Gletscher

[229] Gletscher sind Anhäufungen von Schnee, welche sich in den höchsten Thälern über die Schneelinie emporragender Gebirge bilden, sich oberwärts mit einer Kruste von halb in Eis umgewandeltem Schnee überziehen, jährlich an Größe zunehmen und so auch in die tiefern Thäler hinabdrängen, bis endlich in diesen ihr jährliches Vorschreiten durch die Menge des im Sommer aufthauenden Schnees aufgewogen wird. Das Herabgleiten der Gletscher wird besonders dadurch begünstigt, daß der Boden der Thäler, auf dem sie aufliegen, durch diese Decke geschützt, nicht gefriert[229] sondern vielmehr gegen die Temperatur des Schnees so warm ist, daß der Gletscher unten thaut, indem sich zugleich alles an der Oberfläche desselben gebildete Wasser durch Risse und Spalten nach unten zieht. Das Vorschreiten ist oft sehr bedeutend. So rückte der Gletscher von Trient zwischen Martinach und dem Chamounythal 1818 binnen Einem Jahre um 120 F. vor. Bei diesem Vorrücken drängen die Gletscher Erde und Gerölle vor sich her, welche sich zu einem den Rand des Gletschers bildenden Damme aufthürmen und Morainen, Gandecken, Guferberge heißen. Die Gletscher haben stets, namentlich in ihren niedriger gelegenen Theilen, eine Menge großer Sprünge, welche bis auf den Grund herabgehen. Dieselben werden besonders dann dem Wanderer gefährlich, wenn sie oberflächlich vom Winde mit Schnee überweht sind. Die Spalten pflegen um so häufiger zu sein, je abhängiger die Oberfläche des Gletschers ist. Sie sind zuweilen gegen 10 F. breit, an den Rändern derselben ist das Eis von schöner meergrüner Farbe, aber in der Tiefe dunkelblau. Diese Risse entstehen bei höherer Temperatur unter gewaltigem Krachen. Das Eis der Gletscher besteht aus kornartigen Stücken von einigen Zoll im Durchmesser, welche locker ineinander gefügt sind, aber doch wie Gelenke ineinander haften, sodaß sie nur durch Zerschlagen herausgebracht werden können. Nur an den Kanten von Abhängen, Spalten und dergl. bildet sich hartes Eis, weil hier gewöhnlich Schneewasser abfließt und zum Theil gefriert. So wie das Licht in verschiedenen Richtungen gegen den gefrorenen Schnee der Gletscher scheint, zeigen sich die mannichfachsten Farbenerscheinungen, grün, blau, roth, gelb, weiß, in allen Nuancen. Das geschmolzene, durch die Spalten herabrinnende Schneewasser sammelt sich zu größern Mengen und findet endlich einen Ausweg, indem es in Gestalt von kleinen Bächen an den tiefgelegenen und abhängigen Stellen hervorrieselt. Meist hat das Wasser hier das umgebende Eis bis zu einer gewissen Höhe ausgespült, sodaß eine Höhle entsteht. Diese verstopft sich im Winter größtentheils oder ganz, aber in der warmen Jahreszeit nimmt das Wasser zu und bricht sich mit Gewalt Bahn, sodaß die Eisgewölbe zuweilen eine Höhe von 100 F. und eine fast ebenso große Tiefe haben. Das Wasser der Gletscherbäche ist blaulich-weiß und behält diese Farbe oft mehre Meilen weit, bis andere Bäche ihr Wasser mit dem aus dem Gletscher kommenden vereinigt haben. Aus den Gletscherbächen nehmen einige der bedeutendsten Flüsse Europas ihren Ursprung, namentlich auch der Rhein.

Eine sehr merkwürdige Erscheinung sind die Gletschergebläse. Die im Innern des Gletschers zwischen dem lockern Schnee, aus welchem sich derselbe ursprünglich bildet, eingeschlossene Luft wird nämlich durch die Last des Gletschers, welche immer zunimmt, unter der festen Schale bedeutend zusammengepreßt, und sowie daher ein Riß in der Eisdecke entsteht, bläst die Luft heftig heraus und führt zugleich eine Menge kleiner Eistheilchen mit sich, welche der ganzen Erscheinung das Ansehen eines Schneegestöbers ertheilen. – Die Oberfläche der Gletscher ist oft mit einzelnen Steinblöcken besäet, die aus umliegenden Höhen herabgerollt sind. Zuweilen bilden diese Steinblöcke auch reihenartig geordnete Hügel (Guferlinien), indem sie aus derselben Gegend herabrollend ziemlich in derselben Entfernung auch zur Ruhe kommen. Unter diesen Steinmassen pflegt das Eis, weil die Sonne nicht unmittelbar gegen dasselbe wirken kann, im Sommer nicht zu thauen und zu verlaufen, und so kommt es, daß unter ihnen oft noch ein Eisrücken oder eine Eispyramide von 20 und mehr F. sich über die Gletscheroberfläche erhebt. Sind jedoch die Steine vereinzelt und minder groß, so nehmen sie durch die Sonnenwärme eine hohe Temperatur an, schmelzen das Eis unter sich und sinken allmälig immer tiefer in die Gletscher ein. So entstehen rundliche Löcher, welche sich mit Wasser füllen. – Es kommt nicht selten vor, daß Menschen in den Gletschern verunglücken. Ost kommen die Leichen dieser Unglücklichen nach einer langen Reihe von Jahren wieder zum Vorschein, indem sie das hervorbrechende Wasser mit sich führt. Ihr Ansehen ist dann in der Regel so frisch erhalten, als ob sie erst vor wenigen Tagen ums Leben gekommen wären. Die größten Verheerungen richten jedoch die Gletscher an, wenn sie in tiefer gelegene Thäler herabstürzen. (Vgl. Geologie.) So stürzte am 27. Dec. 1819 die Spitze des Weißhorngletschers in der Schweiz aus einer Höhe von 9000 F. auf das Dorf Randa herab. Als die Eismasse zuerst auf den untern Theil des Gletschers aufschlug, gab es im Dunkeln einen hellen Lichtschein. Das Dorf Randa wurde zerstört, weniger durch die Verschüttung, als durch den ungeheuren Sturmwind, welchen die fallende Masse erregte, indem sie die Luft im Fall vor sich hertrieb. Dieser Sturmwind riß die stärksten Bäume aus und rückte Mühlsteine mehre Klaftern weit fort. Der herabgestürzte Schutt bedeckte einen Raum von etwa 2,400,000 Cubikfuß, im Durchschnitt 150 F. hoch.

Das über die Gletscher Berichtete gilt nicht nur von den in der Schweiz unter diesem Namen bekannten Eismassen, sondern auch von den in andern Hochgebirgen auftretenden gleichartigen Schneegebilden. Sie führen jedoch in den verschiedenen Gegenden besondere Namen. So heißen sie z.B. in Island Jökulls, in Graubündten Wader, in Tirol Ferner, in Salzburg und Kärnten Kees. Von der Menge und Größe dieser Gletscher kann man sich eine ungefähre Vorstellung machen, wenn man bedenkt, daß die Gletscher in der Schweiz, in Tirol, Piemont und Savoyen zusammen eine Fläche Schneefeld von 70 ! M. geben würden. In der Schweiz gibt es Gletscher, welche über drei M. lang und 1/2 M. breit sind. Man findet auch Gletscher in Höhlen unter der Erde, welche niemals aufthauen, z.B. bei Dhelitz in den Karpaten und bei Beaume in Frankreich.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 229-230.
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