Leibnitz [2]

[237] Leibnitz (Leibniz), Gottfried Wilhelm, Freiherr von L., geb. 6. (1.) Juli 1646 in Leipzig, wo sein Vater Professor der Rechte war, bezog schon in seinem 15. Jahre die Universität Leipzig, Jurisprudenz als Berufswissenschaft mit vielseitigen andern, bes. philosophischen Studien verbindend. Ihre erste Frucht war die Abhandlung De principio individui 1663 (n. A. von Guhrauer, Bresl. 1837). Nach einem Aufenthalte auf der Universität Jena versuchte er, trotz der in den Abhandlungen Specimen difficultatis in jure (1664), De conditionibus (1665) u. De arte combinatoria (1666) gegebenen Beweise seiner Kenntnisse u. seines Scharfsinns, in Leipzig vergeblich die juristische Doctorwürde zu erhalten; er verließ daher sein Vaterland für immer u. promovirte in Altdorf mit der Abhandlung De casibus perplexis in jure (1666). Eine ihm dort angetragene Professur schlug er aus, dagegen fesselte ihn eine kurze Zeit eine Gesellschaft von Rosenkreuzern u. Alchimisten. 1667 ging er mit den früheren kurmainzischen Minister J. Chr. von Boyneburg nach Mainz; die Abhandlung Methodus nova docendae discendaeque jurisprudentiae (1668) zog die Aufmerksamkeit des Kurfürsten Joh. Phil. von Schönborn auf ihn, welcher ihn 1672 zum Rath beim höchsten Gericht ernannte. Er schr. für ihn mehrere publicistische Arbeiten: Specim. demonstrationum politicarum pro rege Polonorum eligendo (1669), Bedenken, welchergestalt Securitas publica interna et externa u. Status praesens im Reich auf festen Fuß zu stellen (gegen Ludwig XIV.), Consilium aegyptiacum (Versuch, Ludwigs Ehrgeiz von Deutschland auf Ägypten abzulenken). In Verbindung hiermit stand eine Reise, welche L. angeblich als Führer des jungen Boyneburg nach Paris u. von da aus nach London machte. Hier führte ihn der Umgang mit den bedeutendsten französischen u. englischen Mathematikern u. Naturforschern auf tiefere mathematische Studien u. dadurch auf die Erfindung der Differentialrechnung, über deren von Newtons Anhängern für diesen in Anspruch genommene Priorität später ein langer Streit ausbrach, (vgl. Commercium epistolicum Dr. J. Collins et aliorum de analysi promota, Lond. 1712), der aber L-s Ruhm zu schmälern nicht im Staude war. Nachdem er von dem Herzoge von Braunschweig-Lüneburg eine Rathsstelle mit Pension u. der Erlaubniß, im Auslande zu bleiben, erhalten hatte, folgte er 1676 einem Rufe als Bibliothekar u. Rath nach Hannover. Hier beschäftigten ihn nicht blos mathematische u. philosophische Studien, sondern neben politischen (Caesarini Furstenerii de jure suprematus ac legationis principum Germaniae, 1677) u. großen historischen Arbeiten, um deren willen er 1687 zur Aufsuchung von Urkunden nach Wien u. Italien reiste, auch etymologische Forschungen (Collectanea etymologica, Hannov. 1717), administrative Geschäfte u. ein ausgedehnter wissenschaftlicher Briefwechsel, namentlich beschäftigte ihn lange Zeit der Gedanke einer Wiedervereinigung der Protestantischen u. Katholischen Kirche, worüber er bis 1694 vorzüglich mit Pelisson u. Bossuet correspondirte; das zu diesem Zwecke in versöhnlichem Sinne entworfene Systema theologicum (zuerst herausgegeben Par. 1819; deutsch von Räß u. Weis, Mainz 1820, französisch Paris 1846) hat man fälschlich als Beleg betrachtet, daß L. Katholik gewesen sei (vgl. G. E. Schulze, Über die Entdeckung, daß L. ein Katholik gewesen, Göttingen 1827). Im Jahre 1700 gelang es ihm durch Friedrich I. die königliche Akademie der Wissenschaften in Berlin zu gründen, deren erster Präsident er war. In seinen letzten Lebensjahren wurde er nicht nur in Hannover zum Geheimen Justizrath u. Historiographen, sondern auch von Wien aus zum Freiherrn u. Reichshofrath mit 2000 Gulden Pension u. von Peter dem Großen zum Geheimen Rath mit 1000 Rubel Jahrgehalt ernannt. Er st. 14. Nov. 1716 in Hannover. Ihm wurde 1845 zu Hannover auf dem Waterlooplatz ein Denkmal errichtet; 1846 wurde das 200jährige Fest seiner Geburt gefeiert u. dabei die kön. sächs. Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig eröffnet (s. Akademie X. H) b).

Am tiefsten hat L. in den Gang der wissenschaftlichen Cultur nächst seinen großen mathematischen Erfindungen durch seine philosophischen Ansichten eingegriffen. Er hielt in der Philosophie ein ebenso evidentes Wissen für möglich, wie in der Mathematik; die Gültigkeit dessen, was er ewige Wahrheiten nannte, war ihm unabhängig von jedem Wechsel u. jedem Willen, selbst dem Gottes; er hatte das vollste Vertrauen zu der Fähigkeit des menschlichen Geistes, die Wahrheit zu erkennen; die Logik mit ihren Grundsätzen des Widerspruchs u. des zureichenden Grundes war ihm der Prüfstein alles wissenschaftlichen Denkens. Rücksichtlich seiner metaphysischen Lehrmeinungen war es von Wichtigkeit, daß in der Zeit seiner Entwickelung Gassendi, Galilei, Cartesius u. A. die Naturforschung von den hergebrachten Vorstellungsarten der scholastischen Philosophie schon befreit hatten; man glaubte in einer durchaus mechanischen Auffassung der Naturerscheinungen ausreichende Erklärungsgründe für die letzteren gefunden zu haben. Dieser Richtung schloß sich L., soweit es sich um die einzelnen Erscheinungen der Körperwelt handelte, anfangs an; aber so wie ihm das Verhältniß zwischen Leib u. Seele einer mechanischen Erklärung eben so unzugänglich, als ein physischer Einfluß beider auf einander undenkbar schien, so bemerkte er frühzeitig, daß allem Mechanismus ein höheres Princip der Kraft zu Grunde liegen müsse. Er faßte daher jede individuelle Substanz als thätige Kraft auf, als Monas; diese Monaden sind ihm die letzten individuell untheilbaren Elemente alles Zusammengesetzten, aller Ereignisse u. Dinge Erscheinungen, die aus ihnen resultiren. Jede Monade hat das Princip ihrer Veränderungen in sich selbst; keine wirkt äußerlich auf die andere (es gibt keinen Influxus physicus); wenn daher die Verändernungen des Leibes u. der Seele einander correspondiren, so hat das seinen Grund in einer von Gott ein für allemal vorausbestimmten (prästabilirten) Harmonie, welche L. als ein einmaliges u. allgemeines Wunder den unzählig vielen speciellern Wundern, zu welchen der Occasionalismus (s.d.) zwingt, dem letzteren vorzog. Die Formen der inneren spontanen Thätigkeit[237] jeder Monade bezeichnet L. gewöhnlich durch die Worte Vorstellung (Perception) u. Begehrung (Appetition); für diese Formen der Thätigkeit gibt es aber Stufen u. Unterschiede, je nachdem sie mehr od. weniger verworren u. unbewußt, od. deutlich u. bewußt sind. Deshalb unterscheidet L. die bewußtlos wirkenden Monaden (Monades nudae) von den Seelen der Thiere u. der Menschen. Nicht ganz unzweideutig ist die Art, wie sich L. über die Entstehung der ausgedehnten Körper aus den Monaden ausspricht, so bestimmt er auch Raum u. Zeit nicht für Dinge, sondern für Ausdrücke gewisser Beziehungen für eine Ordnung dessen, was ist, erklärt. Die organisirten u. beseelten Körper betrachtete L. als etwas ins Unendliche hin wieder aus Organismen bestehendes; jeder Organismus hat seine Centralmonade; diese ist mit ihm unauflöslich verbunden; aller Tod ist nur Umwandlung. Gott ist die Monas monadum, die Urmonade; L. macht keinen Versuch einer eigentlichen Theorie über die Schöpfung der übrigen Monaden durch Gott; bisweilen bedient er sich des Bildes einer Ausstrahlung (Effulguration). Für den Begriff Gottes hält sich L. an die Merkmale einer absoluten Intelligenz u. eines sittlich vollendeten Willens u. hält diesen Begriff namentlich in seiner Theodicee, d. h. der Rechtfertigung Gottes wegen der Existenz des Übels u. des Bösen, gegen Bayle (s.d.) fest. Der Grundgedanke der Theodicee ist: da Gott allweise, allgütig u. allmächtig ist, so mußte angenommen werden, daß die vorhandene Welt trotz des metaphysischen u. moralischen Übels von allen möglichen Welten die beste sei (Optimismus). In der Lehre von der Freiheit des menschlichen Willens verfocht er seinen nicht fatalistischen, sondern physischen Determinismus siegreich gegen die Einwürfe des Engländers Clarke. Auf ethische Begriffe ist er nur sehr gelegentlich eingegangen. L. hat seine philosophischen Lehren niemals in streng systematicher Form, sondern entweder gelegentlich in Briefen od. nur in kürzeren Aufsätzen dargestellt. Bes. wichtig sind in dieser Hinsicht: De primae philosophiae emendatione et de notione substantiae 1694; Systême nouveau de la nature et de la communication des substances nebst den Eclaircissemens dazu 1695, Monadologie, 1714 (vor Erdmanns Ausgabe nur lateinisch unter dem Titel: Principia philosophiae in gratiam Principis Eugenii bekannt). Ausführlicher sind der Essay de Theodicée, Amst. 1710 (herausgegeben von L. de Jaucourt, Amsterd. 1747, deutsch Amst. [Hannov.] 1720, lateinisch 2. Aufl. 1771) u. die Nouveaux essays sur l'entendement humain, eine Kritik von Locke's Essay on human understanding, die erst nach des Verfassers Tode gedruckt wurde. Unter denen, welche sich die Leibnitzschen Lehren aneigneten u. dieselben systematisch zu verarbeiten suchten, sind bes. G. Bernhard Bilfinger u. Gottfried Ploucquet (s. b.) zu nennen; Christian Wolf (s.d.) hat gerade die eigenthümlichsten Ansichten L-s nur wenig benutzt, obgleich man die Denkart beider Männer gewöhnlich in dem Ausdruck: Leibnitz-Wolfiche Philosophie zusammenfaßt. Außer den schon genannten Schriften L-s sind noch folgende sowohl von ihm als über ihn hervorzuheben: Scriptores rerum brunsvicensium, Hannov. 1707–11, 3 Bde., Fol.; Accessiones hist., Lpz. 1693 u. 1700, 2 Bde.; Codex juris gentium diplomaticus, Hannov. 1693 u. 1700, 2 Bde., Wolfenb. 1747, Fol.; Annales imperii occidentis Brunsvicenses, aus den Handschriften der königl. Bibliothek in Hannover herausgeg. von Pertz, ebd. 1843 ff., 3 Bde.; Leibnitii et de Bernouilli commercium philos. et mathematicum, Lausanne 1745, 2 Bde.; Leibnitii epistolae ad diversos, herausgegeben von Kortholt, Lpz. 1734–42, 4 Bde.; Leibnitii epist. ad J. A. Schmid, herausgegeben von H. Veesenmeyer, Nürnb. 1788; Commercium epistolicum Leibnitii, herausgegeben von Feder, Hannov. 1805; Opera omnia, von L. Dutens, Genf 1768, 6 Bde.; mit neuem Titel 1789. Mehrere dort fehlende philosophische Schriften enthalten folgende Sammlungen: Oeuvres philosoph. von R. E. Raspe, Amst. 1765; deutsch von J. H. F. Ulrich, Halle 1778 u. 1780, 2 Bde.; Leibnitii opera philosophica quae extant omnia, herausgeg. von J. Ed. Erdmann, Berl. 1840, 2 Bde.; Esprit de L. etc., Lyon 1772, 2 Bde. (deutsch Wittenb. 1777, 4 Thle.); Leibnitii otium hannoveranum s. Miscellanea, gab L. E. Feller, Lpz. 1718, heraus, wozu als 2. Sammlung gehören: Monumenta varia inedita, Lpz. 1724; deutsche Schriften herausgeg. von G. E. Guhrauer, Berl. 1840, 2 Bde.; G. Schilling, L. als Denker, Auswahl aus seinen kleinen Aufsätzen, Lpz. 1846; Briefwechsel zwischen Arnauld u. Leibnitz, herausgeg. von Grotefend, Hannov. 1846; Briefwechsel L-s mit Bossuet, Pelisson, Madame de Brinon, Spinola u. Molanus, herausgegeben von Foucher de Cariel als Oeuvres de L., Par. 1859. Lebensbeschreibungen von Fontenelle, in der Hist. de l'Acad. des sciences de Paris 1716 (deutsch vor Gottscheds Übersetzung der Theodicee); Bailly, Eloge de M. de L., 1769; Kästners Lobschrift auf L., Altenb. 1769; M. Hißmann, Über das Leben des Freiherrn v. L., Münst. 1782; Biographie von Guhrauer, Berl. 1842, 2 Thle., 2. Aufl. 1846. Über seine Philosophie vgl. L. Feuerbach, Darstellung, Entwickelung u. Kritik der Leibnitzschen Philosophie, Ansb. 1837; Ploucquet, Primaria monadologiae capita, Berl. 1748; Ancillon, Esprit du Leibnitianisme, ebd. 1816; Sigwart, Die Leibnitzsche Lehre von der prästabilirten Harmonie, Tüb. 1822; Hartenstein, De materiae apud Leibnitium notione, Lpz. 1846; Exner, Über L-s Universalwissenschaft, Prag 1843; Rob. Zimmermann, Leibniz u. Herbart, eine Vergleichung ihrer Monadologie, Wien 1849; Kvet, L-s Logik, Prag 1857.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 10. Altenburg 1860, S. 237-238.
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