlaffung abwechselnden Zuckungen (klonische Krämpfe), wobei bald diese, bald jene Muskelgruppe sich abwechselnd zusammenzieht und erschlafft (z. B. die Rindenkrämpfe, Rindenklonus), und die anhaltenden Zusammenziehungen (tonische Krämpfe), als deren Typus der Starrkrampf angesehen werden kann, der eine lange andauernde Kontraktion zeigt. Manche Krämpfe treten in periodischen Anfällen, in Paroxysmen, auf. Bald beschränken sich die Krämpfe auf einzelne Muskeln, bald auf Muskelgruppen, bald sind sie auf alle Muskeln des Körpers ausgedehnt. (Vgl. hierzu Eklampsie, Epilepsie, Gesichtskrampf, Schreibkrampf, Zahnkrämpfe, Veitstanz, Starrkrampf, Tetanie.)

Die Ursachen der Krämpfe sind außerordentlich mannigfaltig: Veränderungen im Gehirn und Rückenmark, Blutwallungen, Entzündungen, Erweichungen, Geschwülste in diesen Organen; teils chemischer Natur, indem ein krankhaft (z. B. durch Aufnahme von Giften oder Aufnahme von Harnstoff bei Urämie) verändertes Blut Krämpfe hervorrufen kann. Auch die Reflexkrämpfe können durch mechanische und chemische Reize, die periphere Teile treffen, entstehen. So kann Entzündung der Bindehaut Lidkrampf verursachen; infolge von Reizung des Gehörs, von Würmern, von krankhafter Absonderung des Darmkanals, von Reizungen der innern Geschlechtsorgane können allgemeine Krämpfe, infolge von Reizungen der Blasenschleimhaut Blasenkrampf, von Reizungen des Magens Magenkrampf etc. entstehen. Auch die Krämpfe, die bei plötzlich eintretender Blutarmut des Gehirns erscheinen, sind als Reflexkrämpfe aufzufassen, ebenso die Krämpfe, die im zweiten Stadium des Keuchhustens bei kleinen Kindern beobachtet werden und im allgemeinen prognostisch recht übel gedeutet werden. Auch die bei Bleivergiftung auftretenden Krämpfe werden auf Anämie des Gehirns zurückgeführt. Umgekehrt wird man bei Leuten, die einen schnellen Puls, ein gerötetes Gesicht, dabei aber kein Fieber haben, eine Hirnhyperämie als Ursache etwa auftretender Krämpfe annehmen müssen. Auch psychische Einflüsse können Krämpfe hervorrufen, wie Angst, Zorn, Schreck und der Anblick eines Krampfanfalls (vgl. Hysterie). Überanstrengung einzelner Muskelgruppen führt zu den sogen. Beschäftigungsneurosen (Schreibkrampf). Je nach der Stärke und Verbreitung der Krämpfe wirken sie auf das Befinden des Körpers verschieden ein. Meistenteils folgt dem K. ein Gefühl der Abspannung und Schwäche, eine Art Erschöpfung, sehr häufig ist ein namhafter Schmerz vorhanden (Wadenkrampf, Magenkrampf, Kolik). Während des Krampfanfalls ist, selbst wo das Bewußtsein nicht getrübt ist, aller Wille auf die befallenen Muskeln aufgehoben. Die Vorhersage richtet sich nach der Ursache und nach dem Ausgangspunkt der Krämpfe.

Bei der Behandlung gilt es vor allem, die Ursache und den Reiz zu erforschen, um das Übel an der Wurzel anzufassen, denn man muß im Auge behalten, daß die Krämpfe keine Krankheit an sich, sondern ein Symptom der allerverschiedenartigsten Krankheiten darstellen, deren Deutung im konkreten Falle nur dem Arzt gelingen kann. Bald werden also beruhigende Mittel, bald ableitende (Hautreize, Brech-, Abführmittel), bald krampfstillende Mittel (Antispasmodica), wie Baldrian, Artemisia, Bibergeil, Moschus, vor allem Opium und Morphium sowie Belladonna und das daraus gewonnene Atropin, am Platze sein. Auch Wärme (z. B. warme Umschläge) wirkt krampfstillend.

Bei Haustieren kommen Krämpfe häufig, sowohl als selbständige Störungen wie als Begleiterscheinungen andrer Krankheiten, vor und treten ähnlich wie beim Menschen auf. Sehr viel seltener (ja überhaupt angezweifelt) ist bei Haustieren die echte Epilepsie. Dagegen entstehen epileptiforme Krämpfe bei verschiedenen Krankheiten, namentlich bei der Hundestaupe, bei Tuberkulose der Gehirnhäute, beim Vorhandensein von Geschwülsten und Schmarotzern im Gehirn (Drehkrankheit der Schafe). Auch reflektorisch werden Krämpfe erzeugt durch Würmer im Darm, Milben im Ohr etc. Bei Pferden sind Krampfanfälle bei abnormer Empfindlichkeit gewisser Hautstellen, auch bei grellen Lichteinwirkungen beobachtet worden. Öfters werden bei Hündinnen nach dem Gebären Krämpfe beobachtet und ebenso Krampfanfälle bei jungen Hunden und Ferkeln während des Zahnens. Krampfartiger Husten tritt am häufigsten bei Hunden auf. Krampfkolik der Pferde s. Kolik. Viele Vergiftungen sind mit Krämpfen verbunden. Auch dem Veitstanz ähnliche Zufälle sind bei fast allen Haustierarten beobachtet worden. S. auch Starrkrampf.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 11. Leipzig 1907, S. 565-566.
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