Gottfried Wilhelm, Freiherr von Leibnitz

[378] Gottfried Wilhelm, Freiherr von Leibnitz, wurde 1646 zu Leipzig geboren, hatte aber nicht sehr Ursache, sich dieser Vaterstadt zu freuen, denn sie versagte ihm in der Folge wegen seiner Jugend im 20. Jahre die Doctorwürde in der Jurisprudenz. Sein Vater, der Professor und Actuarius an der Universität war, starb frühzeitig: aber seine Mutter nahm sich seiner Erziehung mit vieler Aufmerksamkeit und Einsicht an; und Leibnitz machte solche Fortschritte in den Wissenschaften, daß er schon vor seinem 20. Jahre tief durchdachte philosophische Abhandlungen schrieb. Eigentlich wollte er in Altorf eine Professur der Rechte annehmen; allein er wurde dem Churfürsten von Mainz empfohlen, erhielt von diesem den Charakter eines Kanzleiraths, und begleitete 1672 den Sohn des Baron von Boineburg, durch dessen Vermittelung er nach Mainz gekommen war, nach Paris. Wenn man bedenkt, mit welchem Stolze man damahls am Hofe Ludwigs XIV. auf alles herab sah, was Deutschen Ursprungs war, so muß man sich über die gute Aufnahme wundern, die Leibnitz in Paris fand. Allein vermöge seiner ausgebreiteten Kenntnisse war er überall gleichsam zu Hause; und Niemand durfte es wagen, ihm zu nahe zu treten, ohne die Ueberlegenheit seiner Talente zu fühlen. In England, wohin er 1673 eine Reise machte, war dieß derselbe Fall. Leibnitz erhielt bei seinem Aufenthalte daselbst einen Ruf vom Herzog Johann Friedrich von Hannover, der ihn als Hofrath und Bibliothekar bei sich anstellen wollte. Im Jahre 1676 reiste er dahin ab, und trat sein neues Amt an. Die Schriften, die von ihm in mehrern Fächern erschienen, die vielen Bekanntschaften, die er mit den größten Gelehrten und Staatsmännern auf seinen Reisen gemacht hatte, und der Ruhm seiner scharfsinnigen Klugbeit verschafften ihm eine Menge Verbindungen, und verwickelten ihn in mannigfaltige Angelegenheiten. Man bewunderte nicht nur seine ausgebreitete Kenntniß in ältern und neuern Sprachen, sondern betrachtete ihn überhaupt als einen Mann, der das ganze Gebiet des menschlichen Wissens umfasse. Und wirklich irrte man hierin nicht; denn es [378] war beinahe keine Wissenschaft, die Leibnitz nicht durchdacht und mit neuen Ergänzungen bereichert hätte. Was er unternahm, führte er immer mit gleichem Glück aus; er ergründete mit eben so viel Leichtigkeit ein mathematisches Problem, als er eine Deduction aus dem Staatsrechte niederschrieb oder ein philosophisches System entwarf. Daß das Project der Religionsvereinigung, wodurch er Katholiken und Protestanten, oder wenigstens Lutheraner und Reformirte, zur Eintracht zu führen hoffte, nicht zu Stande kam, war nicht die Schuld des großen Leibnitz, sondern des Zeitalters, welches zu so einem Unternehmen eben so unreif war, wie es das unsrige noch jetzt dazu ist. Leibnitz erwarb sich durch die Klugheit und Mäßigung, womit er dieses verwickelte Geschäft betrieb, neuen Ruhm, selbst bei der katholischen Partei, an deren Spitze der gelehrte und selbstsüchtige Abt Bossuet stand. Peter der Große und Carl VI. begünstigten ihn vorzüglich, Letzterer machte ihn zum Reichs-Hofrath und erhob ihn zugleich in den Reichsfreiherrn-Stand. Er arbeitete mit ununterbrochener Thätigkeit bis auf die letzten Augenblicke seines Lebens, und starb 1716. Deutschland zählt ihn mit Recht den wenigen wahrhaft großen Männern bei, die aus seiner Mitte entsprossen sind; und künftige Jahrhunderte werden noch seine Verdienste bewundern, welche einige niedrige und neidische Menschen bei seinem Leben zu verkleinern suchten. Die Lehrsätze seiner Philosophie werden immer Denkmahle des scharfsinnigsten Nachdenkens bleiben; und man begreift kaum, wie ein Mann, der sich nicht ausschließend mit der Philosophie beschäftigte, sondern sie bloß in Stunden der Erhohlung bearbeitete, in die tiefsinnigsten Untersuchungen habe eindringen und ganz neue Systeme aufstellen können. Und vielleicht würde er noch tiefer eingedrungen sein, wenn er bei seinen philosophischen Untersuchungen nicht oft zu sehr Dichter gewesen wäre, und seiner Phantasie zu viel Spielraum gelassen hätte. Die Basis der Leibnitzischen Philosophie sind die angebornen Vorstellungen, die nicht aus Eindrücken der äußern Sinne, sondern durch die eigenthümliche Kraft der Seele entwickelt werden, und durch den ihnen eignen Charakter von Nothwendigkeit und Allgemeinheit anzeigen sollen, daß sie mit den Dingen [379] an sich harmoniren; eine Harmonie, die er von der Allmacht des Schöpfers herleitete. Auf diese Theorie baut er ein sehr erhabenes System der Natur und Uebernatur. Ein berühmter kritischer Philosoph sagt von diesem System, dessen Mängel natürlich durch die kritischen Blicke von Hume und Kant aufgedeckt werden mußten: »Wenn Leibnitzens Theorie der angebornen Vorstellungen auch keinesweges für ein System der ursprünglichen unveränderlichen allgemeinen Formen, Gesetze und Principien unsers Vorstellungs-Vermögens gelten kann, so ist doch in demselben die Grundwahrheit aller Philosophie festgehalten, daß in unserm Bewußtsein Begriffe, Urtheile und Grundsätze enthalten sind, welche bei ihrer unläugbaren Nothwendigkeit und Allgemeinheit nicht durch sinnliche Einwirkung haben entstehen können, sondern aus angebornen Grundlagen haben hervorgehen müssen. Auf der andern Seite kann man aber nicht läugnen, daß der richtige Begriff unsers leidenden Vermögens bei diesem Weltweisen ganz verloren geht.« Einige seiner vorzüglichen Lehrsätze hat er in der berühmten Theodicee entwickelt.

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 2. Amsterdam 1809, S. 378-380.
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