Dolus

[229] Dolus (lat.), diejenige Richtung des Willens, vermöge deren Jemand eine Rechtsverletzung mit dem Bewußtsein der Rechtswidrigkeit derselben begeht. Durch diese positive Richtung auf die Rechtsverletzung unterscheidet sich der D. von der Culpa (s.d.), der zweiten Art, auf welche eine Rechtsverletzung in imputabler Weise begangen werden kann, nämlich derjenigen ebenfalls gesetzwidrigen Willensrichtung, bei welcher die Rechtsverletzung lediglich durch einen Mangel an gehöriger Sorgfalt u. Aufmerksamkeit, mithin ohne Absicht des Handelnden od. Unterlassenden, aber doch so veranlaßt wird, daß sie hätte vermieden werden können. Die juristische Bedeutung des D. selbst u. seine Folgen gestalten sich je im Criminal- u. im Civilrecht verschieden. I. Für das Criminalrecht findet der Begriff des D. seine nähere Bestimmung u. Begrenzung darin, daß der Entschluß des Handelnden auf Begehung einer mit Strafe bedrohten Handlung od. Unterlassung, mit dem Bewußtsein der Strafbarkeit derselben gerichtet sein muß. Wer eine strafbare Handlung einmal mit jenem Entschlusse begeht, ist für dieselbe u. ihren Erfolg. soweit er ihn beabsichtigt hat, unbedingt verantwortlich. Für das Maß der Strafbarkeit aber wird die Art des Entschlusses von Wichtigkeit. Man unterscheidet A) D. determinatus, bestimmter D., wenn der entstandene gesetzwidrige Erfolg der unmittelbare u. ausschließliche Zweck des Begehrens war, u. D. indeterminatus (D. generalis), unbestimmter, allgemeiner Vorsatz, wenn der Vorsatz des Handelnden auf eine mehr od. weniger bestimmte Mehrheit von strafbaren Erfolgen gerichtet war. Der unbestimmte Vorsatz umfaßt a) den eventuellen D. (D. eventualis), wo Jemand zunächst einen geringeren Erfolg beabsichtigt u. danach auch seine Handlung einrichtet, zugleich aber auch zufrieden ist, wenn daraus ein schlimmerer Erfolg entstehen sollte, z.B. wenn Jemand sein eigenes Haus anzündet, zunächst um[229] die Brandversicherungsanstalt zu betrügen, dabei aber auch den Willen, daß andere Häuser ebenfalls ergriffen werden, nicht ausschließt; b) den alternativen D. (D. alternativus), wo es dem Handelnden, welcher die strafbare Handlung begeht, ganz gleichgültig ist, ob der schwerere od. geringere Erfolg eintrete, indem der eine od. andere Erfolg den dabei gehabten Zweck gleich erfüllt; c) der absolut unbestimmte D. (Animus nocendi, Dolus generalis stricto sensu, D. indirectus im Sinne der älteren Schriftsteller), bei welchem das Ziel des Wollens nur auf irgend eine Rechtsverletzung, ohne alle nähere Begrenzung der Art derselben gerichtet ist. Je nachdem der D. des Verbrechers diese od. jene Richtung genommen hat, bestimmt sich, in wie weit der eingetretene Erfolg dem Verbrecher zuzurechnen ist. Nur wo dieselbe außer den Grenzen seiner Absicht lag, bleibt die Strafe des dolosen Verbrechers für ihn ausgeschlossen, insoweit nicht zugleich sein Handeln den Charakter eines culposen Thuns annahm. Dies letztere ist dann der Fall der sogen. Culpa dolo determinata od. Culpa dolo admixta (s.u. Culpa), welchen Ältere oft mit dem allgemeinen D. (D. indirectus) ganz auf eine Stufe gestellt od. verwechselt haben. B) Eine andere Eintheilung in D. praemeditatus u. D. repentinus bezieht sich auf die Art u. Weise, wie der Entschluß zur Entstehung u. Ausführung gelangte. Der erstere umfaßt den mit Vorbedacht u. Überlegung, der letztere den nur in aufwallender Leidenschaft gefaßten u. ausgeführten Entschluß, eine Unterscheidung, welche in ihrer Wichtigkeit namentlich bei dem Begriffe des Mordes u. Todtschlages hervortritt. In der Regel erfordern alle Verbrechen zu ihrem Thatbestand das Vorhandensein eines D.; daß verbrecherische Erfolge auch bei nur vorhandener Fahrlässigkeit strafbar sind, bildet die Ausnahme. Das Vorhandensein des D. ist für jeden Fall ebenso besonders zu erweisen, wie jedes andere zum Thatbestand gehörige Erforderniß. Die dagegen vielfach vertheidigte Ansicht, daß im Zweifelsfalle jedes Verbrechen als ein doloses zu betrachten sei, entbehrt ebensosehr der gesetzlichen Begründung, als sie der Humanität widerstreitet. Die neueren Strafgesetzgebungen haben deshalb den Satz, daß die böse Absicht bis zum Beweise des Gegentheils nicht zu vermuthen sei (Quilibet praesumitur bon us, donec probetur contrarium), zuweilen selbst ausdrücklich ausgesprochen (z.B. Großherzoglich Hessisches Strafgesetzbuch Art. 59; Hannov. Art. 42).

II. Für das Civilrecht umfaßt der D. jede rechtswidrige Handlung od. Unterlassung, durch welche einem Anderen wissentlich ein Nachtheil an seinen Vermögensrechten zugefügt worden ist (Injuria im weiteren Sinne). Die römischen Quellen sprechen hierbei zuweilen auch von einem D. bonus, wenn Jemand durch erlaubte List das Seinige sich zu erhalten sucht; allein im eigentlich juristischen Sinne u. als besonderer, mit eigenthümlichen Rechtswirkungen bekleideter Begriff erscheint nur der D. malus, die rechtswidrige, meist mit einer Täuschung verbundene Handlung. Die durch D. bewirkten Handlungen sind entweder absolut nichtig, z.B. ein durch D. herbeigeführter letzter Wille, od. es hängt von dem Willen des Betrogenen ab, ob er sie anfechten will, u. dies Letztere kann dann entweder durch die ordentlichen Rechtsmittel, welche das besondere Geschäft an die Hand gibt, od. durch eine prätorische Restitution bewirkt werden. Zum Zwecke der letzteren wurde die Actio u. Exceptio doli gegeben. Vermöge der ersteren können der Betrogene u. seine Erben verlangen, daß der Verklagte die durch D. erworbene Sache mit allen Accessionen herausgebe, od. sofern dies nicht geschieht od. nach der Natur des Verhältnisses nicht geschehen kann, daß er alles erweisliche, nöthigenfalls durch den Würderungseid (Juramentum in litem, s.u. Eid) festzustellende Interesse prästire. Erben des dolos Handelnden haben wenigstens für das zu haften, was aus dem D. auf sie od. auf den Betrüger gekommen ist. Mittelst der Exceptio doli kann sich der Betrogene gegen alle Ansprüche schützen, welche gegen ihn aus dem begangenen D. erhoben werden sollten. Besonders wichtig u. von häufiger Anwendung wird der D. bei Verträgen. Man unterscheidet hierbei einen D. causam dans u. D. incĭdens, je nachdem ohne den Betrug entweder das ganze Geschäft gar nicht eingegangen, od. dasselbe zwar eingegangen, aber nicht in der versprochenen Maße abgeschlossen worden sein würde. Bei dem ersteren kann Rescission des ganzen Geschäftes verlangt werden; der letztere gibt nur einen Anspruch auf entsprechende Entschädigung. Die Haftung für D. kann bei keinem Vertrage erlassen werden, da dieser als gegen die guten Sitten gehend betrachtet wird; sie besteht deshalb auch selbst da, wo im Übrigen eine allgemeine Verabredung auf Nichthaftung stattgefunden hat. Dagegen kann die Haftung wegen eines bereits begangenen D. u. der damit verbundenen nachtheiligen Folgen von dem Verletzten erlassen werden, vorausgesetzt, daß der Verletzte mit dem ihm diesfalls zustehenden Anspruche u. dem Grunde desselben hinreichend bekannt gewesen ist. Gleichgestellt ist endlich dem D. hierbei (abweichend von dem Criminalrecht) ganz die sogen. Culpa lata od. Culpa dolo proxima (s.u. Culpa).

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 5. Altenburg 1858, S. 229-230.
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