Doktrinǟr

[86] Doktrinǟr (v. lat. doctrina, »Wissenschaft«), eigentlich einer, der seine Ansichten auf wissenschaftliche Prinzipien gründet, besonders aber jemand, der von der Wirklichkeit absieht und in unpraktischer Einseitigkeit die Konsequenzen der Theorie geltend zu machen sucht. Vorzüglich war der Ausdruck Doktrinäre in Frankreich während der Restauration die Bezeichnung einer Fraktion der parlamentarischen Opposition, die der Politik der Willkür gegenüber eine wissenschaftliche Staatslehre geltend machen wollte. Diese Fraktion war aus den Salons des Herzogs von Broglie hervorgegangen und ward in der Kammer vornehmlich durch Royer-Collard, in der Presse durch Guizot vertreten. Eine glänzende Rolle spielten sie 1819 unter dem Ministerium Decazes und unter der Herrschaft Karls X. Als nach der Julirevolution die Häupter derselben, Guizot und Broglie, in das erste Ministerium des Bürgerkönigs kamen, suchten die Doktrinäre den Strom der Revolution zu hemmen und Ruhe und Ordnung in die Gesellschaft zurückzuführen. Am 15. April 1837 aus dem Ministerium verdrängt und in die Minorität zurückgesunken, verband sich der Doktrinarismus Ende 1838 mit den übrigen gemäßigten Parteien, zunächst um das Ministerium Molé zu stürzen, und stand schon Ende Oktober 1840 mit Guizot von neuem am Staatsruder, das er bis zum Sturz des Julithrones im Februar 1848 behauptete. Seitdem ist er in Frankreich unmöglich geworden. Ebenso werden in Belgien die gemäßigt Liberalen D. genannt. Vgl. die Art. »Frankreich« und »Belgien«, Geschichte.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 5. Leipzig 1906, S. 86.
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