Schreibekunst

[108] Schreibekunst ist die Kunst, die menschliche Rede dem anschauenden Geiste so zu vergegenwärtigen, daß sie nicht mit Hülfe des Ohres, sondern mit Hülfe des Gesichts wahrgenommen wird, und zwar nicht durch vorübergehende, sondern durch bleibende Zeichen. Wenn die Rede, wie sie sich in der Sprache von Mund zu Ohr gehend darstellt, lebhafter ist, gleichsam mehr noch in unmittelbarer Berührung mit dem Geiste des Redenden bleibt, so hat dagegen die Schrift den unschätzbaren Vorzug, daß sie alle Zeiten und Räume zu durchdringen, dem Worte des Sterblichen eine irdische Unsterblichkeit zu geben vermag. Der Schrift verdanken wir die Erhaltung, ja die Möglichkeit der erhabensten Geisteswerke, ohne sie gäbe es keinen Fortschritt des menschlichen Geistes, denn was ein Menschenalter gewirkt, an geistigem Besitzthum sich errungen, das würde auf kein folgendes sich vererben, denn die mündliche Überlieferung reicht höchstens aus, um Das von Geschlecht zu Geschlecht fortzupflanzen, was die Phantasie des Volkes lebhaft erregt. Die Schrift gibt dem menschlichen Worte Flügel, welche es um die ganze Erde tragen, wohin der Fuß des Menschen nie kommt, wo seine Stimme nie laut wird. Die Erfindung dieser herrlichen Kunst fällt in die frühesten Zeiten und die ältesten [108] Völker schreiben dieselbe einem Gotte oder göttlichen Menschen zu. Man kann aber im Allgemeinen drei Arten von Schrift unterscheiden: die Bilderschrift (s. Hieroglyphen), bei welcher ursprünglich die zu bezeichnenden Gegenstände in Abbildungen wiedergegeben wurden; die Wortschrift (s. China), wo ganze Worte und Begriffe durch einzelne Zeichen ausgedrückt werden, und die bei allen gebildeten Völkern gebräuchliche Buchstabenschrift. Die Wortschrift ist höchst wahrscheinlich ursprünglich auch Bilderschrift gewesen, und es haben sich die ursprünglichen Bilder nur immer mehr in scheinbar willkürliche Zeichen umgewandelt, während man für die unabbildbaren Begriffe solche erfinden mußte. Von der Buchstabenschrift läßt es sich fast mit Bestimmtheit nachweisen, daß sie aus der Bilderschrift entstanden, wenigstens führt sich das griech. Alphabet auf das phönizische (und hebräische) zurück, welches offenbar so entstanden, daß man gewisse Bildzeichen ein für allemal zur Bezeichnung des Lauts angenommen, mit welchem der Name des Gegenstandes sich anfing, den sie darstellen. In Bezug auf die Anordnung der Schrift ist man bei den verschiedenen Völkern und zu den verschiedenen Zeiten auch abgewichen. So haben die Chinesen noch die sogenannte Kionädon- oder Säulenschrift, bei welcher Buchstabe unter Buchstabe, Wort unter Wort gesetzt wird; bei den ältesten Griechen hatte man die Bustrophedon- oder Pflügschrift, bei welcher die erste Zeile von links nach rechts, die zweite von rechts nach links, die dritte wieder von links nach rechts u.s.f. ging, etwa wie der Pflug im Acker. Das Hebräische wird stets von rechts nach links geschrieben, wogegen bekanntlich alle europ. Sprachen die Schrift von links nach rechts haben. Was die Form der Buchstaben betrifft, so stammen die griech. Buchstaben von den phöniz. ab, die lat. von den griech. und die aller neuern europ. Sprachen von den lateinischen. Der Unterschied, welchen gegenwärtig die deutsche Schrift darbietet, ist daher entstanden, daß man anfangs zur Verzierung, dann zur Vereinfachung der alten ursprünglich röm. Schrift allerlei Abänderungen anbrachte, welche man in Deutschland beibehielt, während andere Völker zu einer möglichst einfachen Darstellung der Grundzüge der alten lat. Schrift zurückgingen. Vor Erfindung der Buchdruckerkunst wendeten die Abschreiber in den Klöstern großen Fleiß auf Herstellung zierlicher Handschriften und so entstand die Mönchsschrift, aus welcher sich dann die deutsche Fracturschrift bildete, welche zur Cursiv- oder Currentschrift, sowie zur Kanzleischrift wurde, als man darauf bedacht war, nicht nur schön und leserlich, sondern auch schnell zu schreiben. Vorzüglich ausgebildet wurde die deutsche Schrift durch Albrecht Dürer (s.d.), welcher zuerst ein richtiges und schönes Verhältniß in dieselbe brachte. Im Mittelalter verzierte man die Handschriften nicht nur mit Farben, sondern auch mit Einzeichnung von arabeskenartigen Zügen, Figuren, Landschaften und dergl., sodaß eine eigne Kunst, die Schreibmalerei, entstand. Eine häufig vorkommende Spielerei war auch die, daß man äußerst zierlich und klein schrieb, sodaß die einzelnen Buchstaben mit bloßen Augen kaum zu erkennen waren. Diese Kleinschreiberei benutzte man z.B., um Einfassungen von Bildnissen, Zeichnungen aller Art zu machen, bei denen die Linien aus kleinen Buchstaben zusammengesetzt waren. Mit Recht hat man alle derartige Spielereien aufgegeben, und ist darauf ausgegangen, in der Schönschreibekunst oder Kalligraphie eine Schrift herzustellen, welche dem Auge wahrhaft wohlthut und dabei in der größten Einfachheit die Buchstaben nach ihren charakteristischen Eigenthümlichkeiten darstellt, eine Schrift, die sich ebenso leicht schreiben als lesen läßt. Eine wesentliche Hülfswissenschaft der Schreibekunst ist die Orthographie oder Rechtschreibung (s.d.). (Vergl. Geheimschrift und Geschwindschreibekunst.)

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 108-109.
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